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Hexenkind
Tayo hatte ein Auge zusammengekniffen. Mit dem anderen linste er durch einen Spalt in der Bretterwand ihrer Hütte. Der Geisterheiler des Dorfes legte seinem Vater einen kleinen Beutel an einem Riemen um den Hals.
„Es ist wahr, was du glaubst, Owanga. Dein jüngster Sohn ist der Grund für das Unheil, das dir widerfährt“, sagte er. „Ein Junge aus der Nachbarschaft hat ihn mit einem vergifteten Reisbrei verhext. Das ganze Dorf redet darüber. Niemand wagt sich mehr in eure Nähe.“ Er murmelte leise und warf Hölzer und Muscheln auf eine geflochtene Matte.
Ein Weinkrampf schüttelte Owanga.
„Meine liebe Kianga, meine liebe Neyla“, presste er hervor.
Tayos Augen füllten sich mit Tränen.
„Ich bin nicht verhext“, wollte er schreien, „ich habe Mama und Neyla geliebt und das tue ich immer noch.“ Er atmete in schnellen, kurzen Stößen durch zusammengebissenen Zähne. Er vermisste seine Mutter und seine kleine Schwester. Seit sie gestorben waren, fühlte er sich allein. Seinen Vater erkannte er seitdem nicht wieder, er erschien ihm wie ausgewechselt. Er redete nicht mehr mit ihm und vermied es, ihn anzuschauen. Tayo verstand das nicht und es bedrückte ihn. Wenn er vom Feld kam, lief er in den Verschlag hinter der Hütte und verbrachte Stunden in trauriger Erinnerung. Dann sah er Neyla vor sich, die mit ihrer Puppe plapperte. Er war auf dem Markt von Schneider zu Schneider gelaufen und hatte um Stoffreste gebettelt, aus der Mama sie genäht hatte.
Angespannt krümmte er die Finger und kratzte mit den Nägeln über die Hüttenwand. Der Heiler drehte den Kopf und blickte mit verkniffenen Augen in die Richtung des schabenden Geräusches. Tayo zuckte zurück, schnellte in die Hocke und lehnte gegen die Bretterwand. Mit eingezogenem Kopf horchte er und blickte mit hochgerissenen Lidern zur Eingangstür. Doch nichts geschah. Zögernd erhob er sich und lugte wieder durch den Spalt.
„Der Pastor hat deinen Sohn der Zauberei beschuldigt. Er benutzt seine magischen Fähigkeiten, um dir und den Dorfbewohnern zu schaden. Die schlechte Ernte, der unerklärliche Tod deiner Familienangehörigen, die Verletzung von Ngabas Sohn, die Dorfbewohner fürchten sich vor ihm.“
„Er war von klein auf frech und widerspenstig“, flüsterte Owanga mit schütterer Stimme.
„Du musst ihn zum Pastor bringen und seine Dämonen austreiben lassen.“
„Eine Zeremonie kostet zwanzigtausend Franc. Wie soll ich die Beschwörungen bezahlen? Wir haben kaum noch genug, um satt zu werden“, hauchte Owanga und schlug die Hände vor das Gesicht.
Der Heiler legte getrocknete Pflanzen vor ihm auf den Boden und zündete sie an.
„Der heilige Rauch wird die Dämonen aus deiner Hütte vertreiben. Du musst dich zu Gott bekennen und deinen Sohn verstoßen, damit er dich durch seine Zauberei nicht noch tiefer ins Unglück stürzt. Er darf deine Hütte nicht mehr betreten.“
Owanga nickte hinter den Händen.
„Ich werde mich um seine Heilung kümmern und die Rituale durchführen, um den Fluch über ihn zu brechen“, fuhr der Heiler fort. „Wenn ich die Dämonen aus ihm vertreiben kann, werden wir einen Weg für dich finden, um deine Schuld zu begleichen. Wenn er sich aber als unheilbar erweist“, er machte eine Pause und zog die Brauen hoch, „dann darf er nicht weiterleben. Auch das werde ich dir abnehmen, wenn du mir seinen Körper überlässt.“ Er blickte erneut zu dem Spalt in der Holzwand.
