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Hilfe
Die Nacht besitzt die Kraft einen Menschen all das denken zu lassen, was er am helllichten Tag versucht hat zu verdrängen. Vermutlich stammt von daher jene schier unergründbare Angst vor dem Alleinsein bei Nacht, die einen zu ersticken droht. Erträglicher wird es in Grüppchen. Sie sorgen für Ablenkung, können aber die menschliche Festplatte nicht reinigen. Wieso sollte es auch einen leichten Weg geben?
In einem kleinen Restaurant, unweit einer Partymeile, hat sich eine solche Gruppe versammelt. Insgesamt sind es fünf Leute: Drei Frauen, zwei Männer. Küsse, Liebkosungen und kecke Blicke zeigen sofort, wer hier zu wem gehört. Dabei wird deutlich, dass die Frau in der Mitte niemanden hat. Ständig sieht sie auf ihre Uhr. Es ist spät, sehr spät sogar. Keiner am Tisch scheint ihren abwesenden Blick zu bemerken. Wie sollen sie auch, wenn sich jeder nur um sich selbst und sein eigenes Wohlbefinden kümmert? Keiner will das Leid der anderen Leute wahrnehmen. Welch herzlose Monster. Nur ich sehe ihre glasigen blauen Augen, die geschwollenen Tränensäcke, die tiefen schwarzen Ringe unterhalb ihrer Augen. Als wieder Leben in ihre Augen tritt lächelt sie sanft, tippt kurz auf ihre Uhr und sagt, dass sie langsam mal nach Hause müsse, da sie morgen einen wichtigen Termin habe, den sie unter keinen Umständen verpassen darf. Sie legt ihren geldlichen Anteil auf den Tisch, umarmt jeden ihrer Freunde und verlässt lächelnd das Lokal. Dass ihr Lächeln eine Maske ist erkennt, wie überraschend, niemand. Auch ich beschließe das Lokal zu verlassen und folge ihr unauffällig. Von meinem Standpunkt aus kann ich sehen, dass sie ihre Arme eng um ihren Oberkörper geschlungen hat. Verständlich, der Wind pfeift aus allen Löchern. Er schenkt mir ihren Duft und ihr Schluchzen. „Wie kann man nur eine solche Traurigkeit im Herzen tragen?“, denke ich und beschleunige gleichzeitig meine Schritte.
Ich weiß, dass sie mich bis jetzt noch nicht bemerkt hat, spüre es förmlich. Ich hebe meine Hand, damit ich ihre Schulter fassen kann. Ich würde sie herumdrehen und ihr sagen, dass sie von nun an nie wieder traurig sein muss, dass es von nun an jemanden gibt, der immer für sie da ist, der ihren Schmerz auf seinen Schultern trägt. Und dann würden wir uns umarmen, zu ihr gehen und uns unterhalten. Wie normale Menschen das eben machen. Ach, wie wäre das schön.
Stattdessen fühle ich wieder dieses Biest in mir. Es quetscht sich durch jede Spalte meines Körpers, nimmt mich voll und ganz ein. Ich fühle, dass ich voll und ganz erregt bin. Mein Atem wird schneller, als ich direkt hinter ihr bin. Ihr Duft kriecht in meine Nase. Himmlisch. Ich fasse sie an ihrer Schulter, drehe sie ruckartig um und lächel in ihr schockiertes Gesicht.
Als am nächsten Morgen über den Fund einer weiblichen Leiche im nahegelegenen Park berichtet wurde, saß ich in meinem Sessel und weinte bitterlich.