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Highscore
Highscore
Es fehlen nur noch dreihundert Punkte. Nur ein paar Mal nett lächeln, Türen aufhalten, grüßen und in finsterste Schließmuskel kriechen. Wird easy.
Meine Smartwatch vibriert kurz, wenn ich Punkte sammle. Wenn sie piept, ist das ein schlechtes Zeichen, dann habe ich welche verloren. Heute hat sie schon einige Male vibriert. Ich krieg das Grinsen kaum aus dem Gesicht.
Dreihundert Punkte nur noch und ich kann auf die Gala heute Abend. Dann steige ich zu Premium auf. Highclass.
Muss bloß noch schnell etwas Trockenfutter für Elfchen holen. Seit ich sie nur noch zwei Mal die Woche füttere, schläft sie viel mehr. Aber ich spare gut vierzig Punkte im Monat. Außerdem kann man auch einfach Zeit im Schlaf verstoffwechseln, sie sieht trotzdem aus wie eine Elfe.
Man kann sich sowieso fast nichts mehr leisten, es gibt nur noch sehr arm oder unglaublich reich. Dazwischen klaffen unmessbare Tiefen. Die Pandemie, der Krieg, jetzt die Wirtschaftskrise; Das alles hat unser Leben abgespeckt. Seit die Nato ein grenzübergreifender Staatsapparat geworden ist, wurde das Grundgesetz überarbeitet und Gas und Strom auf zwölf Stunden täglich rationiert. Und als ob das noch nicht gereicht hätte, wurden Smartwatches als Verhaltens-Tracker eingesetzt. Was während der Pandemie damals noch die Maske war, ist heute die Uhr. Ohne das Mistding ist man wie ein Geist, kommt weder in Geschäfte noch in öffentliche Verkehrsmittel. Werde ich auf der Straße ohne erwischt, droht Strafe. Heute ist das Lächeln meine Maske. Man will ja um jeden Preis Punkte sammeln. Wenn ich nur einen Typen in der Bahn schief angucke und sein Tracker registriert Stress, werden mir Punkte abgezogen. Das riskier ich nicht. Aber das Gute an der Sache ist, dass ich mich hocharbeiten kann. Ich will mehr. Ich will zur High-Society gehören. Mit mehr Ansehen kriegt man automatisch mehr Punkte. Also je höher der eigene Score, desto mehr Punkte gibt es. Ich bin schon seit Monaten auf dem besten Weg. Habe mir durch radikale Sparmaßnahmen eine gute Reputation erarbeitet. Die Klamotten, das Make-Up, die Haare, das Parfüm… Je besser ich auf andere wirke, desto besser werde ich bewertet, desto mehr steige ich auf. Ganz easy.
Vor mir an der Kasse steht ein dicklicher, lumpiger Kerl. Er scheint seine Punkte regelmäßig in Fernsehzeit und Essen zu investieren. Verschwendeter Lebensinhalt.
Ich mache einen Schritt zurück, damit man mich nicht mit ihm in Verbindung bringen kann. Dabei trete ich auf einen Fuß.
„Heyy was ist los??“ Wundert sich ein gut gekleideter Gentleman hinter mir. Die sind mir am liebsten, sieht man selten.
„Tschuldigung, der da stinkt mir.“ Sage ich ihm und positioniere mich so auf Augenhöhe.
„Ja, widerlich! Ist das nicht absolut widerlich, wie manche Menschen drauf sind? Die haben nichts übrig für Ansehen!“ Flucht der Gentleman, während er mir unter den Rock an den Arsch greift.
„Ist das nicht absolut ‘ne Frechheit?“ Sagt er und knetet meine Arschbacke richtig feste durch.
„Absolut!“ Ich lache übertrieben heftig. Meine Uhr vibriert wie blöde und ich krieg das Grinsen nicht aus dem Gesicht. Ich sehe zwar, wie der Speichel in seinem Mundwinkel schon Blasen schlägt, aber grinse fleißig weiter.
„Zweinsiebzich-fünfzich oder hunnertfümmneunzich Punkte.“ Will die gute Dame an der Kasse von mir.
„Ja sehr gerne. Und der Rest is‘ für Sie.“ Ich hab‘ ihr fünfzehn Punkte Trinkgeld gegeben, also 200 glatt. Und weil ich so clever bin und immer grinse, hat mir meine Uhr dafür fünfzig Moral-Punkte aufs Konto vibriert. Gutes Geschäft gemacht, auch wenn Katzenfutter die letzten zwei Jahre um fast tausend Prozent teurer geworden ist.