Tayo schreckte zusammen und stakste rückwärts. Mit aufgerissenen Augen blickte er auf den Spalt. War er wirklich ein Hexenkind? Er hatte doch nichts getan. Manchmal log er und er hatte auch schon gestohlen, aber er spürte nichts Böses in sich.
Er kannte die Geschichten über die verfluchten Kinder. ´Hütet euch vor den Hexenkindern´, predigten die evangelischen Pastoren. ´Sie sind die Verkörperung des Bösen.´ Die Pastoren verkauften geweihte Kerzen und Pulver, das bedrohende Dämonen vertrieb.
Hexenkinder durfte man nicht berühren, sonst sprangt der böse Zauber über. Sie bringen die Menschen mit ihren Sprüchen um und essen das Fleisch der Toten.
Ein dumpfes Poltern in der Hütte schreckte Tayo aus seinen Gedanken. Er rannte zur Rückseite der Hütte und verkroch sich in dem niedrigen Verschlag mit dem Vorrat an Kochholz. Mit gebeugtem Kopf weinte er zwischen seine angezogenen Beine, die er fest umschlungen hielt. Seine Tränen tropften auf die nackten Füße. Er schniefte und rieb sich mit den Handrücken über die Augen. Tayo erinnerte sich an seine Freundin Nwaekwas, die nur wenige Hütten entfernt wohnte. Sie spielten oft Kalaha miteinander und fast immer hatte Nwaekwas am Ende mehr Bohnen er als er. Auch sie fehlte ihm sehr. Als sie vom Pfarrer zurückkam, war sie abgemagert und alle Freude war aus ihrem Gesicht gewichen. Ihr Vater trieb ihr einen Nagel in den Kopf, wurde gesagt. Auch sie war eine Hexerin, doch Tayo hatte das nie geglaubt. Sie war seine beste Freundin und auf eine unverständliche Weise fühlte er sich ruhig in ihrer Nähe. Er blickte mit verquollenen Augen auf, als jemand sein Fußgelenk fasste. Der Heiler hatte ihn gepackt, blickte ihn mit weiten Augen an und zerrte ihn hinaus. Tayo versuchte, sich an einem Pfosten des Verschlags festzuhalten und trat ungelenk mit den Füßen, um sich aus dem festen Griff zu befreien. Dann bekam er einen Holzscheit in die Hand und schlug blindlings zu. Der Heiler ließ ihn los und taumelte zurück. Er fasste sich an die Stirn, auf der eine klaffende Wunde blutete. Er zog die Hand zurück und starrte wütend auf seine blutverschmierte Handfläche.
„Du verfluchter Zauberer“, schnaubte er. „Ich werde den Teufel aus dir herausprügeln.“ Tayo sprang auf und rannte zu seinem Vater, der eingesunken an der Ecke der Hütte stand. Auch drei Dorfbewohner hatten sich eingefunden, die erschrocken zurückwichen.
„Vater, ich bin kein Hexer“, sprudelte es aus Tayo heraus. „Ich habe niemandem etwas Böses getan. Warum glaubt ihr das von mir?“
Owanga Gesicht war wutverzerrt. Er schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht.
„Ich verstoße dich“, krächzte er. „Verschwinde von meinem Hof und lass dich nie wieder hier sehen.“
„Er stürzt uns alle ins Unglück“, keifte die greise Nachbarsfrau und hob einen Stein vom Boden auf. „Du hast meinen Enkel blutig geschlagen, du Hexer“, schrie die Greisin und warf den Stein nach ihm, der ihn an der Schulter traf. Tayo verzog das Gesicht. ´Es war nur eine unserer Rangeleien´, dachte er. Das Auge von Saja schwoll an, aber es hatte kaum geblutet.
