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- 01.09.2005
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Hexen des großen Landes
Der Geruch des Joints stieg Jona in die Nase. Ihr Bewacher saß auf einem großen Stein am Fluss und rauchte. Die anderen Entführer hatten ihn Tano genannt. Sie waren gegangen und würden zurückkommen, sie mussten etwas erledigen, irgendwas. Sie hatten schnell gesprochen und nur wenige Sätze waren Englisch gewesen. Die Gefangenen waren zurückgeblieben, Jona und Yaris, mit Tano zur Bewachung.
Auf Tanos Schoß lag ein Maschinengewehr ohne Kolben. Jona starrte in den Lauf.
Tano hielt ihnen den Joint hin. Jona schüttelte den Kopf. Yaris’ Blick blieb auf die Berge gerichtet, von dort kam der Fluss. Tano spuckte ins Wasser, legte den Joint auf den Boden, nahm sein Gewehr und zielte flussabwärts, auf irgendein Tier vielleicht oder die Geister seiner Opfer, die ihn verfolgten.
„Bum!“
Er drehte den Kopf wieder zu den Gefangenen, ohne das Gewehr herunterzunehmen. Ein Grinsen wuchs breit über sein Gesicht. Bis auf einen fehlenden Eckzahn war das Gebiss in gutem Zustand. Nicht alle ihre Entführer konnten das von sich behaupten. Tano war jung. Jona schätzte ihn auf Anfang zwanzig und fragte sich, wann er das erste Mal getötet hatte. Wahrscheinlich war es eine Weile her.
Immer wieder zielte Tano. „Bum!“ Sah zu ihnen und lachte. Als die Gefangenen nicht mitlachten, legte Tano das Gewehr zurück auf den Schoß. Er hob den Rest des Joints auf und betrachtete ihn, schob seine Sonnenbrille dafür hoch auf die Stirn. Dann warf er den Stummel in den Fluss und zog eine Zigarette aus der Brusttasche seines Armeehemdes. Das Zippo schnappte auf und wieder zu. Tano steckte sich Kopfhörer in die Ohren und pustete Rauch aus. Der Dancehall-Bass schwang in der Luft, obwohl die Kopfhörer nur kleine Stöpsel waren. Das Innenohr dankt, dachte Jona. Der Gedanke kam, ohne Kontrolle.
Er rutschte näher an Yaris heran, ließ Tano dabei nicht aus den Augen. Tano nickte im Takt seiner Musik, sah zum Himmel und auf den Boden, auf sein Gewehr, reckte den Zeigefinger in die Luft und sprach Textzeilen mit, wenn er inhaltlich besonders zustimmte. Babylon!
„Wenn wir jetzt aufspringen und loslaufen“, Jona atmete betont ruhig ein und aus, „dafür ist er nicht schnell genug.“
Yaris hob nachdenklich die Hände, als wäre ihm eben erst aufgefallen, dass sie gefesselt waren. „Und wohin laufen wir?“
Jona kaute kurz auf der Unterlippe herum. „Was meinst du? Weglaufen. Zum nächsten Dorf.“
„Und wo ist das?“
„Du bist doch von hier.“
Yaris lächelte. „Großes Land, mein Freund.“ Er nickte in Tanos Richtung. „Und wenn wir laufen und er hält mit dem Ding drauf, trifft er uns irgendwo, egal, wie zugedröhnt er ist.“
„Wenn wir nichts machen, bringen sie uns auf jeden Fall um. Wie den Rest.“
Yaris schüttelte den Kopf. „Die Kugeln waren für die Soldaten. Sabine war ein Unfall. Die wollten sie eigentlich genauso mitnehmen wie uns.“
Sabine ein Unfall? Jona hatte aus ein paar Schritten Entfernung zugesehen, während ihm einer der Entführer die Hände gefesselt hatte. Ein Mädchen lief davon. Sabine hatte sie gerade behandelt, als der Überfall begann. Tano rief ihr hinterher, sie solle stehenbleiben. Weil sie weiterlief, zielte er mit seinem Gewehr. Sabine schubste ihn. Die Kugel schlug in den Boden ein und wirbelte Staub auf. Das Mädchen entkam. Ein paar der Entführer lachten.
