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Hilfsgüter für Archeus Prime
Captain Sam Hutton war tot, daran bestand kein Zweifel. Ein großer Verlust war es jedoch nicht - rein menschlich gesehen. Ich hatte ihn während meiner kurzen Zeit an Bord der MEMPHIS als einen harten Brocken kennen gelernt, doch das Fehlen des Hinterkopfes war selbst für einen Mann wie ihn zu viel gewesen. Somit war ich, Christopher Summer, jetzt mit meinen achtundzwanzig Jahren der befehlshabende Offizier auf einem der größten Transporter der imperialen Flotte im Krieg gegen die Outlaws. Ein bisschen zu früh für meinen Geschmack. Andreij würde die Galle platzen, wenn er davon erfuhr. Nicht genug, dass man ihm mit mir einen Absolventen der Ganimed-Offiziersakademie direkt vor die Nase gesetzt hatte. Er nannte mich immer den blonden Surfboy, wenn er glaubte, dass ich es nicht mitbekam. Und jetzt war ich auch noch sein Captain.
So ein Mist, was jetzt, überlegte ich.
Die MEMPHIS musste wie geplant ihr Ziel erreichen, um die Medikamente im Stützpunkt der Outlaws auf Archeus Prime abzuliefern. Der Ausgang des Krieges konnte davon abhängen. Es war eine Geste des guten Willens an die Aufständischen, ein taktischer Schachzug unseres Imperators, dem Erleuchteten. Er wollte den Konflikt friedlich beilegen und eine Lieferung von Medikamenten an die von Seuchen heimgesuchten Menschen auf Archeus Prime hätte den Eintritt in Friedensverhandlungen deutlich erleichtert. Der Krieg nahm einen ungünstigen Verlauf für die imperialen Streitkräfte und ein schneller Waffenstillstand stellte für den Erleuchteten mittlerweile mehr als nur eine Option dar.
Du musst deine Gedanken ordnen! Los, erinnere dich an das, was sie dir auf der verdammten Akademie beigebracht haben!
Mehrer Minuten stand ich bereits vor der Leiche des Captains, unfähig mich zu bewegen. Er saß in seinem Sessel, so wie ich ihn gefunden hatte, vor dem Hauptterminal in der Mitte der Brücke. Die Beleuchtung war abgeschaltet, nur das Licht eines nahen Sterns tauchte den Raum in ein fahles Licht. Ich nahm den Geruch von verbranntem Fleisch und den scharfen Gestank von Urin wahr. Huttons Blase hatte sich im Moment seines Todes entleert. Der Kopf des Captains war nach hinten geneigt, der Mund stand weit offen, wodurch mich seine obere gelbe Zahnreihe anbleckte. Die aufgerissenen Augen starrten an die Decke, die mit Bluttröpfchen übersät war und aussah, wie der Sternenhimmel eines irren Malers.
Ich beugte mich nach vorne und betrachtete die Wunde aus der Nähe. Durch das daumenbreite Einschussloch in der Mitte seiner Stirn blickte ich auf einen See aus Blut, der sich um den Sessel herum ausbreitete. In regelmäßigen Abständen fiel ein Tropfen aus dem Krater, wo vor kurzem noch Hirnströme flossen und vergrößerte mit einem Plitsch die Lache. Sonst drang kein Laut zu mir. Das, was einmal sein Hinterkopf gewesen war, lag jetzt fein verteilt auf dem Boden und auf den Tastaturen hinter dem Sessel.
Ich war hin und her gerissen zwischen Ekel und Faszination; ich weiß nicht warum.
Wenigstens muss ich nicht kotzen, dachte ich, zu irgendwas muss der Drill auf der Akademie ja gut gewesen sein.
Die Wunde im Kopf des Captains stammte eindeutig von einem Raptor, einer Waffe, die bevorzugt von den Kommandoeinheiten der Outlaws benutzt wurde. Wir hatten also sehr wahrscheinlich einen Infiltranten an Bord. Jahrelang konnten sie inaktiv sein, um dann, im entscheidenden Moment, zuzuschlagen. Ich fragte mich, wer an Bord zu so einem Mord in der Lage gewesen sein könnte. Klammerte ich mich einmal aus, kamen zum Glück nicht mehr viele Personen in Frage. Es blieben nur noch Andreij, der Schiffsingenieur, und Nathalie, die Ärztin, übrig, aber keinem von beiden traute ich eine derartig kaltblütige Tat zu.
Zuerst muss ich die beiden informieren, war mein erster klarer Gedanke, als ich langsam die Kontrolle über meinen Körper zurück erlangte.
Ich wollte mich gerade umdrehen, da bemerkte ich, dass die rechte Hand des Captains auf der Tastatur des Steuerpults lag, so als hätte er kurz vor seinem Tod noch etwas eingetippt. Auf dem Bildschirm darüber leuchtete in roten Buchstaben die Meldung:
ZUGRIFF VERWEIGERT
Er hatte den Zugang zur Steuerung des Schiffes gesperrt. Die Daten darunter zeigten an, dass wir immer noch Kurs auf das nächste Sprungtor nahmen. Mir wurde klar, dass ich meinen eigenen Zugangscode aktivieren musste, um die Kontrolle über das Schiff zurück zu erlangen. Meine innere Stimme riet mir aber dazu, noch ein wenig damit zu warten.
