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Himbeerfarben und flüchtiges Blutrot
Eine Leiche wäre gut. Besser noch: zwei Leichen. Oder vielleicht drei? Ich bin Schriftstellerin, Autorin, kreativ und voller Phantasie. Ich morde auf dem Papier. Ich schieße, ich stoße mit dem Messer zu, ich vergifte und töte. Töte, töte. Alles für die Geschichte, alles für den Leser. Alles für den Preis. Für DEN Preis. Ich lasse Blut fließen, spritzen, kleckern, tropfen. In Strömen, in Bächen, in Flüssen. "Deine Geschichte ist blutleer", sagt Konrad trotzdem. Er ist mein Freund und Testleser. Der Mann, den ich liebe, der mich bei allem, was ich tue, unterstützt. Er schüttelt den Kopf. "So geht das alles nicht." Ich habe nicht mehr viel Zeit. Ich bin frustriert. In einer Woche ist die Uhr abgelaufen. Der 1. August hämmert in meinem Kopf. Sieben Tage, um eine blutige Geschichte zu erfinden, die preisverdächtig ist. Die die Juroren aus den 950.000 anderen Einsendungen heraussuchen, bis zum Ende lesen und jubilieren lässt. Sieben Tage, um das Morden auf dem Papier neu zu erfinden. Die Uhr tickt. Ohne Erbarmen.
Am nächsten Morgen kommt Konrad. Er hat frische Brötchen und ein Meerschweinchen mitgebracht. Es quiekt, als ich es aus der Schachtel nehme, dann zittert es auf meinem Arm. Ich drücke es an meine Brust, um es zu beruhigen. "Spürst du die Angst?", fragt Konrad und schaut mich mit ernsten Augen an. "Bring es um. Damit du weißt, wie es ist, wenn du tötest. Du musst es nachempfinden können." Ich sehe Konrad an, dann das wollige Wesen auf meinem Arm. Es schnuppert in der Luft, ist warm, lebendig. "Ich kann nicht", flüstere ich. Konrad strubbelt sich durch die Haare. Er dreht sich um und geht in die Küche. Ich höre, wie er Schubladen aufzieht und wieder zustößt. "Na, Kleines", sage ich zu dem Meerschweinchen und presse es an meine Wange. Ich sauge den Geruch nach frischem Heu und Apfel ein. Ich denke an Ferien auf dem Bauernhof, als ich ein Kind war. Konrad kommt mit dem Küchenmesser zurück. Die scharfe Klinge blitzt im Licht auf. Seine blauen Augen sind auf einmal ganz dunkel, fast schwarz. Seine Lippen sind zu einem schmalen Strich geworden. "Stich zu", sagt er und grinst mich an. Er hält mir das Messer hin. Ich zögere. Greife schließlich zu, umschließe den Griff mit meiner rechten Hand. Mit der linken halte ich das Meerschweinchen, drücke es an mich. Konrad beißt auf seiner Unterlippe herum, kaut und kaut. Ich sehe, wie er ein Stück Haut mit seinem Schneidezahn abreißt. "Nun mach schon", sagt er. Seine Stimme klingt rau. Mir wirbeln widerstreitende Gedanken im Kopf herum. Schriftstellerin, ich will Schriftstellerin sein. Gewinne ich den Preis, wenn ich das Meerschweinchen abmurkse? Ist Tiermord strafbar? Gehe ich über eine Leiche, um besser schreiben zu können? Ich lasse schließlich das Messer sinken. Mein Arm fühlt sich taub an. "Ich kann nicht", sage ich leise. Konrad ist enttäuscht. Ich sehe es ihm an. Er nimmt mir das Tier aus dem Arm, setzt es in die Kiste und verlässt die Wohnung. Mit einem Donnerschlag fällt die Tür zu. Das Messer lege ich auf den Schreibtisch und starre auf den Bildschirm. Noch sechs Tage. Dann muss meine Geschichte fertig sein.
In der Nacht wache ich auf, weil Konrad mich schüttelt. Ich reiße die Augen auf und starre in sein Gesicht. Blut, überall ist Blut. Seine Haare sind verklebt, ein Auge hat er zugekniffen. Das Blut tropft von seinem Kinn auf seine nackte Brust. Ich schreie. Und schreie. Er fängt an zu lachen, klingt dabei wie eine meckernde Hyäne. "Ach Häschen, dich kann man aber leicht erschrecken. Ist doch nur Wasserfarbe." Ich taste seine Wange ab. Stimmt, nur Farbe. Ich haue ihm eine runter. Mit aller Kraft, weil ich so sauer bin. Mein Herz schlägt Salti vor lauter Aufregung. "Du Arschloch, was soll das?", schreie ich. "Nun mal ganz ruhig", sagt Konrad und springt mit einem Satz aus dem Bett. "Ich will dir doch nur helfen. Damit deine Geschichte schön blutig wird." Nachdem er sich die Wasserfarbe abgewaschen hat, legt er sich wieder zu mir und nimmt mich in den Arm. Ich wälze mich die ganze Nacht hin und her, Blut, ich träume immer wieder von Blut. Leuchtend rot und frisch und warm, angeklebt, dunkles geronnenes Blut, der Geruch von kaltem Metall, und Wunden, überall klaffende blutige Wunden, himbeerfarben.