Tano fuhr herum und starrte Sabine an. Sabine, gut mit Worten, hob die Hände. „Ganz ruhig, junger Mann“, sagte sie auf Englisch. „Du hast alles unter Kontrolle.“
Eine Weile sahen sie sich an, dann wandte Tano sich ab. Jona sah die Erleichterung in Sabines Gesicht. Ohne sie dabei anzusehen, schoss Tano. Sabine beugte sich vornüber und machte einen Schritt, als hätte ihr jemand in den Bauch getreten. Als die Entführer Yaris und ihn weggebracht hatten, waren Sabines Schreie leiser geworden, nur noch ein schmerzerfülltes Stöhnen.
„Mehr Geiseln, mehr Geld“, erklärte Yaris.
„Und wenn keiner zahlt?“, fragte Jona.
Yaris blickte zum Himmel. „Ich habe genauso viel Angst wie du, aber wenn wir jetzt weglaufen ...“ Weil sie gefesselt waren, gingen beide Hände hoch zum Kopf, als Yaris sich zwei Finger an die Schläfe hielt und dann kurz zuckte.
Jona nickte. „Okay. Und dein Vorschlag ist?“
„Am Leben bleiben.“
„Aber wenn wir gar nichts-“
Tano stand auf, riss sich die Hörer aus den Ohren und die Brille vom Gesicht.
Er hat uns doch gehört, schoss es Jona durch den Kopf. Ich will nicht sterben.
Aber Tano interessierte sich nicht für sie. Eine Gestalt hatte ihn aufschrecken lassen, als er sich kurz umgedreht hatte. Die Frau schlurfte von flussaufwärts auf ihn zu. Sie trug ein buntes Kleid und am linken Fuß eine Sandale, der rechte war nackt. Blut lief über die Knöchel. Sie taumelte wie eine Schlafwandlerin.
„Was ist passiert?“, rief Jona, als wären sie noch im Lager, als wäre sie eine Patientin. Noch so ein Reflex, eine Arzt-Phrase zur Eröffnung.
Die Frau richtete ihre müden Augen auf Jona. Sie änderte ihren Kurs, machte schnelle Schritte auf ihn zu.
„Hey, langsam!“ Jona stand auf und streckte ihr die gefesselten Hände entgegen. „Ganz langsam. Ich helfe Ihnen beim Hinsetzen. Langsam.“
Sie griff mit beiden Händen nach seinen.
„Wie lange ist es her?“ Das hatte Sabine immer gefragt.
Die Augen der Frau voller Schmerz und Scham weiteten sich kurz. Sie überlegte. Dann nickte sie und es knallte, ein Teil ihres Kopfes flog davon. Warme Tropfen spritzen Jona ins Gesicht. Er schrie. Die Frau sackte zu Boden.
Tano kam zu ihnen, schubste Jona zur Seite und schoss der Leiche zweimal in die Brust. Danach war nur das Plätschern des Flusses zu hören.
Tano spuckte auf die Frau, das Gesicht eine wütende Fratze. Durch den Sturz war ihr Kleid ein Stück hochgerutscht. Rote Schlieren zogen sich die Unterschenkel hinab.
„Wenn wir den Frauen nicht helfen“, hatte Sabine Jona erklärt, „sterben sie vielleicht. Einige auf jeden Fall. Du weißt, wie sie es machen? Mit Kleiderbügeln und Schießpulver und ein bisschen Hokuspokus? Wie verzweifelt diese Frauen sind und was sie bereit sind, sich anzutun?“
Weißt du nicht. Zwischen den Zeilen. Kannst du nicht wissen, aus offensichtlichen Gründen, also lass mich einfach weiter meine Arbeit machen. „Dann melde es wenigstens den Soldaten, wie es abgemacht ist“, hatte Jona geantwortet.
„Dann kommen sie nicht, weil sie Angst vor Gefängnis haben“, hatte Sabine gesagt. „Und dann sterben sie. Nicht alle, aber viel zu viele. Ich weiß nicht, warum du Arzt geworden ist, aber können wir uns da als kleinsten gemeinsamen Nenner drauf einigen, dass wir nach Möglichkeit versuchen zu verhindern, dass Leute sterben?“
Jona hatte sich die Augen gerieben, bis es wehtat, und dann die Schultern gezuckt. „Ich bin Hals-Nasen-Ohren, Sabine. Wenn mein Einsatz hier beendet ist, mache ich zu neunzig Prozent in eitrige Mandeln.“
„Und ich ins Kinderkriegen.“
Er hatte gegrinst und sie hatte ihn gegen die Schulter geknufft. „Idiot.“
„Das hättest du nicht müssen.“ Yaris’ Stimme.
