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Hier habt ihr mein Leben.
„Nehmt es Euch, oder lasst es sein und macht damit, was ihr wollt.“
Ein Reisebericht
Auf einer Wanderung durch die Anden kamen wir an eine kleine Marienkapelle. Menschen haben sich in diese Einöde zurückgezogen, um nur ihrem Glauben zu leben. Wie klopften und Bruder Geronimo öffnete uns. „Kenn ich nicht dieses asketische Gesicht unter der häernen Kapuze?“, fragte ich mich. Richtig. Der Pater erzählte uns, dass er der frühere Senderchef eines einstmals für wenig zartfühlende Methoden bekannten TV-Kanals ist. Wie in aller Welt war er hierher geraten?
Das war so. Gerade, als er mal wieder im Puff eine Reportage darüber drehte, welches interessante Arbeitsfeld dort vor jungen Mädchen liegt, hatte er eine Marienerscheinung. Plötzlich, inmitten von den ganzen in Lack und Leder gehüllten Körpern, bei denen bloß die interessanten Stellen unbedeckt waren, stand sie vor ihm, mit dem Kind im Arm.
„Wenn du so weiter machst, wirst du wie dein Großvater“, bekam er zuhören. Von dem wusste man, dass er die letzten Jahrzehnte seines Lebens in geistiger Umnachtung in der Klapsmühle verbracht hatte. Davor war er lange Jahre Sensationsreporter.
„Kehr um, solange noch Zeit dazu ist.“ Er musste ihr geloben zu büßen. „Nach und nach wurden wir mehr“, erzählt er mir. Unter den Brüdern seien viele von den ehemaligen Kameraleuten und Aufnahmeleitern aus dem Team, erfahre ich.
Wir verabschieden uns von den Büßern und wünschten ihnen gutes Gelingen bei der Fortsetzung ihres frommen Werkes.
Er hat mich nicht erkannt.
Ich stehe mit leerem Blick vor dem Kühlschrank, öffne die Tür und gebe die Sicht frei auf ein aufgerissenes Päckchen A & P Salami und eine halbe Flasche Cola. Hiermit will ich also noch über die Woche kommen, und es ist erst Mittwoch. Trotz dieser schlechten Ernährungslage sehe ich alles andere als verhungert aus. Boshafte Gemüter würden jetzt denken: „Die soll doch an ihre Reserven gehen.“ Aber vielleicht gibt es bei der Tafel ja noch ein paar angestoßene Tomaten.
Die Kamera schwenkt in Großaufnahme auf meine Spüle, wo sich in einer Ecke frech eine Maus räkelt. Leute, die mich nicht leiden können und das sehen, reiben sich die Hände und stellen das Video der Sendung bei You-Tube rein.
Auch meine ehemaligen Klassenkameraden, mit denen ich Abitur gemacht habe, befällt bei meinem Anblick ein angenehmes Schaudern. Kurz und gut, ich bin gesellschaftlich erledigt. Aber das ist mir scheißegal.
Nachdem die Kameras ausgeschaltet sind, wird die chloroformierte Maus vorsichtig wieder in ihren Glasbehälter zurückgesetzt und aufbewahrt bis zum nächsten Drehtag.
Die Champagnerkorken knallen, und der bestellte Hummer wird geliefert, während die
A &P Salami, deren Farbe sowieso schon ins Grünliche tendiert hat, weiter einsam in meinem Kühlschrank vor sich hin modert.
Fickt euch, Ihr angestoßenen Tomaten von der Tafel. Jetzt wird gelebt. Das Kamerateam und ich lachen uns scheckig.
Während ich in einen Hummer beiße, muss ich über meine „Fans“ schmunzeln, die mich jetzt dabei vermuten, wie ich einsam und allein, griesgrämig über einen Teller Wassersuppe gebeugt, ohne Heizung und Strom im Kämmerchen von meiner sozialen Brennpunktwohnung sitze. „Träumt weiter, ihr könnt mich mal kreuzweise.“
Durch den Champagner werden wir übermütig und werfen Eier und Tomaten gegen die Wände, übrigens abgelaufene Eier von der Tafel. Das wird für den nächsten Drehtag geniale Aufnahmen geben. Die Zuschauer, in ihren aufgeräumten Wohnzimmern, werden ins Schaudern kommen und die Einschaltzahlen werden in die Höhe gehen.