Ich ging zu einem der nicht mit Blut bespritzten Terminals und schaltete den Kom-Kanal des Schiffes ein.
„Andreij, Nathalie, egal wo ihr gerade seid, bitte meldet Euch sofort bei mir.“
Wenige Sekunden später erschienen die Gesichter von Andreij Leonow und Dr. Nathalie Lemieux nebeneinander auf getrennten Bildschirmen.
Was für ein Kontrast, dachte ich.
Links der wie aus Holz geschnitzte Schädel des Ingenieurs, mit den rot geränderten Augen. Seine schwarzen Haare, von denen viele die Pigmentproduktion trotz seiner erst zweiunddreißig Jahre bereits eingestellt hatten, sahen so zerwühlt aus, als wäre er gerade durch einen Orkan gelaufen.
Rechts das genaue Gegenteil. Nathalies Gesichtszüge erschienen mir so ebenmäßig, wirkten so zerbrechlich auf mich wie bei einer chinesischen Porzellanfigur. Sie war genauso alt wie ich, sah aber jünger aus. Ihre Augen hatten die Farbe von geschliffenen Smaragden, ihr Leuchten raubte mir manchmal den Atem. Die blonden Haare hatte Sie an diesem Tag zu einem Zopf zusammengebunden, was mir gefiel.
Ich sah, dass Andreij sich im Maschinenraum aufhielt, während Nathalie gerade in dem extra für diese Mission eingerichteten Labor arbeitete.
„Was gibt es denn, Lt. Commander?“ knurrte Andreij. Die Art wie er meinen Rang betonte, ließ mich die Zähne aufeinander pressen.
„Captain Hutton ist tot!” sagte ich.
„Was? Um Gottes willen!“ Nathalie riss ihre ohnehin schon großen Augen noch weiter auf. „Ist er wirklich tot, bist du sicher? Vielleicht kann ich ...“
„Er hat keinen Hinterkopf mehr!“
„Oh!“ machte Nathalie. Andreij zog die Luft ein.
„Dann bist du jetzt der befehlshabende Offizier?“ fragte Andreij, die Augen zu Schlitzen verengt.
„Richtig“, erwiderte ich. “Und ich erwarte von euch, dass ihr meine Anweisungen genauso befolgt, wie ihr es bei Hutton getan habt.“
Andreij stieß irgendeinen Fluch auf Russisch aus. Ich verstand ihn nicht, daher ging ich nicht darauf ein. Mein Vorgänger, Michel, war sein bester Freund gewesen. Die Vier waren während des Krieges viele Einsätze zusammen geflogen, bis Michel bei der letzten Transportmission getötet wurde. Andreij hatte das bis heute nicht verwunden. Zusammen mit der Tatsache, dass er mich für zu unerfahren hielt, erklärte das seine tief empfundene Abneigung, die er mir gegenüber zeigte. Aber da musste er jetzt durch. Der blonde Surfboy war jetzt sein Captain, mochte er fluchen, soviel er wollte.
„Was hat ihn getötet?“ riss mich Nathalie aus meinen Gedanken.
„Ein Raptor hat ihm das Gehirn weggeblasen“, sagte ich.
„Ein Raptor? Bist du sicher?“
„Ziemlich. Was bedeutet, dass wir sehr wahrscheinlich einen Infiltranten an Bord haben ...“ Ich machte bewusst eine Pause, um ihre Reaktionen zu beobachten. Beide verharrten regungslos vor ihren Terminals. Für einen Moment sah es so aus, als würde ich zwei Standbilder betrachten.
„Du verdächtigst doch nicht etwa einen von uns beiden?“ schnaubte Andreij und lief rot an. Gut, dass ich jetzt nicht in seiner Nähe war.
„Das ist doch albern, Chris“, warf Nathalie ein.
„So?“ fragte ich ruhig. „Ich war es nicht, davon wüsste ich, also bleibt nur einer von euch beiden übrig.“
„Scheiße! Jetzt mach mal nen Punkt, Captain!“ schrie Andreij. Wenn er gekonnt hätte, wäre er durch den Bildschirm gekrochen und hätte mir den Hals umgedreht, da war ich mir sicher.
„Außerdem kannst du uns ja viel erzählen. Vielleicht warst du es ja doch. Du hast ihn schließlich gefunden.“
„Ich war es nicht.“ Entgegnete ich mit fester Stimme.
„Dann haben wir einen blinden Passagier an Bord“, sagte er, wobei er sich wieder etwas beruhigt hatte.
Diese Möglichkeit hatte ich bisher völlig übersehen. Dabei war es durchaus möglich, dass sich beim Beladen des Transporters ein Infiltrant mit an Bord geschlichen hatte und sich jetzt irgendwo auf dem Schiff versteckt hielt. Leider entwickelte sich die Situation dadurch für mich zu einer Gleichung mit zu vielen Unbekannten, was mir gar nicht gefiel.
„Also gut“, sagte ich „durchsuchen wir das Schiff. Es bleibt uns wohl nichts anderes übrig.“
Andreij winkte ab. „Das Schiff durchsuchen?“ Er lachte. „Wie lange gedachtest du denn zu suchen, Captain?“
Er provozierte mich bewusst. Ich versuchte, die Nerven zu behalten und seine Sticheleien zu ignorieren. Dabei hatte er im Grunde genommen Recht. Das Schiff war sechshundert Meter lang und bestand zu über neunzig Prozent aus Lagerräumen. Eine intensive Suche würde Ewigkeiten dauern.