Der Heiler schlug ihm von hinten an den Kopf und griff seinen Oberarm. Tayo drehte sich benommen unter seinem Arm hindurch, wandte sich aus dem Griff und rannte kopflos in das angrenzende Hirsefeld. Seine Füße stampften im Rhythmus seines Herzens, als er durch das Feld irrte und zu Boden fiel. Mit hämmerndem Kopf unterdrückte er seinen Atem und starrte hinter sich zurück. Neben ihm raschelte die Hirse und das Geräusch entfernte sich. Tayo biss sich auf die Lippen und versuchte so leise wie möglich zu atmen. Er lauschte dem Geräusch nach bis er es nicht mehr vernahm. Hechelnd rang er nach Luft.
´Warum ich?´ dachte Tayo. ´Warum brachten mich meine Eltern zur Welt, wenn sie mich allein lassen? Ich möchte wieder die guten Tage mit Mom und Neyla zurück. Wo soll ich denn hin?´ Er senkte den Kopf und verzog die Lippen.
Tayo erinnerte sich an Nwaekwas Großmutter. Sie war die Einzige, die ihre Enkelin verteidigte, als sie beschuldigt wurde, verantwortlich an dem Tod der Nachbarziegen zu sein. Die Ziegen ihrer eigenen Familie, die sie hütete, waren zuvor auf die gleiche Weise gestorben. Sie zuckten stundenlang und fielen dann zu Boden. Er sah Großmutter Igwe vor sich, wie sie vor der Hütte des Heilers wütend schimpfte und ihn und die Kirche beleidigte. Dafür wurde sie aus dem Dorf verstoßen. Damals hatte Tayo beschämt weggeschaut. Nun tat es ihm leid. Er kniff mit den Fingern immer wieder in seine Knie und entschloss sich, zu ihr zu laufen. Ihre Hütte lag am Rande des Buschs, einen Fußmarsch von einer Stunde entfernt.
Tayo lauschte angestrengt nach Knistern und Rascheln in seiner Umgebung und wartete lange, bis er sich überwinden konnte, vorsichtig durch das Hirsefeld zu laufen. Zaghaft schob er die Pflanzen beiseite und hoffte, dass nicht das Dorf vor ihm erscheinen würde. Das Feld lichtete sich und seine Brust begann zu beben. Tayo erkannte, wo er sich befand und rannte los. Immer wieder blickte er sich um und wurde erst langsamer, als er kaum noch atmen konnte.
„Großmutter Igwe“, rief Tayo, als er vor ihrer Hütte stand, dessen krumme Äste mit Schilf und Blättern verflochten waren. Er wartete einen Moment und wollte erneut rufen, als die Schilfmatte im Eingang zur Seite gehoben wurde. Großmutter Igwe hatte ein grobes, blass rotes Tuch um den Kopf gebunden. Ihr Gesicht schien nur aus Falten zu bestehen. Zwischen ihren mageren Fingern rauchte eine dünne Cheroot-Zigarre.
„Tayo“, sagte sie leise. „Was führt dich so weit fort vom Dorf?“
Tayos Augen wanderten hin und her, er fand keine Worte. Dann schoss es aus ihm heraus.
„Vater hat mich verstoßen. Er hat gesagt, das ich ein Hexer bin und der Heiler hat mich geschlagen und wollte mich mitnehmen. Ich hab Mama nichts getan und auch Neyla nicht und sie haben Steine nach mir geworfen und der Heiler sagt ..“
„Ganz ruhig, mein Junge.“ Großmutter Igwe strich ihm mit der Handfläche über das kurze Haar. Ihre Augen bekamen einen gefühllosen Ausdruck, als sie die Umgebung ihrer Hütte musterte. „Komm erst mal herein.“
Tayo trat in das halbdunkle Innere der Hütte. Über einem Bettgestell lag eine alte Decke und darauf zwei Kissen. Dem gegenüber standen Töpfe, ein paar Dosen und Kanister neben drei Steinen zwischen grauer Asche.
Großmutter Igwe setzte sich auf das Bett, nahm einen Zug von der Zigarre und klopfte auf die Decke neben sich.
„Setz dich und erzähl.“ Ihr besänftigendes Lächeln beruhigte Tayo. Er nahm neben ihr Platz.