In der Hitze des Gefechts geht das gläserne Terrarium mit der Maus kaputt, und sie kann entkommen. Wir lassen uns alle auf die Knie nieder und robben auf dem Boden rum auf der Jagd nach der Flüchtigen. Weit kann sie ja nicht sein, bei der Dosis Chloroform, die wir ihr verabreicht haben. Die Freude ist groß, als sie Rainer Maria, unser Regieassistent, endlich fängt. Bis zum nächsten Dreh in einer Woche setzen wir sie einfach, in Ermangelung von einem geeigneten Gefäß, in den leeren Kühlschrank.
Ich trete, mein Köfferchen in der Hand, flotten Schrittes durch das historische Portal des Frauenknastes in der Alfredstraße in Lichtenberg in die Freiheit. Auf der Straße wartet schon das Film-Team auf mich. „Ich habe was für euch“, sage ich, denn ich habe im Laubsägekurs Geschenke für alle angefertigt. Meine Zellengenossin durfte leider nicht bei uns mitmachen, denn sie gehörte zu den Verdächtigen in dem sogenannten Scheibchenmord.
Ich verteile die Frühstücksuntersetzer in Form eines Walfisches an alle.
Das Brettchen für den zweiten Kameramann habe ich besonders liebevoll gestaltet, da er mir ein Päckchen mit einer Knackwurst und einer Stange Zigaretten geschickt hatte.
Was war geschehen?
Einige Monate zuvor
Zwei Kontrolleure näherten sich mir in der Straßenbahn. „Ihren Fahrausweis bitte!“ Ich drängle mich zum Ausgang. „Bleiben sie bitte stehen.“ Es gelingt mir an der Haltestelle aus der Bahn zu springen. Aber der eine verfolgt mich. Als er mich eingeholt hat, trete ich ihn gegen das Schienbein, worauf er zurückbleibt. „Wiedermal Glück gehabt“, denke ich. Falsch gedacht.
Eine Kamera hatte mich aufgenommen. Wegen wiederholtem Schwarzfahren und Widerstand gegen Kontrollbeamte gaben sie mir drei Monate.
Leider hat das Team keine Drehgenehmigung vom Direktor erhalten. Das war deshalb, weil er noch pappensatt vom letzten Mal war, als sie mir beim Sprecher ein Handy eingeschmuggelt hatten. Ein Jahr ist das jetzt her.
Ich steige in die Straßenbahn, natürlich ohne Ticket. „Hast du keine Angst, dass du wieder erwischt wirst?“, fragen sie mich. „Ach was solls“, antworte ich und zucke mit den Schultern.
Eine Frau mit Schlapphut ist im nächsten Film zu sehen. Im Hintergrund die Mauergalerie. Ihren Oberkiefer ziert ein einziger Zahn, und darunter sieht es auch nicht besser aus. Ihr Alter ist unbestimmbar, aber besonders sticht ihre auffällig rote Nase ins Blickfeld des Zuschauers.
Das bin ich auch.
Vor mir ein Papierkorb, in dem ich drei Plasteflaschen erblicke. Ich angle sie raus und stopfe sie in meinen Stoffbeutel, in dem sich schon andere befinden. „Jetzt ist mein Abendbrot gesichert“, sage ich in die Kamera. „Berlin scheint ein hartes Pflaster zu sein.“ Diesen Gedanken kann ich in den Augen der vorbeischlendernden Touristen, die hier nicht weit von der Oberbaumbrücke sehr zahlreich zu finden sind, aufblitzen sehen.