Jona und Tano wandten sich ihm zu. Tano deutete mit dem Gewehr auf Jona, den Blick auf Yaris geheftet. „Sie hat ein Kind getötet. Ich weiß, wie das aussieht. Von wo das Blut kommt.“ Seine Oberlippe zuckte kurz wie bei einem knurrenden Hund und gab seine Zahnlücke frei. „Ihr habt da auch Kinder getötet, in euren Zelten. Kinder deines eigenen Volkes.“ Er zeigte auf Yaris.
„Wir haben keine Abtreibungen gemacht, wenn du das meinst“, log Jona.
„Ich habe was anderes gehört.“
„Das stimmt aber nicht.“ Ein Satz wie von einem Siebenjährigen. Das passt, dachte Jona. Ich habe auch Angst wie ein Siebenjähriger.
„Kinder sind ein Segen“, sagte Tano. „Die Kraft einer Frau, Kinder zu kriegen, ist ein Segen. Frauen und Kinder sind gesegnet.“ Blessed.
Jona sah zu der Frau, die wegen ihres Segens jetzt ein Loch im Kopf hatte. Die ersten Ameisen wurden auf sie aufmerksam.
Tano gestikulierte mit seinem Gewehr, Yaris sollte aufstehen. „Los jetzt.“
„Los jetzt was?“, fragte Jona.
„Dahin, wo sie hergekommen ist.“ Tano versetzte der Toten einen Tritt. „Wer das gemacht hat, macht das bald nicht mehr.“
Können wir uns da als kleinsten gemeinsamen Nenner drauf einigen, dass wir nach Möglichkeit versuchen zu verhindern, dass Leute sterben?
„Willst du nicht lieber auf deine Leute warten?“, fragte Jona.
„Die werden das verstehen. Sind gute Männer.“ Tano zeigte flussaufwärts. „Macht jetzt.“
Sie folgten der Blutspur und kamen an der verlorenen Sandale vorbei. Tano trat sie in den Fluss. Schließlich erreichten sie eine Hütte, zusammengezimmert aus Uferholz und Brettern, Nummernschildern, Werbung. Ein dreckiges Pepsi-Symbol lugte durch ein altes Fischernetz.
Jona drehte sich zu Tano um. Bevor er etwas sagen konnte, hielt Tano sich den Zeigefinger vor die Lippen. Er bedeutete den Gefangenen, sich hinzuknien. Dann nahm er die Sonnenbrille ab und hängte sie an die Seitentasche seiner Armeehose. In gebückter Haltung pirschte er sich an die Hütte heran, zielte mit dem Gewehr immer wieder kurz auf den Bretterverschlag. Jona bezweifelte, dass darin jemand saß, der so viel Vorsicht verdient hatte. Das arme Schwein, Mann oder Frau, würde gleich sterben, und auch wenn dieser Mensch Gott wusste wie viele Frauen das Leben gekostet hatte, Sabine hätte das nicht gewollt.
Wem willst du hier etwas vorhalten?, hatte sie einmal eingesagt. Es gibt nur Opfer. Das ganze Land ist ein Opfer. Darum sind wir hier.
Als er Tano außer Hörweite wähnte, sagte Jona zu Yaris: „Wenn wir jetzt nicht laufen, werden wir es uns immer vorwerfen.“ Er dachte an Sabines überraschten Blick, nachdem die Kugel in ihre Eingeweide gedrungen war. „Und unser immer könnte kurz sein.“
Die offenkundige Mordlust ihres Bewachers, bezeugt diesmal aus nächster Nähe, musste Yaris zugesetzt haben, denn er nickte. „Okay“, flüsterte er. „Langsam hoch. Und wenn wir beide fest stehen, rennen wir.“
Jona nickte zurück. Sein Herz raste. Er sagte sich immer wieder, dass sie auf jeden Fall sterben würden, wenn sie nichts täten, wenn sie keine Salve im Rücken riskierten. Es war wenigstens eine Chance.