Fünf Tage noch. Ich sitze am Computer und schreibe über eine sieche Oma, die ihre wertvolle Standuhr nicht den undankbaren Erben überlassen will, sie stattdessen vor ihrem eigenen Dahinscheiden um die Ecke bringen will. Ich starre auf die Zeilen und lösche mit einem Klick den ganzen Mist. Langweilig. Preisunwürdig. Vielleicht hat Konrad doch Recht. Ein Schriftsteller kann nicht über die Dinge schreiben, die er nicht kennt. Ich gehe in die Küche und hole das Messer aus der Schublade, setze es an meiner linken Hand an und ritze in die Haut. Nichts passiert. Nochmal, dieses Mal drücke ich fester, ein Tropfen Blut quillt hervor, sitzt wie eine rote Blase auf meinem Handrücken. Es brennt. Der Schmerz zieht durch die Finger, wenn ich sie bewege. Als Konrad am Abend nach Hause kommt, sitze ich mit bandagierter Hand vor dem Computer und tippe einhändig. Misstrauisch schaut er auf meinen Verband. "Was ist passiert?", fragt er. "Nichts", murmele ich und tippe Buchstabe für Buchstabe langsam weiter. Eine Geschichte über eine Frau, die masochistisch veranlagt ist, bis sie ihre sadistische Ader entdeckt und zuschlägt, wann immer sich eine Gelegenheit bietet. Konrad beugt sich über mich und liest mit. Er riecht nach Schweiß und fängt an mich zu nerven. Ich sage "Geh weg, ich kann mich nicht konzentrieren." Er geht. Jetzt kann ich nicht mehr schreiben, weil ich seine schlechte Laune in meinem Rücken spüre. Sie bohrt sich wie ein Messer in mein Rückgrat.
Montag. Ich fange an, die Stunden zu zählen, bis ich fertig sein muss. Vier Tage, 96 Stunden. Konrad will einen Ausflug mit mir machen. "Das hilft dir", sagt er. "Ablenkung und neue Eindrücke". Als wir vor der Schlachterei halten, weiß ich, dass ich wieder eine schlaflose Nacht haben werde. Der Brechreiz ist überwältigend, als ich die kopflosen Schweinehälften, aufgehängt an ihren Füßen, entdecke. Den Rest des Tages dämmere ich auf der Couch, nippe ab und an am lauwarmen Kamillentee, den Konrad fürsorglich gekocht hat. Wie soll ich das bloß schaffen? Die Zeit läuft mir davon. In Bächen, Strömen, Flüssen fließen meine Tränen, bahnen der Verzweiflung einen Weg. Meine Hand schmerzt. Die Wunden haben sich entzündet. Der Verband klebt am Eiter, als ich versuche, ihn abzubekommen. Es stinkt faulig wie ein Tümpel in der flirrenden Sommerhitze.