Aus großen Augen kuckt mich eine Schulklasse an. Aus den Gesprächen entnehme ich, dass sie aus einer Montesorrischule in Bayern sind. Bestimmt werden einige was über mich schreiben, wenn sie später für den Lehrer mit dem ausgeleierten Pullover aus gelber Räufelwolle einen Aufsatz über die Klassenfahrt verfassen müssen. „Nicht so schlimm“, denke ich. „In Bayern kenne ich keinen.“
Ich stehe vor dem Flaschenautomaten im Supermarkt. Vergeblich versuche ich wieder und wieder eine Flasche in die Öffnung zu legen. Neben mir redet der Securitymann auf mich ein: „Diese Sorte nimmt der Automat nicht an. Sie müssen es woanders versuchen.“
Halsstarrig probiere ich es trotzdem immer weiter. Der Mann versucht mich wegzuzerren. Ich wehre mich. Flaschen klirren. Am Ende trage ich eine große Schnittwunde davon.
In der nächsten Einstellung komme ich mit meiner verbundenen Hand wieder in den Supermarkt zurück, für den man mir vier Wochen Hausverbot erteilt hat.
Der Securitymann hat ein schlechtes Gewissen und übersieht, dass ich eine Wodkaflasche in den ausladenden Taschen meines Mantels versenke. Auch die Verkäuferin an der Kasse, bei der ich einen Schokoriegel bezahle, hat das Hausverbot vergessen.
Der Grund dafür ist nicht christliche Nächstenliebe, sondern ihnen geht die Muffe, dass ich eine Anzeige wegen Körperverletzung mache. Das könnte den Markt teuer zu stehen kommen.
Ich möchte ich hier eigentlich mal ausnahmsweise nicht nur Kritisches über das sogenannte Armuts-TV schreiben.
Auf der einen Schulter der Filmleute sitzt ein Engelchen und rät: „Lass das lieber.“ und auf der anderen das Teufelchen, das ihnen ins Ohrflüstert: „Haltet mit der Kamera drauf.“
Den „bösen Buben“ vom Produktions-Team geht es wie Mephistopheles im Faust: „Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und manchmal auch was Gutes schafft.“* Jeder Klardenkende wird mir jetzt ´nen Vogel zeigen und fragen: „Was denn Gutes?“.
Aber immerhin wird ja auf die Situation von Leuten aufmerksam gemacht, die sonst unter den Tisch fallen.
Manchmal gelingen, wahrscheinlich meist ungewollt, ungeschminkte, ehrliche Momentaufnahmen von Menschen, die manchmal sogar die letzten von ihnen sind.
Das liegt auch daran, dass manche Protagonisten so ein starkes Eigenleben entwickeln, dass sie sogar das blöde Format sprengen.
Man ahnt, dass die freche Klappe einer Frau aus Luckenwalde bloß Fassade ist. Man nimmt Anteil wie bei dem Tod von jemandem in Altes Lager, der mir auf der Straße bloß als Suffkopp erschienen wäre und den ich jetzt aber ganz anders sehe. Ich möchte jetzt nicht dieses ekelige Wort Betroffenheit in den Mund nehmen.
Oder das Kumpeltrio in Weißenfels, einer Stadt im Süden Ostdeutschlands, aus der eine Freundin von mir und auch ein großer Philosoph stammen.
In einer Einstellung filmte die Kamera einen von ihnen, dessen Körper durch den Alkohol regelrecht ausgedörrt war, beim Gang durch die Stadt. Seine staksigen Beine, so dünn, dass sie einen an Stelzen erinnerten, erschienen in Großaufnahme dabei, wie sie unsicher, Schritt für Schritt und Fuß vor Fuß, Kontakt mit dem Straßenpflaster suchten, ähnlich wie die Beine einer Marionette an einem Faden.
Die Sendung ist immer gut, wenn die Leute vor der Kamera völlig offen reden, wie letztens als eine Alleinerziehende eingestand, dass sie keine Energie mehr hat, ewig nur zu kämpfen.
Hier bekommt man vor der Kamera vom Arzt Todesurteile verkündet, es werden aber auch Kinder vor der Kamera geboren. Im Kreissaal geht das Film- Team ja sowieso schon aus und ein.