Yaris stellte den linken Fuß auf, das rechte Knie am Boden, verharrte in der Position eines Sprinters am Startblock. Jona stockte der Atem bei jedem Kratzen von Yaris’ Schuhsohle oder Hose auf dem Boden. Als er endlich so weit war, sich bereitzumachen, kam Tano zu ihnen zurückgelaufen, immer noch in gebückter Haltung, als stünden sie unter Beschuss.
Das war's jetzt, dachte Jona. Er würde an Yaris’ Haltung erkennen, was die Gefangenen vorhatten.
Aber Tano war zu aufgeregt und schenkte ihnen nur die nötigste Beachtung, als er sich vor sie hockte. Immer wieder wandte er sich zur Hütte um. „Jemand ist drin“, sagte er. „Ich habe etwas gehört. Bestimmt eine Hexe.“
Er hat Angst, bemerkte Jona. Richter hier schickten Menschen wegen Hexerei ins Gefängnis, ganz offiziell.
Tanos Finger krümmte sich über dem Abzug des Gewehres. Er legte auf Yaris an. „Du gehst rein.“
Yaris’ Blick kreuzte den von Jona. Anders als sein Landsmann, der ihn mit vorgehaltener Waffe bedrohte, war er gut ausgebildet, sprach mehrere Sprachen und hatte nicht nur das Land, sondern sogar den Kontinent schon mal verlassen. Er glaubte nicht an Hexen, jedenfalls war Jona sich dessen sehr sicher. Herrgott, er war Arzt.
Yaris stand auf. „Wenn du willst“, sagte er. „Aber nur, wenn du mir versprichst, niemanden mehr zu töten.“
Tanos Augen weiteten sich kurz und er hob seine Waffe ein Stück höher, sodass Yaris in den Lauf sehen konnte. „Ich töte dich“, flüsterte er, „jetzt sofort, wenn du dich nicht in Bewegung setzt.“
Yaris gehorchte. Tano sah Jona an. „Du auch.“
Der Eingang zur Hütte stand einen Spalt weit offen. Yaris wartete davor und hielt Tano die gefesselten Hände hin. „Machst du mir die auf?“
Tano schüttelte den Kopf. „Du sollst nur gucken, ob die Hexe noch drin ist“, flüsterte er. „Dann kommst du raus und ich knalle sie ab.“
Und warum gehst du dann nicht gleich rein? Die Frage spiegelte sich auf Yaris’ Gesicht.
Weil er die Hosen voll hat, dachte Jona. Auf Yaris’ stumme Frage gab Tano eine stumme Antwort. Er legte an, so wie vorhin am Fluss. Bum.
„Ich gehe.“ Yaris hob die Hände vors Gesicht. „Ich gehe, okay?“
Langsam schob er die Tür weiter auf. Die Scharniere knarrten. Dann machte er ein paar Schritte und die Hütte verschluckte ihn.
Tanos Finger tippte immer wieder gegen den Abzug. Seine Augen glühten rot, waren aber hellwach und weit aufgerissen. Er machte einen Schritt zurück und zielte auf die Tür. Sein Gesicht zuckte, ab und zu grinste er, dann schien er einen Schrei zu verschlucken. Die kleine Hütte war ein einziger Raum auf vielleicht zwanzig Quadratmetern. Was es zu sehen gab, musste Yaris inzwischen gesehen haben.
Tano ging einen Schritt auf die Hütte zu, blieb stehen. Der Lauf seines Gewehres war auf die Tür gerichtet, dann auf den Boden, dann wieder auf die Tür. Er öffnete den Mund, aber es kamen keine Worte. Drinnen erklang ein Geräusch. Etwas fiel zu Boden. Bump. Ein Körper. Als schlüge ein Körper zu Boden.
Bei seinen hastigen Schritten zurück stolperte Tano über die eigenen Füße, fand das Gleichgewicht aber wieder. Als er sich gefangen hatte, leckte er sich die Lippen. Dann schluckte er und drehte den Kopf zu Jona. „Guck, wo er bleibt.“ Es war ein Flüstern. Mit Zittern in der Stimme.
Jona sah zur Waffe. Tano machte eine Geste. Los jetzt!