„Bis wir was gefunden haben“, antwortete ich. „Und wenn wir das Schiff zwischenzeitlich stoppen müssen.“
„Unendlich viel Zeit haben wir aber nicht“, warf Nathalie ein. „Die Medikamente und das Wasser müssen so schnell wie möglich nach Archeus Prime.“
Das stimmte zwar, aber wir mussten etwas unternehmen. Außerdem glaubte ich nicht so recht an die Theorie mit dem blinden Passagier. Und da war noch etwas anderes. Eine Frage, die seit einer Weile in meinem Kopf kreiste, wie ein Raubtier im Käfig und deren Antwort noch hinter Nebelschleiern verborgen lag. Warum sollte ein Infiltrant der Outlaws einen Transport mit dringend benötigten Medikamenten für seine eigenen Leute sabotieren? Das ergab keinen Sinn. Ich musste versuchen Zeit zu gewinnen.
„Du hast Recht, Nathalie“, erwiderte ich. „Dennoch werden wir jetzt mit der Suche beginnen. Wir haben noch einen Tag Zeit, bevor wir Archeus Prime erreichen, den werden wir nutzen. Du und Andreij fangen mit den Laderäumen an. Ich kümmere mich um die Mannschaftsquartiere.“
„Das könnte euch so passen!“ polterte Andreij. „Ich bin doch nicht verrückt. Ich gehe mit keinem von euch beiden alleine irgendwo hin.“
„Danke, das zeugt von Vertrauen“, giftete Nathalie zurück.
„Schon gut, schon gut, wir gehen alle drei zusammen und wir fangen mit den Laderäumen an“, sagte ich. „Wir treffen uns in fünf Minuten am Eingang zum Lift auf dem Hauptdeck. Und Andreij, bring uns noch ein paar Lampen mit.“
„OK, Sir!“
„Und vergesst eure Waffen nicht.“
Der letzte Satz kam mir nur schwer über die Lippen. Die beiden Gesichter auf den Bildschirmen verschwanden. Ich überprüfte noch einmal, ob sich meine S-Gun im Gürtelhalfter befand, was der Fall war, und verließ die Brücke. Der Flur war hell erleuchtet. Rechts vom Eingang befand sich ein Terminal mit einem Ziffernblock an der Wand. Ich tippte einen vierstelligen Zahlencode ein und versiegelte damit die Tür zur Brücke. Ich wollte kein Risiko eingehen und verhindern, dass der Mörder noch einmal unbemerkt den Raum betreten konnte. Die Tür bildete das Ende eines langen Ganges, der nach dreißig Metern in einen Verbindungskorridor mündete.
Auf beiden Seiten des Flurs reihten sich die geschlossenen Türen der Mannschaftsquartiere aneinander. Im Verbindungskorridor, etwa zehn Meter links hinter der Einmündung, lag der Eingang zum Lift, wo wir uns verabredet hatten. Ich hörte keinen Laut. Langsam bewegte ich mich auf den anderen Korridor zu, wobei ich die Türen links und rechts von mir aus den Augenwinkeln beobachtete. Kurz vor der Ecke blieb ich stehen, presste mich gegen die linke Wand und konzentrierte mich darauf, ob ich irgendwelche Geräusche aus dem anderen Gang wahrnehmen würde. Von beiden Seiten näherten sich Schritte, die ich eindeutig Andreij und Nathalie zuordnen konnte. Ich bemerkte, wie ich unbewusst das Halfter an meinem Gürtel geöffnet und die Hand um den Griff der S-Gun gelegt hatte. Nathalie kam von rechts und kurz bevor ich in ihr Blickfeld geriet, verschloss ich das Halfter wieder und bog mit kontrollierter Lockerheit um die Ecke.
„Da seid ihr ja“, sagte ich und versuchte die beiden nicht allzu auffällig zu mustern. „Hast du die Lampen dabei Andreij?“
„Na klar, was dachtest du denn, Captain? Für jeden eine.“ Das Misstrauen in seinem Blick war nicht zu übersehen. „Hab auch noch nen Infrarotscanner mitgebracht. Den werden wir gebrauchen können.“
„Gute Idee.“ Sagte ich. „Habt ihr eure Waffen dabei?“
„Da!“ Andreij gab mir eine der Lampen. Nathalie nickte nur.
„Krieg ich auch noch eine?“ fragte sie.
„Ja doch Süße, nur die Ruhe,“ knurrte er und hielt ihr eine hin.
„Danke, Papa!“ sie machte einen Knicks, ihre Augen blitzten.
Ich drückte auf den Knopf am Lift und zehn Sekunden Später öffnete sich die Tür. Wir stiegen in die enge Kabine, deren Leuchtstofflicht uns optisch um Jahre altern ließ. Jeder starrte an den anderen vorbei, keiner gab einen Laut von sich - man hätte den Flügelschlag einer Motte hören können. Ich hatte als Ziel, die untersten Laderäume angeben, denn mein Plan war es, mich von dort Ebene um Ebene nach oben zu arbeiten. Wir waren zwar nur zwanzig Sekunden unterwegs gewesen, aber als sich die Tür endlich öffnete, kam es mir so vor, als wären wir mit dem Lift bis nach Archeus Prime gefahren. Wir stiegen aus und bodenlose Schwärze hüllte uns ein.
„Was ist hier los Andreij?“ fragte ich.