Ich, Irene Paulsen, bin eine Versagerin. 28 Jahre alt, Studienabbrecherin, Möchte-Gern-Schriftstellerin, seit zwei Tagen ungeduscht, Versagerin auf der ganzen Linie. Die fettigen Haare kleben an meiner Stirn. Ich will schreiben. So düster und durchdringend wie Henning Mankell, so raffiniert psychologisch wie Elizabeth George und so bitterböse wie Ingrid Noll. Nichts davon gelingt mir und mir bleiben nur noch drei Tage. Konrad mault, weil ich die Geschichte mit der altersschwachen Oma gelöscht habe. Er plädiert für eine Mixtur aus halbtoter Alten und Sado-Maso mit Schweinefüßen. "Die sind der Clou", sagt er. Plötzlich fasse ich wieder Mut. Ein genialer Einfall. Könnte die Oma ihre gierigen Erben nicht an den Füßen aufhängen und köpfen? Das ist gut. Das ist böse. Das ist blutig. Die Sache hat nur einen Haken. Wie kriegt die Oma die Erben kopfüber aufgehängt? Mein pochendes Herz rutscht schon wieder eine Etage tiefer. "Lass dir was einfallen", sagt Konrad. "Du bist doch Schriftstellerin. Du hast Phantasie. Und ich besorge die nötigen Utensilien." Er streift Shorts und T-Shirt über und macht sich auf Badelatschen davon. Ich sehe ihm vom Fenster aus nach. Seine Schultern wippen bei jedem Schritt auf und ab. Ich habe nicht gefragt, wo er hin will, um 'Utensilien' zu besorgen. Ich schwitze. Meine Hand schmerzt genauso wie mein Kopf. Auf einmal lauert der Hass in mir. Ganz langsam schwillt er an, nimmt mich in Besitz. Konrad ist schuld. An allem. Immer bedrängt er mich so. Ich bin eben keine Schriftstellerin. Soll er doch selbst etwas schreiben. Ich kann nicht mehr und ich mag nicht mehr. Mit der rechten Faust schlage ich gegen die Fensterscheibe, die wider Erwarten birst und in winzige Scherben zerfällt. Ein Scherbenmeer zu meinen Füßen. Ein paar Splitter in meinem Handballen. Es dauert, bis ich sie mit einer Pinzette eine nach der anderen wieder herausgezogen habe. Autsch. Das tut wirklich weh. Wehwehweh. Als Konrad nach Hause kommt, ist es spät, und ich bin stockbesoffen. Beide Hände bandagiert liege ich auf der Couch und mache Männchen wie ein Schoßhund, der gestreichelt werden möchte. Konrad bleibt kühl, denkt wohl, ich möchte mich drücken. Vorm Schreiben, jawoll, und vorm Leben. Hicks. Von mir schaut er zur zersplitterten Scheibe und wieder zurück. Verlässt das Zimmer und überlässt mich meinem Rausch.
Im Morgengrauen weckt er mich, indem er mir ins Ohr raunt: "Bist du wieder nüchtern? Ich muss dir was zeigen." Nur ein Auge öffne ich. In meinem Kopf dröhnt ein Zug in voller Lautstärke. Verdammter Alkohol. Triumphierend hält Konrad etwas in die Höhe. "Was zum Teufel...", sage ich, "Handschellen?" "Fußfesseln", erwidert er. "Und das hier", er kramt auf dem Boden herum, "ist eine prima Eisenstange. Die müssen wir jetzt nur noch irgendwo befestigen und dann kann es losgehen." Ich richte mich auf der Couch auf. Der Zug donnert weiter durch meinen Schädel. "Was kann losgehen?, frage ich. "Wir spielen alles nach. Lebensnah und in Farbe. Dann hast du genug Eindrücke für deine Geschichte." Konrad rennt in der Wohnung herum, hält die Stange hier hin, hält sie dort hin, misst ab und brummelt. Bis er sich für den Flur entschieden hat. "Dort hänge ich sie auf und dann sehen wir weiter." Er trabt in den Keller, um die Bohrmaschine zu suchen. Um sechs Uhr in der Früh fängt er an zu bohren. Was wohl die Nachbarn denken? Um acht Uhr ist er fertig. Ich habe inzwischen zwei Liter Wasser und vier Espressos in mich hineingeschüttet. Für Duschen bleibt keine Zeit. Konrad rüttelt an der Stange, die nun knapp über der Decke quer im Flur hängt. "Sitzt, passt und wackelt", sagt er und gibt mir einen schmatzenden Kuss auf den Mund. Der Zug in meinem Kopf rattert und pfeift. Was machen wir hier eigentlich? Ich fühle mich überfordert. Zwei Tage noch.
Konrad schaut wieder nach oben zur Stange. "Mal angenommen, die Alte ist sadistisch, dann könnte sie doch ihren Erbschleicher-Neffen dort oben aufhängen."
"Aber wie kriegt sie ihn da oben hin? Er ist doch viel zu schwer", werfe ich ein. Ich zweifle, Konrad beißt wieder auf seiner Unterlippe herum. "Sie braucht einen Helfer", sagt er schließlich.
"René", sagen wir beide wie aus der Pistole geschossen. René ist unser Nachbar. Arbeitslos, Alkoholiker. Für ein Bier macht er so ziemlich alles. Wir gehen klingeln. Beim dritten Läuten öffnet sich die Tür. Die Bartstoppel in Renés Gesicht sehen aus wie Igelstacheln. "Was wollt'n ihr?", grunzt er. "Du musst uns helfen", antwortet Konrad. "Ich will mich an einer Eisenstange aufhängen." René reißt die Augen auf. "Seid ihr bescheuert?" Die Wohnungstür knallt, als er sie zudonnert. Wir müssen es also alleine schaffen. Zurück in unserem Flur schlägt Konrad vor, der Neffe könnte sich freiwillig kopfüber an die Stange hängen lassen. Er rennt in den Keller, um eine Leiter zu holen und lässt mich mit allem allein: der Stange, den Fußfesseln, der unausgereiften Geschichte. Konrad wird mir unheimlich. Er wirkt so besessen. Meine Hände schmerzen.