„Mama und Neyla haben Wasser vom Fluss geholt. Und dann hat man sie tot am Fluss gefunden. Und dann wurde die Ernte schlecht und ich habe Jay-Jay beim Toben verletzt und der Heiler sagt, das ich schuld bin und die Leute im Dorf auch. Aber ich habe doch nichts getan. Bin ich wirklich ein Hexer, Großmutter?“ Tayo blickte verstört zu ihr auf.
„Nein, Tayo. Das darfst du nicht glauben.“ Sie schüttelte den Kopf.
„Ich möchte zurück zu Papa“, sagte Tayo leise.
Großmutter Igwe fuhr sich mit der Hand über das Gesicht schlug die Augen nieder.
„Das ist nicht möglich, mein Junge.“ Sie beugte sich vornüber, drückte die Glut der Zigarre in den Erdboden und atmete geräuschvoll aus.
„Warum nicht?“
„Sie werden dir weh tun oder dich erschlagen. Der Glaube an Hexerei ist schon sehr alt. Viele machen Hexer und Zauberer für ihr persönliches Elend verantwortlich. Sie glauben, das ihre Not Unheil ist, das durch Teufel und Hexen verursacht wird. Sie suchen sich einen Schuldigen, um Dinge zu erklären, die sie nicht verstehen und denen sie sich ausgeliefert fühlen. Und oft sind es Kinder wie du, denn die können sich nicht wehren.“
„Dann bin ich schuldig?“
„Nein, Tayo, nein. Du bist ein Opfer. In ihrer Verzweiflung suchen die Menschen jemanden, dem sie die Schuld geben können für das, was sie sich nicht erklären können.“
Tayo blickte sie ungläubig an.
„Woher weißt du das?“
Großmutter Igwe lächelte und aus ihrem Augenwinkel rann ein Träne. Mit einer hastigen Handbewegung wischte sie über ihr Gesicht.
„Noch bevor du geboren wurdest, lebte ich in einer großen Stadt. Ich war verheiratet mit einem klugen Mann. Er arbeitete für eine Hilfsorganisation und hat mir die Augen geöffnet. Nach seinem Tod kam ich zurück ins Dorf.“
Tayo nickte mit verkniffenen Lippen.
„Du musst nach Douala gehen und dich den Straßenkindern anschließen. Dann ...“
„Straßenkinder?“ Tayo blickte sie erstaunt an. Er hatte nichts Gutes über Straßenkinder gehört. Sie seien Diebe, Drogenabhängige, Prostituierte und Räuber, wurde von den Erwachsenen im Dorf gesagt. Sie verbreiten das Virus und das man sie alle erschlagen sollte.
„Ja, Tayo. Es sind Kinder wie du. Manche sind vor ihren gewalttätigen Eltern auf die Straße geflohen, andere leben nur vorübergehend dort und verdienen in den Schulferien etwas Geld für ihre Familien. Es gibt drop in center, in denen du essen und dich waschen kannst. In Shelter-Houses kannst du sicher schlafen. Versuche, in einem ihrer Heime unterzukommen.“
„Alika, bist du da drinnen?“
Tayo zuckte zusammen. Sein Kopf begann zu vibrieren. Er erkannte die Stimme. Es war der Heiler des Dorfes, der vor der Hütte stand und rief. Großmutter Igwe legte ihren Zeigefinger über die gespitzten Lippen, erhob sich und schlurfte zum Hütteneingang.
„Was willst du, Makoye?“ rief sie mit für Tayo unerwarteter Schärfe.
„Warum kommst du nicht heraus, Alika.“
„Ich will dich nicht sehen. Du weißt, was ich von dir halte.“
„Wir suchen einen Jungen. Er ist nicht nach Hause gekommen.“
„Und da kommst du ausgerechnet zu mir?“
„Ist er in deiner Hütte?“
Großmutter Igwe schob die Matte einen Spalt weit zur Seite. Zehn Schritte entfernt erblickte sie den Heiler. Hinter ihm standen zwei hagere Burschen aus dem Dorf.
„Bist du auf der Jagd nach Körperteilen, Makoye? Hier wirst du keine finden.“ Sie blickte den Heiler herausfordernd an. „Wer ist es diesmal? Die Tochter von Fela? Der Sohn von Nabil? Du und die Kirchen, ihr macht gute Geschäfte mit dem Aberglauben.“
Makoye trat näher an sie heran.