Ich habe den Eindruck, viele sind froh, dass sich Jemand für ihre Situation interessiert. Den Intelligentesten unter ihnen ist schon klar, was ihnen blühen könnte, aber sie wagen trotzig die Flucht nach vorn. Ich habe mir mal geschockt die hasserfüllten Kommentare im Internet durchgelesen.
Ich selber habe an der Situation der Abgefilmten noch nie etwas Beneidenswertes entdecken können.
Meine Landsleute aus Rostock Groß Klein haben sich ebenfalls vom Drehteam bequatschen lassen. Meine gutmütige Landsmännin, die Rostockerin Sandra, ihre Kinder und ihre Hunde und Katzen, sind auch mit von der Partie in der Sendung über den Blockmacherring. Jetzt ist ihnen nicht nur allein das Jugendamt auf der Spur sondern auch noch das Veterinäramt, das alle Tiere einkassiert hat.
Ich habe auch nie begriffen, warum die Leute vom Sender, wenn sie schon die Leute bloßstellen, ihnen bei Schwierigkeiten nicht wenigstens juristische Hilfe anbieten. Die Filmproduktionen haben ja alle ihre eignen Anwälte.
Dadurch könnten sie sich bei denen revanchieren, die ihnen durch ihre Auskunftsbereitschaft ihren Lebensunterhalt sichern. Denn das Jobcenter kuckt auch mit. Stattdessen lassen sie sie ins offene Messer laufen.
Dagegen scheint dem Rollstuhlfahrer Kowalski aus Groß Klein das Interesse an ihm sichtlich gut zu bekommen.
Die Besseren unter den Machern der Sendung werden schon manchmal heftig mit Gewissensbissen zu kämpfen haben.
Es ist auch makaber, wenn man den Eindruck hat, dass die Gefilmten das Team für ihre Freunde zu halten beginnen, was ja natürlich absolut nicht der Fall ist. Das wird noch ein böses Erwachen geben.
Persönlich kenne ich auch jemanden, dem übel durch so ein Format mitgespielt wurde. Ich traf sie in einem Kiezcafe.
Aus Naivität und für kleines Geld ließ sie sich bereden, ihre ziemlich unaufgeräumte Wohnung filmen zu lassen. Drei Putzkräfte brauchten angeblich acht Stunden um dort Ordnung zu machen. Natürlich spotteten alle ihre Bekannten über sie, obwohl die meisten, die sich in diesem Café aufhielten, auch nicht besser waren.
Die Geschichte dahinter, über die sich die, die dieses Machwerk verbockt haben, bestimmt keine Gedanken gemacht haben, ist, dass sie ein Opfer der berüchtigten Jugendwerkhöfe ist, die Bezeichnung Kinderknäste würde es eher treffen.
Sie und ihre Geschwister wurden jahrelang vom Vater missbraucht, fielen dadurch in der Schule wegen abweichendem Verhalten auf und wurden in solch eine Einrichtung gesperrt, wo sie ihr noch den Rest gaben. Man machte es sich leicht im Arbeiter- und Bauernstaat.
Ich hatte meinen Beitrag auch schon an eine Straßenzeitung geschickt, aber keine Antwort erhalten. Wahrscheinlich haben sie das völlig falsch verstanden und alles wortwörtlich genommen. Hätte ich irgendwelchen rührseligen Firlefanz geschrieben, wäre es bestimmt veröffentlicht worden. Oder sie wollten es sich nicht mit dem Sender verderben, denn die sitzen am längeren Hebel und haben die besseren Anwälte.
Der obere Teil ist natürlich als Persiflage gemeint auf diese unsäglichen Sendungen, wobei nicht die in den Filmen gezeigten Leute durch den Kakao gezogen werden sollen, sondern das verlogene Format. Ich finde, es wird dort schon genug auf die Tränendrüsen gedrückt. Das brauche ich nicht auch noch zumachen.
Aber wenn man soviel Scheiß auf einmal sieht, dann muss man einfach kontern.
*Zitat sehr frei wiedergegeben