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Eine kurze Geschichte, die dir hoffentlich etwas Unterhaltung bieten kann.
Viel Spaß beim Lesen!
"Hey, du"
Ich liebte unsere jährlichen Ausflüge in die Berge. Mein guter Freund Robert und ich pflegten diese mittlerweile als eine Art heiliges Ritual und ich war schon Wochen bevor wir uns in meinem alten, klapprigen VW Golf auf den Weg machten, erfüllt von kindischer Vorfreude.
Wir genossen das Privileg, dass Roberts Vater eine gemütliche Einzimmerwohnung in unserem heiligen Ort der Ruhe namens „Straat“ von seinen Eltern geerbt hatte. Er selbst war mittlerweile zu alt und krank, um noch regelmäßig dort hinzufahren, doch wir führten seine Familientradition weiter fort.
Nun waren wir auch dieses Jahr wieder dort, in der Berglandschaft, die ich nur allzu gerne vergleiche mit dem Auenland aus „Herr der Ringe“. Ja, ich denke das beschreibt ganz gut, welch bildschöne Natur einen dort regelrecht vereinnahmt und mich beinahe gänzlich alle lästigen Probleme des verzehrenden Alltags vergessen ließ.
Wir verbrachten unsere Zeit dort hauptsächlich mit Bergsteigen. Abends, oft erschöpft doch zufrieden von den Errungenschaften eines gelungenen Wandertages in den mächtigen Gebirgen, kehrten wir in einem gemütlichen Restaurant ein. Wir spielten Karten, aßen königlich und tranken hier und da auch gerne mal einen über den Durst.
Die Redewendung „hier und da“ traf eigentlich nur auf meinen lieben Freund zu, denn ich war damals schon, mit zarten 23 Jahren, ein gestandener Alkoholiker und trank täglich. So kam es nicht selten vor, dass sich der Abend, mit meinem fortschreitenden Alkoholpegel, in eine regelrechte Zumutung für meinen Freund entwickelte. Ich wurde gesprächiger, während die Qualität meiner Worte mit jedem Schluck rapide abnahm. Wenn der Alkohol schließlich auch die letzten Windungen meines Gehirns für sich beansprucht hatte, verhielt ich mich wie ein verzogener Grobian und belästigte mein gesamtes Umfeld. Dies hatte oft zur Folge, dass wir, unter lauten Verwünschungen des Personals und der Gäste, aus den gemütlichen Etablissements geworfen wurden, mit der ausdrücklichen Bitte, sich hier niemals wieder blicken zu lassen.
Auch der Abend, von dem ich hier nun berichten werde, war einer von diesen. Und obwohl ich mich nach solch exzessiven Saufgelagen normalerweise schon am nächsten Morgen nicht mehr an die gestrigen Ereignisse erinnern konnte, ist mir das Folgende doch zum Großteil im Gedächtnis geblieben.
Nachdem wir in gewohnter Manier aus einem Restaurant geworfen worden waren, befand ich mich in solch trunkener, aufgebrachter Stimmung, dass ich meinen guten Freund dafür verantwortlich machte, obwohl es zweifellos meine Schuld gewesen war.
Mir selbst einen Fehler einzugestehen, wäre mir in dieser Verfassung allerdings nicht im Traum eingefallen. Und als er dann auch noch eine Entschuldigung, für meine ausfallende Art ihm gegenüber, verlangte, drohte das Fass überzulaufen. Zwar konnten wir eine ernsthafte körperliche Auseinandersetzung noch gerade so vermeiden, doch nach einem kleinen Handgemenge und unzähligen Verwünschungen meinerseits, trennten sich unsere Wege.
Ich war so wütend, dass ich einfach zu laufen begann, ohne mir dabei Gedanken zu machen, wohin mich meine Schritte trugen. Als wir aus dem Restaurant geschmissen wurden, hatte ich während eines kurzen Gerangels mit den Kellnern, einem von ihnen noch die Schnapsflasche entrissen, die er einem anderen Gast an den Tisch bringen wollte. Diese trug ich nun bei mir, als wäre sie alles, was ich auf dieser Welt noch besaß.
„Sollen sie mich doch alle hassen und verstoßen“, redete ich vor mich hin, während ich die Flasche betrachtete, als wäre sie ein Mensch „Wir bleiben uns treu.“
Feierlich hob ich sie zum Munde und trank auf meinen Schwur. Eine warme Träne rann mir dabei über die Wange, denn ich war mir selbst in meinem volltrunkenen Zustand der traurigen und schmerzlichen Wahrheit bewusst. Ich war ein armseliger, bemitleidenswerter Trinker und hatte es soeben geschafft hatte, dass sich auch der letzte verbliebene Freund von mir abgewandt hatte.