Vorsichtig schob Jona sich durch den Türspalt. Die Hitze im Inneren der Hütte garte den metallischen Geruch von Blut, der sich mit dem Gestank eines heruntergekommenen Zoos vermischte. Außer durch die Tür fiel Licht durch ein kleines Fenster. An Wänden und Decke waren Seile gespannt, in unregelmäßigem Muster wie ein chaotisches Spinnennetz. Unter dem Fenster stand ein Tisch mit zwei Stühlen. Vor einem davon lag ein Mann in einem blauen Gewand mit Blumenmuster. Vielleicht war es auch das Kleid einer Frau. Das Geschlecht war schwer zu bestimmen, denn der Körper war bereits stark verwest. Die Knochenfinger waren um eine kleine, weiße Dose aus Plastik gekrallt. Sie war offen. Ein paar Kapseln lagen auf dem Boden, zur Hälfte weiß, zur Hälfte orange.
Weil es für die Fliegen dort auf dem Hüttenboden nicht mehr viel zu holen gab, summten sie nur vereinzelt über der Leiche, bildeten dafür aber einen umso dickeren, dunklen Nebel über einem Eimer, der fast bis zum Rand gefüllt war mit rot-schwarzem Sud.
Yaris stand bei diesem Eimer, der wiederum vor einer Holzpritsche stand, über die ein fleckiges Tuch gelegt war. Er sah Jona an, hielt sich die Hand über den Mund und schüttelte den Kopf.
Jona nickte. Keinen Laut. Es hatte nichts mit Tano draußen zu tun oder der Möglichkeit, durch das Fenster zu fliehen und auf der anderen Seite der Hütte davonzulaufen. Dafür war es zu klein. Es ging um das, was vor dem anderen Stuhl auf dem Boden hockte. Der Körper, der zu Boden gefallen war. Der Affe musste an den Seilen gehangen haben.
Das Tier war alt, sein schwarzes Fell durchzogen von weißen Strähnen, das Gesicht ebenso faltig wie das eines greisen Menschen. Ein Schimpanse, hätte Jona gesagt, aber er war kein Fachmann. Ein großer Affe jedenfalls, der mit einem aufgebogenen Kleiderbügel in seinen Händen spielte. Am Ende mit dem Haken klebte Blut, frisches rotes und altes braunes.
Das Tier sah zu Jona, doch dann erkannte er: Es sah nirgendwohin. Seine Augen waren leer und blass. Krankheit oder Alter mussten es geblendet haben. Vielleicht auch ein Kampf oder Folter. Etwas oder jemand. Mit dem Haken des Kleiderbügels strich der Affe sich über die Lippen. Dann fauchte er, zeigte seine Zähne, kleine Dolche, lang wie einer von Tanos Joints.
Jona drehte den Kopf zu Yaris. Und jetzt?
Yaris bedeutete ihm wieder: Keinen Ton!
Jona winkte Yaris heran. Sie waren leise in die Hütte geschlichen, nun müssten sie eben leise wieder hinausschleichen. Yaris schüttelte den Kopf. Der Affe schnüffelte, als könnte er die Gedanken zwischen den Eindringlingen riechen.
Jona tippte sich an die Brust und zeigte zur Tür. Er würde zurück nach draußen schleichen, schließlich stand er näher beim Ausgang. In Richtung des Affen machte er die Geste, die sie heute so oft gesehen hatten. Bum.
Yaris nickte, so vorsichtig, als hätte er Angst, das Tier könnte es hören.
Die Tür flog auf, krachte in Jonas Rücken und gegen seinen Hinterkopf.
„Verfluchte Hexe!“, schrie Tano. Sein fragender Blick ruhte nur den Bruchteil einer Sekunde auf der bunt gewandeten Leiche. Mit einem schrillen Angriffsschrei stürmte der Affe auf allen Vieren auf ihn zu, den Kleiderbügel in der Pfote. Tanos Augen weiteten sich und er hob das Gewehr, mit dem er zuvor auf die Leiche gezielt hatte. Der Affe sprang und erst, als sein Körper gegen Tanos Brust schlug, erklang der Schuss.
Jona fuhr zusammen und sah an sich hinab, wartete auf den wachsenden roten Fleck auf seinem Hemd. Doch da war nichts. Er blickte zu Yaris. Unter dessen linkem Auge klaffte ein schwarzes Loch. Blut lief daraus über die Wange. Jonas Kollege fiel auf die Kante der Holzpritsche, prallte davon ab und ging zu Boden. Sein Körper stieß den Eimer um. Der Sud ergoss sich über den Hüttenboden. Jona erkannte einen Fötus von der Größe einer Zitrone. Yaris zuckte, als hätte er einen epileptischen Anfall.