„Scheiße, keine Ahnung, muss vor kurzem erst passiert sein. Soll ich den Fehler suchen?“
„Nein, das dauert jetzt zu lange, lasst uns anfangen, wir haben ja Lampen dabei.“ Ich wurde das Gefühl nicht los, dass es kein technischer Defekt war, der den Stromausfall verursacht hatte.
Die Beleuchtung auf der gesamten Ebene war ausgefallen. Die Luft klebte vor Feuchtigkeit und roch moderig. Das Brummen der Belüftungsventilatoren bildete einen Klangteppich; irgendwo fiel in regelmäßigen Abständen ein Tropfen auf den Metallboden und rief ein gespenstisches Echo hervor.
Wir schalteten unsere Lampen ein. Die Lichtkegel durchschnitten die Finsternis einer Halle die zwanzig Meter hoch war und die Fläche eines Footballfeldes besaß. Der Eingang zum Lift befand sich in der Mitte einer der beiden Längsseiten. Links und rechts von uns waren zylindrische Tanks aufgereiht, die fast bis zur Decke reichten, und die mit Wasser gefüllt waren. Wasser stellte neben den Medikamenten die eigentliche Hauptfracht unseres Fluges dar. Die Trinkwasserversorgung auf Archeus Prime war zusammengebrochen und ohne frisches Wasser nützten die Medikamente, die wir brachten, wenig. Der Gang in der Mitte war ungefähr zehn Meter breit. Die Reihen der Tanks auf beiden Seiten wirkten auf uns wie eine Garde von Riesen, die uns zu Ehren salutierten.
Ich leuchtete mit meiner Lampe an die Decke und erkannte ein undurchdringliches Gewirr aus Rohrleitungen das dort in allen Größen verlief.
„Was ist das?“ fragte ich.
Andreij blickte auch nach oben. „Was, die Rohre? Die gehören zum Kühlsystem für den Fusionsantrieb.“
„Das weiß ich selbst. Ich meine die vielen Neuen dazwischen.“
„Die wurden zusammen mit den Wassertanks eingebaut, das war noch bevor du an Bord gekommen bist, Captain.“
„Aha“ sagte ich. Das Ganze war mir etwas peinlich, denn als erster Offizier hätte ich mich früher darüber informieren müssen. Ich hakte die Sache ab und schaute wieder nach vorne.
In der gegenüberliegenden Wand war im Schein der Lampen der Durchgang zur nächsten Halle zu erkennen. Auch dort waren ausschließlich Wassertanks installiert worden, wie auf der gesamten Ebene und der Ebene über uns. Die Medikamente befanden sich auf der dritten Etage und waren in Containern verpackt.
„Ich glaube es ist an der Zeit den Infrarotscanner einzuschalten„, sagte ich. „Ohne das Teil finden wir bei dem beschissenen Licht nicht mal einen entlaufenen Saurier.“
Natalie musste lachen. Ein helles, klares Lachen, das mir einen Teil meiner inneren Ruhe zurückgab.
„Wie groß ist die Reichweite des Scanners. Müssen wir jetzt in jeden Winkel kriechen?“ fragte sie.
„Niet“, sagte Andreij. „Wenn wir auf dem Gang bleiben, können wir den Raum auf beiden Seiten bis zu den Wänden erfassen.“ Er hatte das Gerät bereits eingeschaltet und war dabei letzte Einstellungen vorzunehmen.
„Und?“ fragte ich.
„Wir können, Captain.“
Wir setzten uns in Bewegung und gingen nebeneinander den Gang entlang; Andreij in der Mitte, ich links und Nathalie rechts von ihm. Während er den Weg vor uns ausleuchtete, wobei er die Anzeigen auf dem Scanner nicht aus den Augen ließ, versuchten Nathalie und ich die Dunkelheit zwischen den Tanks mit unseren Lampen zu verdrängen.
Als wir die Durchgangstür erreichten, stellten wir zu unserer Erleichterung fest, dass sich außer uns kein Lebewesen in dem Raum befand. Wir betraten den nächsten Hangar und setzten das Spiel fort. Wieder Tanks, wieder Finsternis – und das Echo des verdammten Wassertropfens. So wie wir den Gang bedächtig entlang schritten, hätte ein Beobachter durchaus den Eindruck haben können, wir würden eine feierliche Prozession abhalten, anstatt einen Killer zu suchen.
„Stopp“ sagte Andreij plötzlich, als wir genau in der Mitte der Halle angekommen waren. Er hob eine Hand, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Wir blieben stehen.
„Hast du was?“ fragte ich.
„Links vor uns, hinter dem nächsten Tank.“ Er deutete mit dem Finger in die Richtung, die er meinte.
Ich zog meine S-Gun, hob sie schussbereit vor mich und drückte mit der anderen Hand die Lampe dagegen, um ein ausgeleuchtetes Schussfeld zu haben. Mit leicht geduckter Haltung, ging ich zu dem Tank hinter dem Andreij eine Wärmequelle registriert hatte und lehnte mich dagegen. Keiner von uns gab einen Laut von sich. Ich wartete ein paar Sekunden, atmete tief durch, bis ich meinen Puls einigermaßen unter Kontrolle hatte und tauchte dann in den Zwischenraum zum benachbarten Tank ein. Ich spürte, wie sich Schweiß auf meiner Stirn sammelte, mein Herz fing wieder an zu hämmern. Sorgsam bedacht jeden Winkel vor mir sorgfältig auszuleuchten und kein Geräusch zu verursachen schlich ich vorwärts. Plötzlich versuchte etwas vor dem Lichtkegel meiner Lampe in die Dunkelheit zu flüchten. Es kam nicht weit.