Das nun aufkeimende Gefühl von Einsamkeit vermochte ich nur noch im Rausch zu ertränken, so hatte ich es schon mein halbes Leben gemacht. Und das tat ich. Ich lief ziellos durch die dunklen, ruhigen Gassen dieses wunderschönen Ortes, der mir nun so finster und erdrückend erschien, und leerte mir den bitteren Schnaps mit großen Schlücken in den nimmersatten Schlund. Dabei sang ich laut vor mich hin, zündete mit einer Zigarette die nächste an, und war mir mittlerweile gar nicht mehr bewusst, wo ich überhaupt war. Auch war mir, seit ich mich von Robert getrennt hatte, keine Menschenseele mehr begegnet.
Scheinbar bin ich wirklich die verlassenste Seele auf dieser gottverfluchten Erde, dachte ich.
Ich lief und ich trank. Immer und immer weiter, bis ich schließlich in eine schummrig beleuchtete Gasse bog und erstarrte.
Durch den dichten Schleier vor meinen Augen schien sich mir plötzlich die Pforte zum Himmel aller einsamen Betrunkenen zu öffnen. Auf dem schmalen, gepflasterten Weg, den ich, wie mir nebenbei auffiel, noch niemals gesehen hatte, obwohl ich dieses Dorf damals in und auswendig zu kennen glaubte, stand im orangefarbenen Licht einer Straßenlaterne eine Frau.
Sie trug lediglich eine verwaschene Jeanshose und eine rote Bluse, nichts auffallend Hübsches. Doch das schlichte Outfit lenkte meine Aufmerksamkeit beinahe voll und ganz auf ihr wunderschönes Gesicht, auf ihre langen blonden Haare, die sie zu einem Zopf nach hinten gebunden hatte. Lässig lehnte sie an der Hauswand, hatte eine Zigarette im Mundwinkel und in einer Hand hielt sie den heiligen Gral; eine Flasche Schnaps. Obwohl ich sie gestochen scharf vor meinen Augen sehen kann, wenn ich an sie denke, vermag ich weder ihre Schönheit, noch das Gefühl, das sie in mir auslöste, richtig zu beschreiben. Sie lehnte einfach dort, mit einer Flasche süßer Versuchung in der Hand und war wunderschön. Mein Herz schmolz dahin, als sie mich ansah, lächelte und, als ob sie mich schon erwartet hätte, mit verzaubernder Stimme sagte: Hey, du“
Mehr brauchte sie nicht zu sagen, denn es war um mich geschehen. Ich lief auf sie zu und wir umarmten uns sofort, als wären wir alte Freunde, dabei waren wir nur zwei einsame Betrunkene, die in einem Fremden fanden, was sie im Moment am Meisten brauchten: einen Trinkgefährten.
Wir setzten uns zusammen unter die Laterne, teilten uns das bittere Gift und waren uns nahe. Mein Gefühl von Einsamkeit war in den Untiefen ihrer lachenden, grünen Augen verschwunden und die Zeit schien für einen Moment still zu stehen.
Wir unterhielten uns über Gott und die ungerechte Welt, über verlorene Freunde, zerbrochene Liebe und über die glorreichen Taten, die wir auf diesem Planeten noch vollbringen würden.
In Gedanken stellten wir uns schon unseren Familien vor und schlenderten durch einen mit Bäumen gesäumten Garten, den wir uns zulegen würden, wenn wir denn erst einmal verheiratet waren.
Wir eroberten die sieben Weltmeere, wie Anne Bonny und Jack Rackham.
Noch nie zuvor in meinem Leben fühlte ich mich so stark zu einem anderen Menschen hingezogen. Ich wollte sie berühren und schmecken, am liebsten wäre ich in sie hineingekrochen, um mit ihrer warmen Seele zu verschmelzen und auf immer eins mit ihr zu sein.
Wir schliefen miteinander auf den warmen Pflastersteinen, in diesem wunderschönen Dorf "Straat".
Das laute Knacken eines brechenden Astes riss mich aus den schwarzen Fängen meines traumlosen Schlafes. Ich brauchte mehrere Minuten, bis ich, wenn auch verschwommen, etwas wahrnehmen konnte. Erst waren da nur die stechenden Kopfschmerzen, die meinen schweren Schädel beinahe zerspringen ließen. Doch dann, langsam aber sicher, schälten sich die Umrisse meines eigenen Körpers, der wie leblos auf der Seite zu liegen schien, aus dem nebligen Dunst vor meinen Augen. Ich war völlig nackt.