Konrad stellt die Leiter neben die Stange und steigt hoch. Er zieht den Kopf ein, damit er nicht an die Decke stößt und setzt sich auf die oberste Sprosse. "So, schau", sagt er und legt seine Beine über die Stange. "Jetzt gib mir mal die Fußfesseln." Ich reiche sie ihm nach oben. Mit der rechten Hand kann ich noch greifen, weil ich bei dem Verband die Finger ausgespart habe. Es macht Klick und nochmal Klick. Konrad hat sich die Fußfesseln um die Knöchel gelegt und sie geschlossen. Todesmutig lässt er sich von der Leiter fallen und schaukelt nun an der Stange hin und her. "Siehst du, Häschen, geht doch", keucht er. Das Blut steigt in seinen Kopf, so dass sein Gesicht rot anläuft. Er kichert. Es klingt nervös. Die Arme lässt er nach unten hängen. "Jetzt geh doch mal in die Küche", befiehlt er mir, "und hol das Messer. Wollen doch mal sehen, was wir damit anfangen können. Hast du schon Ideen für deine Geschichte?", fragt er noch.
"Ich weiß nicht", antworte ich und trolle mich in die Küche. Das Messer liegt schwer in meiner Hand und drückt auf den Verband. Konrad atmet schwer, als ich zurückkomme. An seiner Stirn tritt eine Ader gefährlich dick hervor. "Willst du nicht wieder herunterkommen?", frage ich ihn.
"Ach was", erwidert er, ganz Herr der Lage. "Jetzt überleg doch mal, was die Oma macht. Sie könnte in den Bauch stechen." Er drückt auf seinen Bauch. "Oder das Messer hier ansetzen." Er fährt sich mit dem Zeigefinger am Hals entlang. "Probier doch mal", sagt er.
"Ich weiß nicht, Konrad", antworte ich. Die Stange ächzt plötzlich unter seinem Gewicht. Ich stehe vor ihm, mit dem Messer in der Hand, und weiß nicht, was ich tun soll. "Jetzt mach schon", sagt er und als er merkt, dass ich nichts tue, versucht er, mir das Messer aus der Hand zu nehmen. Er schaukelt dabei hin und her. Ob die Stange wohl hält? In dem Moment, als er mir das Messer aus der Hand reißt, kracht sie herunter. Konrad lässt das Messer los. Es landet in seinem Hals. Er gurgelt. Die Blutfontäne spritzt aus seinem Hals auf meine verklebten Haare und mein T-Shirt, auch in mein Gesicht. Konrad stöhnt. Er liegt unter der Stange begraben auf dem Dielenboden und wimmert jetzt.
Der Geistesblitz schlägt in mein Gehirn ein, explodiert im grellweißen Licht. Bamm! Plötzlich weiß ich, was ich zu schreiben habe. So geht es. Die Oma, eine Teppichstange, der gierige perverse Neffe, alles fügt sich Teilchen für Teilchen ineinander. Ich muss an den Computer. Ich habe keine Zeit, mich um Konrad zu kümmern. Ich wische mir das Blut aus dem Gesicht. Er kommt schon klar. Ich schreibe Stunde um Stunde. Die Nacht kommt und geht. Die Sonne scheint durch das Fenster. Ich schreibe. Besessen. Die Nacht kommt wieder und geht wieder. Die Sonne scheint wieder. Ich kümmere mich nicht darum. Ich schreibe. Um viertel vor fünf am Nachmittag fängt der Drucker an zu rattern. Ich steige, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, über Konrad im Flur hinüber. Keine Zeit. Um viertel nach fünf stehe ich am Postschalter. Der Postbeamte mustert mich von oben bis unten. "Als Einschreiben, bitte", sage ich. "Geht es Ihnen nicht gut?", fragt er. "Bestens", sage ich und sehe an mir hinunter. Getrocknetes Blut klebt an meinem T-Shirt. Die Hände in die schmutzigen Verbände gepackt. Wie wohl meine Haare aussehen? "Kunst am Menschen", sage ich und setze ein Lächeln auf, dem er sich nicht entziehen kann. Ich weiß, dass ich stinke wie ein Bär. Draußen auf der Straße hebe ich den Kopf und schaue in den Himmel. Mir ist schwindelig. Die Gedanken in meinem Kopf ziehen wie flüchtige Wolken vorbei. Ich habe es geschafft. Konrad. Ich werde gewinnen. Ich muss mich um ihn kümmern. Die sieche Mörder-Oma. Das Blut. Das viele Blut. Wann wird der Preis vergeben? Himbeerfarben.