Ich gab in schneller Folge drei Feuerstöße aus meiner S-Gun ab, wobei jedes Mal ein kobaltblauer Strahl aus der Mündung das Halbdunkel vor mir zerschnitt. Der dritte Schuss musste wohl getroffen haben, denn ein Quieken erfüllte den Laderaum und hallte von den Wänden wieder. Dann folgte ein dumpfer Schlag, so als ob ein Wäschesack auf den Boden fallen würde. Stille legte sich wie ein Leichentuch über mich.
Als ich vorsichtig weiter ging, roch es so stark nach verschmortem organischem Gewebe, dass ich den Atem anhielt. Dann sah ich mein Werk. Im Licht der Lampe erblickte ich die dampfenden Überreste eines Lebewesens, das mir nur allzu gut aus den Vorlesungen der Akademie bekannt war, ein Gurok. Diese Ratten ähnlichen Geschöpfe von Cassini Alpha waren der Albtraum aller Transporterbesatzungen. Sie hatten, wie ihre Vettern auf der Erde, einen langen Schwanz, doch anstelle von Fell besaßen sie einen schwarzen Schuppenpanzer. Der Hauptunterschied war jedoch, dass ein ausgewachsener Gurok fast anderthalb Meter groß werden konnte. Die Vermehrungsrate hatten sie wiederum mit den Ratten gemeinsam, weshalb sie im gesamten Sektor mittlerweile zu einer Plage geworden waren. Das Exemplar vor mir würde sich jedenfalls nicht mehr vermehren können. Sein Verdauungstrakt lag in einem Umkreis von einem Meter um seinen Kadaver verteilt. Seine Innereien stanken so stark nach faulen Eiern, dass mir die Augen tränten und ich mir die Nase zuhalten musste.
Ich beugte mich über den toten Gurok, um ihn genauer zu betrachten, denn ich hatte vorher noch nie ein Exemplar zu Gesicht bekommen. In diesem Moment spürte ich hinter mir den Luftzug von etwas, dass sich schnell durch die Luft bewegte und gleich darauf schlug ein harter Gegenstand gegen meinen Nacken. Brennender Schmerz breitete sich von dort durch meinen gesamten Körper aus, leuchtende Punkte tanzten vor meinen Augen, dann umfing mich Schwärze. Das letzte, was ich mitbekam, war, dass ich nach vorne in die stinkenden Eingeweide des Kadavers fiel.
Ein stechender Schmerz in meiner Wade weckte mich aus meiner Ohnmacht. Ich lag auf dem Bauch, das Gesicht zur Seite gedreht und unter mir spürte ich klebrige Nässe. Um mich herum herrschte eine Dunkelheit, die so schwarz war wie Tinte. Meine Augen fingen nicht den geringsten Lichtstrahl auf.
Gott, ich liege immer noch auf diesem toten Vieh, dachte ich.
In unmittelbarer Nähe hörte ich ein Schmatzen, das aus verschiedenen Quellen zu stammen schien. Wieder dieser Schmerz in der Wade; als ob jemand versuchen würde mir mit einer Zange ein Stück Fleisch aus dem Unterschenkel herauszureißen. Mein Herz begann zu rasen, mir wurde schwindelig und Brechreiz stieg in mir auf. Und plötzlich wusste ich, was mich aus meiner Bewusstlosigkeit zurückgeholt hatte: Guroks, eine ganze Sippe.
Der Kadaver hatte sie angelockt.
Ich werde ihr Abendessen sein, wenn ich nicht ganz schnell aufstehe, dachte ich.
Ich schüttelte das schmerzende Bein, was ein Grunzen aus der Finsternis zur Folge hatte, stützte mich auf Hände und Knie und machte dann mehrere Rollen zur Seite, wobei ich eins der Biester aus dem Weg schubste. Nach drei Rollen prallte ich mit dem Rücken gegen einen Tank. Indem ich mich an der Wandung abstützte, richtete ich mich auf und tastete mich, der Wölbung des Tanks folgend, weiter von dem Schmatzen weg. Ich blieb erst stehen, als ich sicher war, weit genug von den Guroks entfernt zu sein und versuchte meine Gedanken zu ordnen.
Was war passiert?
Jemand hatte mich niedergeschlagen, soviel stand fest. Meine Lampe hatte man mir abgenommen oder sie lag noch bei dem Kadaver. Instinktiv griff ich an das Halfter an meinem Gürtel – die Waffe war auch weg. Ebenso fehlte mein Minicomputer am Handgelenk, sodass ich nicht einmal sagen konnte, wie lange meine Ohnmacht gedauert hatte. Es bestand für mich kein Zweifel daran, dass ich entweder von Nathalie oder von Andreij niedergeschlagen worden war. Vor einem Unbekannten hätten sie mich noch rechtzeitig warnen können, schließlich waren sie nur ein paar Meter von mir entfernt gewesen, als es mich erwischte. Ihre Namen in die Dunkelheit zu rufen, hielt ich daher für keine so gute Idee.