Noch konnte ich mich nicht vollends bewegen, doch unter großer Anstrengung schaffte ich es schließlich meine Beine anzuziehen und meinen Oberkörper unter Schmerzen vom Boden weg zu stemmen. Ich kauerte nun auf meinen Knien, mein Brustkorb sackte willenlos nach vorne auf meine Oberschenkel, sodass ich beinahe mit meinem Kopf in den schlammigen Boden klatschte. Minutenlang verweilte ich in dieser Position und konzentrierte mich darauf meine Kräfte zu sammeln, als mir ein durchdringender, metallischer, widerlicher Gestank aus der Erde ins Bewusstsein trat. Dieser Gestank war mir nur allzu bekannt, hatte ich ihn, in meinem verzerrten Dasein als Trinker, doch schon allzu oft vernommen. Es war der Gestank von frisch geronnenem Blut, vermischt mit dem Duft von aufgewühlter Erde.
Mein Herz fing an schneller zu schlagen und pumpte nun endlich genug Blut in mein Gehirn, um es zum arbeiten zu bringen. Dass ich splitterfasernackt auf kaltem Erdboden kauerte, wurde mir erst jetzt wirklich bewusst. Sofort schossen mir in schneller Reihenfolge drei Gedanken durch den Kopf. Wo war ich? Wo war die Frau, mit der ich doch eben noch unter der orangefarbenen Laterne gesessen hatte? Und warum roch es hier nach Blut? Üblicherweise war es meins, dessen Geruch ich am Morgen nach einer durchzechten Nacht in der Nase hatte, doch dieses roch anders. Es war süßlicher und roch irgendwie verdorbener. Und wo zum Teufel war die Frau?
Der Groschen fiel spät, aber er fiel.
Unaufhaltbar knüpften meine Gedanken die schlimmstmögliche, doch logische Verbindung dieser zwei Fragen und ich spürte wie mir das Blut in den Adern gefror.
Um mich herum war es stockfinster, sodass ich, selbst wenn ich meinen Kopf hätte anheben können, nichts als absolute Schwärze wahrgenommen hätte.
Doch das wollte ich auch gar nicht. Ich traute mich nicht mehr aus meiner Körperposition heraus, denn mich graute es vor dem Anblick, der mich erwarten könnte, wenn ich den Kopf hob. Es war, als wäre ich in dieser Haltung festgefroren.
Unter der schützenden Hand der Ungewissheit verweilte ich für Stunden, während es um mich herum immer heller und wärmer wurde. Auf einer entfernten Straße konnte ich bald vereinzelt das Hupen von Autos vernehmen. Die Welt schien erwacht zu sein und alles um mich herum ging seinen gewohnten Gang, doch ich verharrte mit geschlossenen Augen und dem Brustkorb auf meinen Knien über dem Erdreich.
Der Gestank wurde indes immer bestialischer und ich konnte hören, ja förmlich spüren, dass sich etwas vor mir bewegte. Etwas begann geschäftig zu arbeiten, sich zu verändern, zu verformen. Vor meinem inneren Auge sah ich Ratten, die sich auf der Suche nach den besten Stücken durch die Eingeweide eines Menschen fraßen. Durch ihre Eingeweide, ich war mir sicher, doch noch zögerte ich die vernichtende Gewissheit hinaus. Die anfängliche Wärme entwickelte sich zu einer erdrückenden Hitze und der Gestank wurde schier unerträglich, doch ich bewegte mich keinen Zentimeter. Ich war gelähmt, festgefangen in meiner irrwitzigen Hoffnung, nur lange genug hier aushalten zu müssen, um dem zu entgehen, was vor mir lag.
So verharrte ich in dieser Position geschlagene zehn Stunden bis ich von einer Spaziergängerin, nahe eines Wanderwegs, zwischen den Bäumen, entdeckt wurde. Nur der liebe Gott selbst weiß, wie ich hier her gekommen war. Ihr gellender Aufschrei bei meinem Anblick und dessen, was unmittelbar vor mir lag, verfolgt mich noch bis heute.
Selbst bei der Festnahme durch die Polizei, gelang es mir in meiner abwärtsgeneigten Position zu verharren und mich dem grauenhaften Anblick zu entziehen, der später in den Medien als „die vollständige Entmenschlichung eines weiblichen Körpers“ beschrieben wurde.
Vor Gericht zeigte man gestochen scharfe Bilder ihrer übel zugerichteten Leiche und ich konnte hören, wie sich die Menschen im Saal übergaben. Sie schrien und verklagten mich wütend als die Verkörperung von allem Bösen.
Ich selbst habe noch immer nicht das Grauen gesehen, das ich dieser wunderschönen Frau antat, denn der Mensch ist in seinem Selbstschutz und im Verdrängen unübertroffen. Und so bin ich noch heute, zweiundvierzig Jahre später, in meiner abwärtsgeneigten Körperhaltung gefangen.
Doch ich sehe sie jede Nacht. Sie lehnt an meiner Zellenwand in dem Schein einer Laterne, der durch das vergitterte Fenster fällt.
Mit durchdringendem Blick sieht sie mich an und ihre blassen Lippen formen lautlos die Worte: „Hey, du!“