Aber Elfchen kann auch einfach Zeit verstoffwechseln.
Der Gentleman schaut mir hinterher und winkt freudestrahlend. Ich lächle und meine Uhr vibriert immer noch. Ich sehe meinen Punktestand. Die Grabscherei hat mir mehr als fünfhundert Punkte gebracht! Mir tut zwar der Arsch weh, aber das war’s wert.
Ich geh noch schnell in die Drogerie und hole mir grüne Kontaktlinsen. Die sind nur für die oberste Schicht erhältlich und richtig teuer. Man will jetzt eben Dinge die selten sind, und dazu gehören braune Augen einfach gar nicht.
Ich fummel meinen kurzen Rock wieder gerade, den hat der freundliche Gentleman ganz knittrig gemacht und hole mir die Kontaktlinsen.
Daheim angekommen stelle ich als Erstes fest, dass Elfchen nicht da ist. Ich mach das Küchenfenster auf, denn über die Dächer hat sie Freigang und kann rein oder raus.
Ich blicke mich im Spiegel an und ziehe diese furchtbare Uhr aus. Ich sehe fantastisch aus! Ich bin in Versace gehüllt wie die Rose im Morgentau, der Pudel im Lammfell. Ich habe es auf Pu-Pu gekauft. Das heißt Pump-Punkte. Die werden am Ende vom Monat abgezogen. Bis dahin sollte ich genug haben. Ich muss es nur schaffen, heute Abend auf die Gala zu kommen. Dann ist mein Ansehen premium und die Uhr wird vibrieren, bis mir die Hand abfällt.
Nachdem ich mich an Elfchens Abendessen bedient habe, mache ich mich auf den Weg. Draußen in der Gasse feiern die Primaten, mit Musik und um brennende Reifen. Wie kann man dabei bloß so einen Spaß haben? Die dritte Klasse der Titanic ist auch als erste ertrunken.
Die starren mich an. Mich in meinem Upperclass-Zwirn. Die starren in meine selten-grünen Augen. Ich kann die Ehrfurcht spüren und stolziere vorbei. Sie klatschen im Rhythmus meines Manolo-Blahnik-Gestöckels.
Die kleine Nayla kommt angelaufen und zupfelt mir am Rock.
„Elly Elly! Wann kommst du uns endlich mal wieder besuchen?“ Fragt sie ganz aufgeregt, aber ich schlage ihre Hand weg und laufe weiter. Wortlos. Das Kinn zum Hals, ein rechter Winkel.
Vorne an der Straße steht ein Ro-Cab. Diese selbstfahrenden Taxen sehen die Meisten nur von außen. Ich drängele mich an Frau Wisnewski vorbei, mein Score ist einfach höher.
„Elisabeth, bitte, nur das eine Mal! Ich muss dringend meine Medikamente holen, sonst leide ich höllische Schmerzen!“
Aber diese Gnade könnte mich um meine Gala bringen, also remple ich Sie weg und steige ein.
Ich sage dem Ro-Cab, wo es hinsoll und es fährt los. Ich sehe noch aus dem Fenster, wie die alte, traurige Frau Wisnewski dem Taxi nachläuft. Muss halt zu Fuß zur Apotheke.
Ich nehm‘ nochmal Augentropfen, bin keine Kontaktlinsen gewöhnt. Sie brennen und tränen.
Am Skyline Plaza angekommen, rieche ich schon den Duft der Erhabenheit. Das Piepen meiner Uhr wegen der Taxirechnung klingt fast sonatengleich. Ich schüttele meine Hände aus und atme tief durch; Gleich bin ich eine von Ihnen.
Gleich erhebe ich mich in neue Sphären feinster Gesellschaft. Die Elite, die Hautevolee, meine Zukunft.
Ich baue Körperspannung auf und eliminiere die letzten Überbleibsel jedwedes Straßenjargons in meinem Kopf.
Wenn ich dort hineingehe, werde ich eine von Ihnen sein, eine von der Upperclass. Ich werde Kontakte knüpfen, werde Schampus trinken und mit ihnen über Rationalisierungen lachen. Ab morgen werde ich vierundzwanzig/sieben Gas und Strom haben. Ab morgen wird Elfchen jeden Tag gefüttert.