„Sei vorsichtig bei dem, was du sagst“, raunte er.
Großmutter Igwes zerfurchtes Gesicht wurde zornig. Ungestüm gestikulierte sie mit den Händen.
„Ich verfluche euch und eure Familien. Wagt es nicht, auch nur einen Fuß in meine Hütte zu setzen.“
Die jungen Männer senkten die Köpfe. Der Heiler wandte sein Gesicht zur Seite und verzog den Mund, als würde er überlegen.
„Du trittst unsere Traditionen mit Füßen, Alika.“ Er neigte den Kopf und schaute sie mit halb verdeckten Regenbogenhäuten an. „Du warst zu lange bei den Weißen. Warum bist du zurückgekommen?“
„Verschwinde, Makoye und lass dich hier nie wieder sehen.“ Großmutter Igwe war außer sich vor Wut.
Der Heiler zögerte. Nach einem langsamen Lidschlag drehte er sich ab und entfernte sich. Großmutter Igwe schaute den drei Männern nach, bis sie außer Sichtweite waren, dann verschloss sie wieder den Eingang mit der Flechtmatte.
Sie bückte sich und zog einen Stoffbeutel aus einem Kleiderhaufen. Aus ihrer Hosentasche zog sie ein paar Geldscheine und steckte sie in den Beutel. Sie packte noch einige Hirsefladen dazu und eine Plastikflasche mit Wasser.
Tayo blickte sie stumm an. Er wagte nicht, auch nur den kleinsten Laut von sich zu geben.
„Sie sind weg“, sagte Großmutter Igwe. „Aber sie werden wiederkommen. Und vielleicht sitzen sie sogar irgendwo da draußen und warten ab.“ Sie bemerkte, das Tayo angestrengt schluckte und reichte ihm eine Wasserflasche. Dann hob sie den Beutel ein wenig an und legte ihn neben Tayo auf das Bett. „Damit wirst du ein paar Tage auskommen.“
Während er trank, musterte sie ihn. Er besaß nichts weiter als ein verblichenes Hemd und eine kurze schwarze Hose. Sie blickte auf seine nackten Füße und ging noch einmal zu den aufgehäuften Kleidungsstücken, um einen Pullover und ein Paar Sandalen aus Autoreifen herauszufischen, über denen sich eine schmale Schlaufe wölbte.
„Sie könnten dir sogar passen“, sagte sie mit einem Lächeln und reichte sie Tayo.
„Was will der Heiler mit Körperteilen?“ fragte er.
Großmutter Igwe drückte die Zunge gegen die Wange und schaute ihn lange an. Tayo stülpte die Sandalen über die Füße und lächelte zaghaft.
„Genau meine Größe, Großmutter.“
Sie setzte sich neben ihm aufs Bett und legte eine Handfläche auf seine Wange.
„Hör mir genau zu, Tayo.“
Der Junge nickte. Sie spürte die Bewegung des kleinen Kopfes in ihrer Hand.
„Sage niemandem, das du in deinem Dorf als Hexenkind bezeichnet wurdest. Sage jedem, du suchst Arbeit. Heiler bezahlen viel Geld für abgetrennte Körperteile von toten Hexen und Zauberern, weil ihnen magische Kräfte nachgesagt werden. Damit soll man sich Schutz und Einfluss verschaffen können. Eine weibliche Brust verschafft Mutterglück, ein Kehlkopf bringt einen Zeugen zum Schweigen und eine Zunge ebnet den Weg zu einer Frau.“
Tayo hatte die Mundwinkel herabgebogen. Er verstand nicht, was Großmutter Igwe sagte, aber es erfüllte ihn mit einer dumpfen Angst.
„Komm“, sagte sie und zog ein Bündel Schilf in der Rückwand der Hütte zur Seite.
„Bis Douala sind es zwanzig Kilometer. Folge dem Pfad durch den Busch und dann der Straße. Morgen wirst du die Stadt erreichen. Sprech mit den Straßenkindern, sie werden dir sagen, was du wissen musst. Frag sie nach einem Shelter-House.“
Tayo schaute sie traurig an.
