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Hilflos - eine Karriere
Mein Auftrag hier in der Firma wird recht erfolgreich in wenigen Wochen, ja eher fast schon Tagen enden. Nur muss ich noch einen festangestellten Mitarbeiter finden, der zumindest den Bereich der Buchhaltung übernimmt. Seltsamerweise kommen auf die Ausschreibung wenig geeignete Bewerbungen. Unter den wenigen Interessanten, die ich mir zur Vorstellung einladen werde, ist mir eine besonders aufgefallen, die zumindest in der Papierform ungewöhnlich wirkt.
Der Ton der Bewerbung sehr zurückhaltend, eine akademische Ausbildung, diverse Praktika und dann eine 27 Jahre dauernde Beschäftigung bei einer Firma und darin fünf oder sechs wechselnde Funktionsbezeichnungen deren weitere Angaben eine konsequente Thematik zeigten, dennoch keine Vorstellung dessen ergeben, was die fantasievollen, wohl dem angloamerikanischen Sprachkreis entstammenden Kürzel umfassen könnten. Es sind ungewöhnliche, nicht mit den bekannten Mustern ‚Manager xy‘, ‚Head of‘, oder ‚Chief of‘ irgendwas auch immer Begrifflichkeiten, aus denen jedoch mit einiger Fantasie Aktivitäten im Reporting und Analysetätigkeiten im Finanzbuchhaltungsbereich vermutet werden können. Den Herren muss ich mir natürlich anschauen, auch wenn er eigentlich etwas aus dem erwarteten Altersrahmen fällt, aber die geäußerten Gehaltsvorstellungen ungewöhnlicher Weise gut im firmenseitig gewünschten Rahmen blieben.
Nach Absprache mit der Geschäftsführung und der Personalleitung geht eine kurzfristige Einladung an die paar interessanten Bewerber raus, Info an die entsprechenden Stellen im Hause, damit Personalangelegenheiten problemlos verbindlich angegangen werden können.
Am Tage X sind zwei Gespräche bereits erfolglos verlaufen. Weder die Fachkenntnisse noch der persönliche Eindruck der Bewerber lassen auch nur eine entfernte Ähnlichkeit zur Papierform erkennen, Ansprüche zur Leitung wären mit nichts als dem Begriff Leiter begründet. Es wirkt, als wären die Bewerbungen von Dritten erstellt worden. Nächster wird der geheimnisvolle Kandidat sein. Die mich begleitende Personalmanagerin hat nach den bisherigen Vorstellungen erstmal einen überraschend neuen Termin wahrzunehmen – sie könnte mir ruhig sagen, dass sie nach zwei enttäuschenden Stunden einfach keine Lust mehr hat, hier nutzlos Zeit abzusitzen, zumal die beiden Favoriten eh erst am kommenden Tag dran sein werden.
Pünktlich zum vereinbarten Zeitpunkt trifft der Kandidat ein. Ich bin mehr als verblüfft. Ich weiß nicht ob es Ihnen auch schon mal so ergangen ist – vor mir steht ein perfekter dunkelgrauer Maßanzug, teure Schuhe, Budapester Schuhe, eine zum weißen Hemd und dunkelgrauem Anzug passsende unifarbene dunkelrote Krawatte - darüber ein fast gesichtsloses Paar Augen unter grau-schwarzem dünnem Haar – fast wie eine dieser gesichtslosen Schaufensterpuppen, bei denen zwei im flachen Winkel zueinanderstehende Flächen an Stelle des Gesichts den Kopf komplettieren. Eine leise, dünne Stimme antwortet mit „Ja, Guten Tag“ auf meine Begrüßung und Namensnennung. Der Maßanzug folgt meiner einladend wegweisenden Geste ins Besprechungszimmer. Kurze Abfrage auf dem Weg zu meinem Platz an den aufgestellten O-Saft, Wasserflaschen und Kaffeekannen vorbei, ob er etwas zu trinken möchte. Das beantwortet er leise mit „Hmmm, ein Wasser bitte“. Er bekommt sein Wasser, ich meine Tasse Kaffee und nun sitze ich ihm gegenüber.
Auch wenn ich ihm direkt in die Augen schaue bleibt sein Blick wie auch sein Gesicht leer und für mich ausdruckslos. Die Augenbrauen sind nur ganz schwach angedeutet, stumpfe Augen und wohl wenige Wimpern, eine kleine unauffällige Nase über zwei dünnen grauen Lippen. Es ist verwirrend, so gar keinen Gesíchtsausdruck erkennen zu können.
Der allgemeine Smalltalk zur Auflockerung werden mit einer monoton flachen Stimme eher einsilbilg erwidert, selbst offene Fragen, zum Beispiel wie denn die Fahrt war, wird knapp mit „ja“ beantwortet. Meinerseits erfolgt nun die Vorstellung der Firma, interessante Fakten die Erwartungen zur gestellten Aufgabe. Spreche ich so langweilig, dass mir gegenüber selbst die Wand bewegter erscheint? Mein Part ist zu Ende, „so weit also zur Aufgabe und wenn Sie keine weiteren Fragen dazu haben, würde ich von Ihnen gerne erfahren, wie und was Sie bisher in und seit ihrer Ausbildung gemacht haben. Es liest sich ja sehr interessant, aber ich konnte mit den Begriffen und Kurzbezeichnungen nicht so recht eine Vorstellung entwickeln, was das alles umfasst.“
Nun berichtet mein gegenüber von seinem Leben: den Eltern, Geschwister, Schule, Abitur, Studium und dann, es kommt etwas Stimme in die gleichförmige Erzählung, habe er drei Praktika gemacht. Er erläutert das Tätigkeitsspektrum des Ersten und warum ihm die Abteilung Verkaufsinnendienst nicht so zusagte, dann seine Praktikumstätigkeit im Lager- und Logistikbereich, ein wohl sehr verwirrender Eindruck, den er davon in Erinnerung behalten hat – und kommt dann zum dritten Praktikum im Rahmen der Finanzbuchhaltung und als Vorbereitungen für eine Vorstandssitzung musste er den Anteilsbesitz und Werte in Listung und graphisch darstellen.