Ich versuchte, wenigstens irgendein verdächtiges Geräusch aufzufangen. Nichts, außer dem Wassertropfen, dem Brummen der Belüftungsventilatoren - und dem nur wenige Meter entfernten Schmatzen.
Irgendwie musste ich zur Brücke gelangen, doch vorher brauchte ich Licht und eine Waffe. Ich beschloss so wenig Zeit wie möglich zu verlieren, auch auf die Gefahr hin, mich durch Geräusche zu verraten.
Hätte man dich umbringen wollen, dann wäre das schon längst erledigt worden, sagte ich mir.
Dann begann ich damit, wie ein Blinder, den Weg zur Brücke zu ertasten.
Nach einigen Minuten erreichte ich den Lift und musste feststellen, dass er abgeschaltet war. Jemand wollte mich anscheinend möglichst lange vom Mannschaftsdeck fern halten. Mir fiel ein, dass sich rechts vom Lift, in der Ecke der Halle, eine Luke zu einem Notschacht befand, der bis auf die Mannschaftsebene hinaufführte. Nach kurzem Suchen fand ich den Eingang und stieg die Sprossenleiter hinauf, wobei ich mehrmals eine Pause einlegen musste. Der Aufstieg schien kein Ende zu nehmen. Einmal verlor ich auf halber Höhe fast den Halt, weil meine schweißnasse Hand von einer Sprosse abrutschte. Als ich die Luke zur Mannschaftsebene mit einiger Mühe öffnete, musste ich feststellen, dass die Flure dort genauso dunkel waren, wie der Schacht, aus dem ich gerade kam. Mich an den Wänden entlang tastend, machte ich mich auf die Suche nach meinem Quartier, wo ich eine Lampe und eine zweite Waffe in meinem Schrank deponiert hatte. Nach einiger Zeit, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, fand ich meine Kabine. Zu meiner Erleichterung lagen die Gegenstände, die ich suchte, noch an Ort und Stelle.
Du bist wieder im Spiel Captain Summer, dachte ich.
Den ganzen Weg über hatte ich niemanden gehört. Und dennoch war ich mir sicher, dass ich nicht alleine auf der Mannschaftsebene war. Ich verließ die Kabine und machte mich auf den Weg zur Brücke, die sich ganz in der Nähe befand. Die Lampe ließ ich dabei noch ausgeschaltet, denn die Dunkelheit war zu meinem einzigen Verbündeten geworden. Als ich um die Ecke der Einmündung zum Brückenkorridor bog, wich ich zurück.
Die beiden Türflügel der Brücke waren nur zur Hälfte geöffnet und das durch den Spalt fallende, glutrote Licht der Notbeleuchtung ergoss sich wie ein Lavastrom auf den Gang. Jemand musste meine Verriegelung geknackt haben. Kein Laut drang durch die Tür nach draußen.
Ich entsicherte meine Waffe und hob sie schussbereit vor mich. Geduckt schlich ich um die Ecke und bewegte mich langsam auf die geöffnete Tür zu. Kurz bevor ich sie erreicht hatte, drang von drinnen das klappern einer Tastatur zu mir. Ich lieb abrupt stehen und lauschte durch den Spalt der Tür, wobei ich den Atem anhielt und spürte, wie sich meine Kiefermuskeln verkrampften. Das klappern hörte nicht auf, der Verursacher schien mich noch nicht bemerkt zu haben. Die Augen für einen kurzen Moment geschlossen, atmete einmal tief ein, dann machte einen Satz durch den Türspalt – und blickte in den Lauf eines Raptors.
„Halt! Lass die Waffe fallen!“
Es war Nathalie.
Ich stand wie versteinert da, unfähig zu reagieren.
„Lass die Waffe fallen, Chris.“
Sie saß halb auf dem zentralen Steuerterminal, in der einen Hand hielt sie den auf mich gerichteten Raptor und mit der anderen tippte sie willkürlich auf einer der Tastaturen herum; sie hatte mich reingelegt, wie einen kleinen Jungen.
Direkt neben ihr saß immer noch der tote Captain in seinem Sessel und starrte die Decke an.
„Chris, ich verliere die Geduld.“
Sie straffte die Haltung des Armes, mit dem sie auf mich zielte. Ich gehorchte und legte die Lampe und die S-Gun auf den Boden.
„Sehr schön. Geh da rüber“ sagte sie und zeigte mit der Waffe auf einen der Drehsessel, der weit genug von ihr und dem Ausgang entfernt stand. Auf dem Weg dorthin wäre ich beinahe über Andreij gestolpert, den ich bis dahin überhaupt nicht gesehen hatte. Er lag regungslos auf dem Bauch, ein Arm unter seinen Körper gedreht, den anderen abgewinkelt. Die Beine waren leicht gespreizt, sodass ich den Fleck in seiner Hose sehen konnte. Wieder drang der stechende Geruch eines letzten Bedürfnisses in meine Nase, der den Gestank, der schon vorher auf der Brücke waberte ins Unerträgliche steigerte. In seinem Rücken klaffte ein tellergroßer Krater, an dessen Rändern die Ansätze von Rippen herausragten, wie Zähne aus einem Maul. Er lag in einer riesigen Blutlache, die im roten Licht aussah wie ein tiefer See.
In diesem Moment versagte meine Ausbildung an der Akademie. Mir lief ein Schauer über den Rücken und Magensäure schoss in mir empor. Ich fiel auf die Knie und übergab mich so heftig, dass ich fast keine Luft mehr gekriegt hätte.