„Na los, Tayo. Es ist das Beste für dich.“ Großmutter Igwe neigte den Kopf zur Seite. „Hab keine Angst, du wirst dich zurechtfinden und du wirst nicht allein sein.“
Tränen glitzerten in Tayos Augen, als er den Beutel und den Pullover nahm und sich dem Spalt in der Wand entgegenbückte.
„Und noch etwas, Tayo.“ Großmutter Igwe legte ihm die Hand auf den Kopf. „Hüte dich vor dem Virus und den Drogen. Und traue nicht jedem Erwachsenen“, sagte sie mit schütterer Stimme, „sie haben oft böse Absichten.“
Tayo schaute sie verständnislos an, nickte und schlüpfte durch den Spalt. Großmutter Igwe schob das Schilfbündel zurück. Unter der Bettdecke zog sie ein Päckchen Streichhölzer und eine Zigarre hervor, die sie paffend anzündete.
Die ersten Stunden in Douala vergingen wie im Flug. Tayo lief durch die mit Menschen überfüllten Straßen und konnte sich nicht satt sehen. Bunte Sonnenschirme, farbenprächtig gekleidete Frauen, Männer mit riesigen Säcken auf dem Kopf, Autos, Motorräder, alles floss ineinander. Zum ersten Mal sah er Wohnhäuser, in denen zwanzig oder noch mehr Familien wohnten. Die Stände der Straßenverkäufer waren voller Obst und Gemüse, Backwaren, Süßigkeiten, Zigaretten. Über den Eingängen der Geschäfte hing farbenfrohe Kleidung. Er vergaß die bange Furcht, die ihn den ganzen Weg zur Stadt begleitete. Und das er zusammengerollt in seinem Pullover die halbe Nacht zähneklappernd in einem Hirsefeld geschlafen hatte. Vor einem Fernsehturm blieb er lange stehen und blickte staunend zu der runden Scheibe hinauf, die sich hoch oben in der Luft befand.
Doch die faszinierte Fröhlichkeit wich einem dumpfen Unbehagen. Tayo wünschte sich, er würde aufwachen wie aus einem bösen Traum und alles wäre so wie früher. Er hatte noch achthundert Franc von Großmutter Igwe, damit konnte er Brot und Wasser kaufen. Aber das würde nur für drei oder vier Tage reichen. Er sah einen Jungen, der nur wenig älter als er zu sein schien. Er war hager und trug eine Armeehose. Langsam stapfte er die Straße entlang und zog einen Wagen mit Altmetall hinter sich her. Der Junge saugte an einer Milchtüte und störte sich nicht daran, das ihn ein Taxibus laut hupend überholte, von dem unter den daran hängenden Menschen nur noch Kühlerhaube und Windschutzscheibe zu erkennen waren. Tayo nahm allen Mut zusammen und sprach den dürren Jungen an.
„Weißt du, wo ein Shelter-House ist?“ kam ihm stockend über die Lippen.
Der Junge stoppte und musterte ihn. Dann lachte er.
„Du bist neu in der Stadt, was?“ Er blickte auf die Sandalen aus Autoreifen unter Tayos Füßen.
„Bist ein Landjunge, was? Ein Shelter suchst du? Hast du Geld?“ Er blickte Tayo erwartungsvoll an.
Tayo schüttelte verlegen den Kopf.
„Ich will mir Arbeit suchen. Meine Großmutter sagte, ich soll in einem Shelter-House wohnen.“
Der Junge dachte einen Moment nach und schaute auf den schlaffen Beutel, der an Trägern über Tayos Schulter hing. Er verzog die Lippen.
„Ich kann dir zeigen wo ein Shelter ist. Manchmal schlafe ich auch dort. Aber zuerst muss ich meinen Tagesverdienst ...“, er deutete mit dem Kinn auf das Altmetall auf seinem Wagen, „ … zu meinen Freunden bringen. Wir kaufen davon Essen und ich brauche neuen Kleber.“ Wie zum Beweis setzte er die Milchtüte an den Mund und saugte so stark daran, das sie einfiel und beim Absetzen wieder ausbeulte. Mit einem Ruck zog er die Karre an und ging langsam voran.