Eigentlich möchte ich jetzt gerne einfallen und unterbrechen, dass das ja alles nur Praktika waren. Vielmehr würde mich seine bisherige berufliche Karriere interessieren – zögere aber doch, um den richtigen Zeitpunkt in dem ihn doch ersichtlich bewegenden und anstrengenden monotonen Monolog zu finden.
Da erhebt sich überraschend seine Stimmlage in Richtung Begeisterung, die Aufgabe habe er wohl so gut erfüllt, dass ihm der Vorstand direkt an allen Andern vorbei eine Anstellung nach dem Examen angeboten hat – egal wie das Ergebnis sein werde, veranlasste der zuständige Vorstand den sofortigen, vordatierten Einstellungsvertrag.
Das musste ja beeindruckend sein, schießt mir der Gedanke durch den Kopf und der Kandidat berichtet nun weiter, dass der Leiter der Finanzbuchhaltung nach Abschluss des Praktikums ihn freundlich verabschiedete. Aber bei seinem ersten Antrittstag wäre der völlig überrascht gewesen, dass eine Einstellung erfolgt war. Der Leiter habe ihn dann die damalige Listung komplettieren und aktualisieren lassen, noch drei weitere Auswertungen und Analysen über täglich anfallende Daten erstellen lassen, und das ab dann arbeitstäglich.
Er habe dann auch immer alles nachtragen müssen, wenn er mal erkrankt gewesen sei. Und die Stelle wäre seitens der Personalabteilung im Stellenplan erfasst, bewertet und eingefügt worden mit dem besonderen Vermerk der Wichtigkeit für den Vorstand. Da die entsprechenden routinemäßigen Gehaltserhöhungen wie auch die tarifliche Einordnung in sich stimmig sein mussten, kamen entsprechend neue Funktionstitel, deren Bedeutung der Kandidat ebenso wenig erklären konnte, wie mir diese Begriffe nichts sagten.
Seine Aufgaben wären jedenfalls die gleichen geblieben, zu Vorstandssitzungen fanden seine Ausarbeitungen immer gute Resonanz auch beim Abteilungsleiter. Selbst als der Vorstand nach ein paar Jahren wechselte, blieb es dabei, es war sein, und exklusiv nur sein Aufgabengebiet in der Firma, diese Anteilsbesitzliste zu führen. Beim Jahresabschluss hätte er das Lob der Wirtschaftsprüfer für die Ausführlichkeit und Korrektheit seiner Darstellung erhalten. Vorstand und Abteilungsleiter wechselten in den Jahren immer mal wieder, seine „dotted-line“ zum Vorstand als Stabsabteilung blieb. Die gehaltliche Entwicklung seiner Position war nun nicht sehr auffällig, um je besondere Beachtung zu finden. Er habe all die Jahre sein etwas abseits gelegenes Büro im Umfeld des Archivbereichs gehabt, von Zeit zu Zeit den Austausch seines PCs und den Zugang zu neu eingeführten Systemen bzw. bei Systemumstellungen Zugriffrechte zu den aktuell benötigten Informationen bekommen.
Als nun ein neuer Bereichsleiter Finanzen/Administration mit Zuständigkeit für die IT vor einigen Monaten eingestellt worden war, der das System erneuern und zukunftsgerichtet gestalten sollte, wäre dieser über den Umstellungsantrag für die Stelle gestolpert und hätte ihn als Erster in all den Jahren persönlich aufgesucht und befragt, was er wie und womit mache, von wem die Daten kommen und an wen er berichte. Der habe dann kurz mit dem Vorstand und dem Abteilungsleiter gesprochen. Nun sei die Stelle überraschend aus dem Stellenplan gestrichen worden, und deshalb sei er auf der Suche nach einer neuen verantwortungsvollen Aufgabe.
Zugegeben bin ich baff – überrascht. Vermutlich habe ich keinen besonders intelligenten Geschichtsausdruck aufgesetzt, als ich noch mal den Umfang seiner Tätigkeit wiederhole und abfrage, ob ich das richtig so verstanden hätte und welche weiteren Aufgaben noch mit seiner Stelle verbunden gewesen seien. Denn er hebt plötzlich die Augenbrauen, zögert etwas und irritiert schwenken seine Pupillen von links nach rechts und hin und her – ein flaches stimmlos fragend artikuliertes „Nein“ und verzögert „warum?“. Ich schwenke kurz in eine nett allgemeine Floskel, „ es hätte ja sein können“ und danke ihm aufatmend für seine Schilderung. „Wir werden uns dann bei Ihnen melden, ich werde über das Interview berichten, es stehen ja noch einige Gespräche aus, herzlichen Dank für Ihr Kommen und gute Heimfahrt.“
Der Kandidat verlässt den Besprechungsraum – und ich fühle mich zugegeben hilflos. Hilflos - war das eine Karriere? Habe ich das eben wirklich erlebt oder träume ich nur?
Aber vor der Tür sehe ich noch die Silhouette des Maßanzugs in den Aufzug verschwinden.