„Alles in Ordnung?“ fragte sie, als ich fertig war und ich mich langsam wieder aufrappelte.
„Ja, alles bestens“.
Du Miststück, dachte ich. Sie hielt die ganze Zeit den Raptor auf mich gerichtet.
Ich ging zum Sessel, den sie mir zugewiesen hatte, und setzte mich. Unsere Blicke trafen sich.
„Warum?“ fragte ich.
„Du weißt es wirklich nicht, oder?“
„Was soll ich nicht wissen? Ich weiß nur, dass du hier deine Kameraden abschlachtest, obwohl wir deinen Leuten Medikamente und Wasser bringen wollen.
„Medikamente und Wasser!“ Sie schnaubte verächtlich. „Wenn es nur so wäre. Chris, in den Tanks ist kein Wasser.“
„Wie bitte? Was erzähltst du da für einen Mist?“
„Das hier ist kein Transport von Hilfsgütern. In den Tanks befindet sich Selon 5-0-Y, ein biologischer Kampfstoff. Er setzt ein hoch infektiöses Virus frei, das einen tödlich verlaufenden Infekt verursacht.“
„Das nehm ich dir nicht ab. Das wäre Massenmord. Auf Archeus Prime gibt es auch viele Zivilisten – Frauen, Kinder, alte Leute. Ich glaube nicht, dass der Erleuchtete so etwas anordnen würde.“ Ich ertappte mich dabei, dass ich selbst nicht an meine Worte glaubte.
„Ach wirklich nicht?“ sagte sie. Ihre Stimme bebte leicht.
„Und was war mit Cirrus Minor oder Goron Epsilon? Die Flächenbombardements? Sind da keine Zivilisten getötet worden?“
Ich spürte, wie mein Gesicht heiß wurde und ich musste ihrem Blick ausweichen. Natürlich hatte sie Recht.
Ich sah wieder in ihre Augen, die bei dem roten Schein der Notbeleuchtung grau aussahen und in diesem Moment eine tiefe Traurigkeit ausstrahlten.
„Aber wenn das Virus so ansteckend ist, würde es nicht auf dem Planeten beschränkt bleiben“, sagte ich. „Archeus Prime ist ein wichtiger Knotenpunkt im Sektor. Der Erleuchtete würde niemals riskieren, dass es sich auf unser Territorium ausbreitet. Millionen Loyalisten würden ebenso sterben“
„Sicher, aber ganz bestimmt nicht alle. Ein Kreis von absolut ergebenen Loyalisten aus den höchsten Ebenen wurde bereits mit einem Antiserum geimpft. Seine gewöhnlichen Untertanen scheinen dem Erleuchteten nicht so sehr am Herzen zu liegen. Ich vermute mal zu denen gehörst du auch. Schade eigentlich.“
„Du bist zynisch“, sagte ich.
„Der ganze Krieg ist zynisch“ erwiderte sie.
Ich saß da wie gelähmt. Wenn es stimmte was sie sagte, dann brach gerade eine Welt in mir zusammen. Meine Stimme drohte ihren Dienst zu versagen.
„Warum schießen deine Leute den Transporter nicht einfach ab?“ stammelte ich.
„Einfach abschießen? Du weißt doch selber, wie stark die MEMPHIS bewaffnet ist“, erwiderte sie. „Es hätte zu vielen Piloten das Leben gekostet. Mal davon abgesehen sind fast alle unsere Schiffe in den Frontsektoren damit beschäftigt, die imperiale Flotte zurückzuschlagen. Mein Einsatz hier stellt die weitaus effektivere Variante dar.“
„Aber warum der Captain und Andreij? Sie waren deine Freunde“, sagte ich.
„Hutton war nie mein Freund gewesen, Andreij ... ok, den hatte ich ganz gern, aber als Freund hätte ich ihn auch nicht bezeichnet.“ erwiderte sie ohne eine Regung zu zeigen. Sie machte eine kurze Pause und fuhr dann fort „der Captain war der Einzige, der offiziell den wahren Grund der Mission kannte. Er war ein verbohrter Loyalist, er verehrte den Erleuchteten mit jeder Faser seines Körpers. Er war ein Schwein.“ Sie warf einen abschätzigen Blick auf die Leiche des Captains. „Der Transporter ist eine fliegende Biobombe. Sobald wir in die Atmosphäre von Archeus Prime eingetreten wären, hätten sich die Tanks über ein kompliziertes Düsensystem automatisch über einer dicht besiedelten Region entleert.“
„Die Rohrleitungen an den Decken der Laderäume“, sagte ich.
„Genau“.
„Und wie ist das mit dem Captain passiert?“
„Ich wollte Hutton zwingen den Kurs zu ändern und das Schiff in einen nahe gelegenen Stern zu steuern. Er weigerte sich und hat mich dann auch noch reingelegt, in dem er im letzten Moment den Zugang zum Steuerungsterminal mit einem Code gesperrt hat.“
„Und Andreij“, fragte ich.
„Andreij wusste nichts von der Sache. Ich habe ihn bewusstlos geschlagen, als du im Laderaum auf den Gurok geschossen hast.“
„Und warum liegt er dann hier oben?“ Ich blickte auf ihn herab und obwohl ich ihn nicht besonders gemocht hatte, zog mir sein Anblick die Brust zusammen.