„Ich heiße Chuma“, sagte er. „Das bedeutet Reichtum.“ Er lachte laut und setzte die Milchtüte erneut an den Mund.
Tayo lächelte und lief ihm nach. Chuma führte ihn durch einige Seitenstraßen und erzählte vom Leben auf der Straße. Das die Regierung eine Anti-Bettel-Kampagne durchführt, das er seinen Kleber bei Schuhputzern kauft, aber lieber Dagga raucht und Tayo hörte aufmerksam zu. Dann liefen sie durch ein Tor auf den Innenhof eines leerstehenden Gebäudes. Es besaß keine Scheiben. Neben dem Eingang standen zwei ausgebrannte Autos und ein verbeulter Lieferwagen. Sie passierten zwei junge Erwachsene, die Chuma lachend grüßte.
„Bleib hier. Ich regle das eben und dann bringe ich dich zum Shelter. Du hast wirklich kein Geld?“ fragte er und wandte seinen Blick wieder ab, als er Tayos Gesichtsausdruck sah. Chuma ging zum Eingang, blieb stehen und lies die Zugstange des Wagens zu Boden fallen.
„Kumani“, rief er laut. „Ich habe etwas für dich.“
Ein sehniger junger Mann, fast zwei Köpfe größer als Chuma, trat aus dem türlosen Eingang hervor.
Sie wechselten ein paar Worte. Dann schaute Kumani zu Tayo herüber, zog ein Bündel Geld aus der Tasche, zählte einige Scheine ab und übergab sie Chuma.
Jemand schlang Tayo von hinten einen Arm um den Hals und drückte zu. Er wollte etwas sagen, bekam aber kein Wort heraus. Tayo riss den Mund auf, um nach Luft zu schnappen, doch der kräftige Arm würgte ihm den Atem ab. Er wurde angehoben und strampelte wild mit den Beinen, er schlug mit den Händen umher, ohne etwas zu treffen. Dann wurde ihm schwarz vor Augen.
Tayo erwachte in Dunkelheit. Er konnte das Geräusch eines Motors hören und alles um ihn herum schien zu zwitschern. Der Boden war hart und kalt und schaukelte seinen Körper sanft hin und her. Er hatte einen trockenen Mund und beim Schlucken schien er Glasscherben herunter zu würgen. Tayo spürte eine Berührung an seiner Wade und zog schreckhaft das Bein an den Körper.
„Ist da jemand?“ fragte er matt. Er horchte in die Dunkelheit, vernahm aber nur Motorengedröhn und jammerndes Quietschen. Tayo rutsche ein wenig zurück und stieß gegen die Kabinenwand, als der Wagen anhielt.
Er hörte eine Stimme rufen. Die Flügeltüren des Wagens wurden aufgerissen. Neben Kumani stand ein gedrungener Mann mit geschwungenen Ziernarben auf Wangen und Stirn. Er blickte Tayo ausdruckslos an und kletterte in den Wagen. Tayo stemmte sich mit Händen und Füßen von ihm weg und stieß an die Zwischenwand des Fahrzeugs. Jetzt erst bemerkte er neben sich ein kleines nacktes Mädchen, das vielleicht zwei Jahre alt war. Sie bestand nur noch aus Haut und Knochen. Ihr Gesicht war ausdruckslos. Der Mann packte sie an einem der dünnen Arme, riss sie mit sich und schmiss sie auf den Boden vor dem Fahrzeug.
„Thulane“, rief er, als er die Ladefläche verließ. Ein breitschulteriger Kerl mit wulstigen Lippen erschien in Tayos Blickfeld.
„Kümmere dich darum.“ Der Fettwanst mit den Ziernarben blickte zur Seite. „Bringt die anderen, wir erledigen das jetzt gleich.“
Thulane zerrte das Mädchen hinter sich her, das keinen Ton von sich gab. Er nahm einen Holzscheit von einem Stapel und verschwand mit dem Kind hinter einer Hausecke.