Jona fuhr herum. Tano lag auf dem Rücken, das Gewehr neben sich. Der Affe hockte auf seiner Brust und schlug auf ihn ein. Tano hielt die Hände vors Gesicht, aber gegen die Kraft des Angreifers nützte das nichts. Erst platzten die Lippen, dann brachen Zähne, Nase und Jochbein. Das Auge rutschte ein Stück zurück in den Kopf. Statt zu schreien, stöhnte Tano irgendwann nur noch. Genau wie Sabine es getan hatte. Die Arme fielen zu Boden.
Jona wäre gelaufen, aber Tano und das Tier kämpften direkt vor dem Eingang. Hätte er sich hinausgeschlichen und den haarigen Rücken gestreift ...
So stand er nur da, starr und um Stille bemüht, als der Affe Tano die Hose runterzog, dann die Unterhose, und dann mit seinen langen Fingern zwischen Tanos Beinen nach etwas suchte. Die Öffnung. Als er sie erfühlt hatte, schob das Tier den Kleiderbügel hinein und drehte ihn einige Male. Du weißt, was sie bereit sind, sich anzutun?
Der Affe zog den Bügel wieder heraus. Aus Tanos Rektum floss Blut. Am Bügel klebte Kot. Tanos Stöhnen wurde lauter, er versuchte wohl zu schreien, als der Affe ihm den Bügel wieder einführte. Tanos rechte Hand krallte sich ins Fell des Affen, doch dessen kräftige Pfote griff die störenden Finger und drückte zu. Knochen knackten.
Endlich schaffte Jona es, den Blick von dem jetzt konzentriert arbeitenden Affen zu nehmen. Das Maschinengewehr. Ein oder zwei Schritte fehlten nur bis dahin, aber er musste sich hinter dem Rücken des Affen vorbeischleichen. Diesmal gab es kein Für und Wider, keinen Grund, nicht einfach alles zu riskieren. Nicht, weil Yaris inzwischen nicht mal mehr zuckte und niemand zum Streiten geblieben war. Das Tier würde sich mit keinem Lösegeld der Welt zufrieden geben. Es zog ein paar Mal an dem Kleiderbügel, der sich in Tano an irgendetwas verfangen hatte. Beim dritten, heftigen Ruck kam der Haken zum Vorschein und riss ein Stück Darm mit nach draußen.
Der Anblick gab Jona den Anstoß, den er gebraucht hatte. Den notwendigen Mut der Verzweiflung. Er schlich nicht, er machte einen Satz zum Gewehr und griff es mit seinen gefesselten Händen wie eine Pistole. Es war schwer und lange würde er es nicht halten können.
Der Affe drehte sich um. Sein leerer Blick sprang von einer Ecke der Hütte zur anderen. Er hielt sein Werkzeug vor sich und drohte damit, als hielte er eine Fackel in die Finsternis. Jona drückte den Abzug.
Die Wucht des Schusses riss ihm die Waffe aus den Händen. Sie schlug ihm gegen die Stirn. Er spürte das Gewehr wie eine Faust aus Stahl, die seine Augenbraue rammte.
Der Affe fiel auf den Hintern, die langen Arme neben sich. Die nachlassende Kraft verwand er darauf, den Kleiderhaken fest zu umklammern. Immer wieder öffnete er den Mund, als würde er jeden Moment etwas sagen. Sich erklären.
Das Leben entwich ihm durch ein Loch im Hals. Das Blut daraus färbte sein weißes Brustfell rot. Sein Mund öffnete sich noch einmal und blieb so. Die Finger um den Kleiderbügel erschlafften. Mit einem leisen Tack berührte der Haken den Hüttenboden. Jona wartete noch einen Moment, um sicherzugehen. Als er die Hütte verließ, tasteten Tanos Finger nach seiner Ferse.
Das Blut aus der Platzwunde verklebte ihm die Lider. Jona blickte in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Die Richtung, aus der auch Tanos Freunde kommen würden, früher oder später. Auf der Spur des Blutes.
Also ging er weiter flussaufwärts. Immer wieder drehte er sich zur Hütte um. Sie wurde kleiner, aber sie wollte nicht verschwinden. Eigentlich, dachte er, dürfte er sie längst nicht mehr sehen. Es war so ein großes Land.