Sie betrachtete ebenfalls seine Leiche. „Er muss vor dir wach geworden sein und kam dann hier rauf, genau wie du. Ich wollte ihn überreden sich uns anzuschließen, aber der Trottel ließ sich nicht darauf ein und wollte mich überwältigen.“
„Was ihm augenscheinlich nicht gelang“, bemerkte ich.
„Und was ist mit dir?“ fragte sie. „Willst du mir helfen?“
„Wobei denn?“ Ich sah sie verwirrt an.
Sie blickte zum Bildschirm des Steuerungsterminals herab, auf dem sie saß. „Ich kriege Huttons verdammte Sperre nicht geknackt. Die Tür war kein Problem, aber dieser Code ist einfach zu kompliziert.“
Ich wusste keine Antwort. Gedankenfetzen schwirrten durch meinen Kopf wie ein Schwarm Vögel. Sie wollte, dass ich den Terminal mit meinem Code wieder entsperre, das war mir klar. Aber sollte ich es auch tatsächlich tun? Trotz meiner Ausbildung auf der Akademie war ich kein absolut überzeugter Loyalist, dazu war ich schon mein ganzes Leben über zu kritisch gewesen und ich hatte einiges vom Krieg mitbekommen, was mir nicht gefiel. Diese Eigenschaft brachte mir dann auch viel Ärger mit meinen Ausbildern auf der Akademie ein. Aber ein Überläufer?
Andererseits, wenn es wirklich stimmte was Nathalie mir offenbart hatte, dann verabscheute ich den Gedanken, verantwortlich für den Mord an Millionen unschuldiger Menschen zu sein.
„Was passiert wenn ich mich weigere?“ fragte ich.
Sie zögerte kurz. „Dann erschieße ich dich.“ Irgendwie schien ihr diese Option nicht zu gefallen. Mir auch nicht.
„Du kannst dann aber den Kurs nicht mehr ändern“, sagte ich.
„Das brauche ich auch nicht. Ich kann genauso gut das Kühlsystem für den Fusionsantrieb abschalten und das Schiff auf diese Weise in die Luft jagen. Die andere Variante wäre jedoch eleganter. Außerdem hätte sie den Vorteil, dass ich dich nicht töten müsste.“
Ihren letzten Satz hatte ich nicht erwartet. Sie schien mich zu mögen. Auch sie war nur ein Mensch, ein verdammt attraktiver noch dazu. Trotz ihrer Ausbildung zum Infiltranten konnte sie ihre Gefühle für mich nicht unterdrücken. Obwohl sie vor kurzem zwei Menschen, die ich kannte eiskalt erschossen hatte, fühlte ich mich zu ihr hingezogen. Ein warmes Gefühl breitete sich in meiner Brust aus.
Gleichzeitig war ich erstaunt darüber, über was für ein Wissen sie verfügte. Neben ihrer Qualifikation zur Ärztin, die ihr eine perfekte Tarnung verlieh, hätte sie vermutlich eine erstklassige Schiffsingenieurin abgegeben. Von Ihren Kampfkenntnissen wollte ich mich erst gar nicht überzeugen lassen.
„Ich werde dir helfen“, sagte ich.
„Schön“ sagte sie. Die Spannung wich ein wenig aus ihrem Körper. Trotzdem hielt sie weiter den Raptor auf mich gerichtet.
„Du kannst das Teil jetzt runternehmen“, sagte ich.
„Erst den Code“, erwiderte sie.
Ich stand auf und ging langsam zum Steuerungsterminal. Sie entfernte sich etwas davon, um einen Sicherheitsabstand zwischen uns zu haben. Während ich den Code eingab und bestätigte sah ich durch die Fensterfront der Brücke. In unmittelbarer Nähe befand sich ein großer blauer Stern, der bereits ein Viertel des Sichtfeldes einnahm. Ich änderte den Kurs auf das Zentrum des Sterns und beobachtete, wie die blaue Scheibe in die Mitte des Fensters wanderte. Dann richtete ich mich auf und blickte Nathalie an.
„Fertig. Und nun?“ fragte ich. Die Waffe war immer noch auf mich gerichtet.
„Hmm, wie kann ich dir vertrauen?“ sie sah mich ernst an.
Ein fürchterlicher Verdacht stieg in mir auf. „Du willst mich doch jetzt nicht abknallen?“
„Geh zur Seite“, befahl sie.
Mit weichen Knien entfernte ich mich ein Stück von der Apparatur und blieb dann stehen. In dem Moment richtete sie die Waffe auf das Terminal und drückte ab. Eine gleißende Plasmakugel peitschte aus der Waffe in die Konsole, die daraufhin qualmend in sich zusammenschmolz. Der einzige Zugang zu Steuerung war vernichtet worden. Sie steckte die Waffe ein und lächelte mich an.
„Tut mir Leid, aber ich musste sicher gehen“, sagte sie.
„Toll ich hätte mir fast in die Hosen gepisst.“
Sie lachte.
„Lass uns verschwinden, ich habe vorhin schon eine Fluchtkapsel vorbereitet. Meine Leute werden uns an einem Treffpunkt einsammeln“, sagte sie und ging zur Tür. Ich folgte ihr.
In mir brodelten die Gefühle durcheinander, wie in einem Kessel. Erleichterung, Hoffnung, Angst, Freude, Zweifel. Doch tief in mir wusste ich, dass ich das Richtige getan hatte. Von jetzt an war ich ein Outlaw.
ENDE