Ich zupfel den Rock zurecht und auch meinen Blazer. Ich sehe aus wie ein Porzellanpüppchen aus dem letzten Jahrtausend.
Los geht’s.
Der Gorilla am Eingang scannt mich. Score von 92%, also lässt er mich rein. Gestern waren es ohne den Versace-Zwirn noch 77%. Im Eingangsbereich fängt meine Uhr an zu Piepen, aber wie. Mir werden Punkte für Einlass, Empfang, Schampus und Garderobe abgezogen. Fast ein Jahresgehalt. Ich bewahre Ruhe und lächle einfach gekonnt. Mein Score steigt auf 95% und meine Punkte fallen in Sturzbächen. Ich gehe zum Fahrstuhl und fahre ins Penthouse. Dort werde ich gleich mein neues Leben begrüßen, für das ich so hart gearbeitet und so viel hinter mir gelassen habe.
Ich trete aus dem Fahrstuhl in den großen Saal und bekomme das Grinsen kaum aus dem Gesicht. So viele Leute oberster Güte!
Von allem maßlos beeindruckt bekomme ich Schnappatmung, doch da muss ich aufpassen; Negativer Stress senkt meinen Score. Vom ersten Atemzug an muss ich dazu gehören.
Ich nehme dem Ober ein Glas Champagner vom Tablett. Er steht da wie versteinert. Es läuft sanfte Musik von Lucienne Boyer. Überall stehen kleine Grüppchen. Alle Leute sind bestens gekleidet. Vornehmer geht’s kaum. Ich habe den Olymp erklommen.
Ich schlürfe also durch die Leute, betrachte den Hochadel, doch ich muss mich wundern. Niemand spricht.
Sie stehen da, völlig befangen, naschen Hau d'oeuvre oder nippen am Cuvée.
Aber niemand spricht!
Es sind leere Gesichter. Kalte, herzlose Hüllen, die mich anstarren. Freudlose Gestalten ohne Menschlichkeit.
Als ich mich nervös zu einer kleinen Gruppe junger Damen geselle und sie begrüße, gehen sie wortlos weg und meine Uhr meldet sich.
Mir wird ganz schlecht und meine Uhr piepst mir Stück für Stück meinen Score weg. Was ist da los? Merken die, dass ich neu bin? Doch es dämmert.
Mir wird die Schwere der Situation bewusst und ich muss weinen. Du unglaublich armes Mädchen, bist niemals reich geworden. Ich renne zum Fahrstuhl zurück und fahre runter. Ich will ins nächste Ro-Cab springen, aber ein Paar wird mir vorgezogen. Mein Score ist nun bei 71%.
Ich steige ins Nächste und schreie „Nach Hause!!“. Die Uhr teilt piepsend den Standort mit dem Taxi und es geht los.
Die singende und tanzende Nachbarschaft feiert immer noch in unserer Gasse. Ich freue mich und lasse meinen Blazer im Auto liegen. Auf den letzten Metern zu Ihnen öffne ich meine aufwändige Frisur so gut es geht.
Erst seh‘ ich Nayla. „Na kleine Prinzessin? Da bin ich wieder!“
Sie dreht sich um und ignoriert mich.
Dann sehe ich Frau Wisnewski.
„Gute Nachbarin! Es tut mir so leid, so unendlich leid!!“ Ich entschuldige mich bettelnd. Sie sieht mit kalten braunen Augen durch mich hindurch und weint. Wortlos wendet sie sich von mir ab.
Ich fange an mit meinen Manolos zu klappern, aber niemand klatscht. Niemand sieht mich. Keiner will mich sehen.
In Tränen aufgelöst renne ich nach oben und will nur noch aus diesen furchtbaren Klamotten raus. Die scheiß-Uhr ausziehen, die Fassade einreißen, meinen Score nullen, Mensch sein.
Wieder ICH sein.
Ich laufe durch die Wohnung und ruf‘ nach Elfchen. Alle Räume abgeklappert, aber ich find‘ sie nicht.
Ich blicke aus dem offenen Küchenfenster über die Dächer zum Mond und mir wird klar; Elfchen kommt nie wieder.
Eine Minute reich, den Rest des Lebens ein Preis.
Vor dem Spiegel stehend schaue ich in meine grünen, leeren Augen; Ich gescheitertes Mädchen, krieg das Weinen kaum noch aus dem Gesicht.