Tayo sog ruckweise die Luft ein. Tränen schossen ihm in die Augen und er wagte es nicht, sich zu bewegen oder den geringsten Laut von sich zu geben, solange er den Narbigen hinter dem Fahrzeug sah. Zwei Mädchen und zwei Jungen wurden mit Rohrstöcken zum Wagen getrieben. Einer war knochig und wirkte etwas älter als Tayo, die anderen waren deutlich jünger als er. Eines der Mädchen trug nur ein Trägerhemd, das sie weinend mit beiden Händen herabzog. Die Kinder krochen mit stumpfen Blicken auf die Ladefläche. Dann wurden die Türen zugeschlagen und die Dunkelheit kehrte zurück.
Tayo fühlte sich auf irgendeine Weise erleichtert, als die Männer mit den undurchdringlichen Gesichtern verschwunden waren.
„Wer seid Ihr?“ fragte er leise in die Schwärze.
„Ich bin Lindiwe“, hörte er eine Jungenstimme. „Der Kleine hier, weiß ich nicht. Der hat noch nichts gesagt, glotzt immer nur auf irgendeine Stelle.“
Der Motor des Wagens sprang an und die Kabine begann zu schaukeln.
„Die Mädchen sind Jara und Malou.“
„Ich bin Tayo. Wo bringen die uns hin?“ fragte er mit zitterndem Ton. Er hörte eines der Mädchen neben sich leise wimmern.
„Die bringen uns über die Grenze und verkaufen uns. Vielleicht auf die Baumwoll- und Kakaoplantagen nach Nigeria. Oder in irgendeine Ziegelfabrik. Die Weißen im Shelter haben oft davon gesprochen. Die Mädchen ...“, Lindiwe schien zu zögern. „Die Mädchen werden Hausarbeit bei reichen Familien machen oder in einer Zwangsehe verheiratet, wenn sie Glück haben“, endete er leiser.
„Dann kann man doch einfach abhauen.“ Tayo spürte etwas Belebendes in sich, doch sah er seine vage Hoffnung sogleich wieder erstickt.
Lindiwe lachte lustlos.
„Die bringen uns weit weg. Vielleicht sogar nach Südafrika oder bis nach Asien. Da gibt es keinen mehr, der dir hilft oder dich versteht. Und wenn du nicht spurst, prügeln die dich tot, so wie Hexenkinder und Albinos. Da haben wir eigentlich noch Glück.“ Lindiwe atmete hörbar aus.
Tayo schoss das Blut heiß in den Kopf. Er erinnerte sich an Großmutter Igwes Worte. „Wieso Albinos?“ fragte er eingeschüchtert.
Es schien, als würde er keine Antwort erhalten, doch dann sprach Lindiwe.
„Die Hexendoktoren verwenden ihre Körperteile für Zauberei“, sagte er nüchtern. „Bei Fischern und Minenarbeitern sollen weiße Körperteile als Glücksbringer gelten. Habe ich mal gehört.“
Tayo schwieg. Er senkte den Kopf über die angezogenen Beine und schloss die Augen. Das monotone Schwanken des Wagens lullte ihn ein in seiner Müdigkeit. Er hörte, wie der Motor aufheulte. Das sanfte Rütteln unter seinem Körper verstärkte sich zu leichten Schlägen. Dann kam der Wagen abrupt zum Stehen. Tayo schlug mit dem Hinterkopf gegen die Zwischenwand. Eines der Kinder rutschte auf seinen Körper.
Tayo vernahm mehrere Schüsse und hörte das heisere Gebrüll von Männern. Er zog die Arme kräftiger um seine Unterschenkel und dachte an Neyla, die er am liebsten in den Arm nehmen würde. ´Vielleicht sehe ich dich jetzt wieder´, dachte er. ´Und auch Mama´.
Die Türen des Wagens wurden aufgerissen. Die Sonne blendete ihn. Dann sah er zwei Polizisten, die zurücktraten. Eine weiße Frau mit tätowierten Armen blickte ins Fahrzeug.
„Ihr seid in Sicherheit“, sagte sie. „Ich bin vom Street Kids Center.“ Sie lächelte.