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Heute vielleicht?
17 Uhr
Endlich Feierabend. Es scheint immer eine Ewigkeit zwischen Arbeitsbeginn und Dienstschluss zu liegen. Jeden Tag stand er pünktlich um 6:55 Uhr an der Schranke, die zum Innenleben des monströsen Chemiewerkes führte. Immer dieselbe Frage: „Darf ich das Werksgelände betreten?“. Und natürlich kam die Antwort wie von einem Automaten: „Natürlich, Herr S. Einen schönen Tag.“ Jedes Mal, sagte er halbherzig, dass er ihm das gleiche wünsche, innerlich hoffte er aber, dass er einmal einen wirklich schönen Tag haben würde. Innerlich hoffte er, dass einer der riesigen Tanks ein Leck hätte oder die Elektronik spinnen würde, damit das Werk für einen Tag geschlossen wäre oder für eine Woche oder für immer.
Naja, beiseite mit den Gedanken, denn jetzt war es 17 Uhr.
Nun war es an der Zeit wieder in seine eigenen vier Wände zurückzukehren. Endlich. Vor Freude hätte er fast vergessen, noch einmal zu seinem Chef zu gehen. Es war jeden Freitag so, dass er sich nochmal von ihm verabschiedete. Eilig schritt er die Treppen in die zweite Etage hinauf, wo das Büro seines direkten Chefs lag.
Ein kurzes Klopfen signalisierte ihm, dass sein produktivster Angestellter wieder bereit für sein wohlverdientes Wochenende war. Herr S. war wirklich gut.
Ich sollte aufpassen, dass keiner meiner Bosse auf ihn aufmerksam wird, denn ansonsten kann ein Vermittler mir einen neuen Job suchen. So schnell würde er kein Jobangebot bekommen, zumindest nicht die Position, die ich momentan besitze und die Geheimhaltungsklausel verbietet mir, in einem Zeitraum von 6 Monaten bei einer Konkurrenzfirma anzufangen.
„Herein.“
Ein dunkelhaariger, etwas trainierter Mann, mit längeren gelockten Haaren trat ein. Er ging mit leicht gesenktem Kopf. Bei der letzten Fortbildung für Führungskräfte hatte er gelernt, dass diese Körperhaltung auf geringes Selbstbewusstsein schließen ließ, vielleicht war das sein Glück.
„Hallo Herr P. Wie geht es Ihnen?“
„Gut. Danke der Nachfrage. Wissen Sie, was ich mir überlegt habe?“
„Nein, was denn?“
Das war typisch Herr P. Jeden Freitag dasselbe. Er immer mit seinen Ideen. Mal sehen, was es diesmal war.
„Wie wäre es, wenn wir den Silikonen Sulfat beimischen würden, um die Aushärtungszeit zu verringern?“
„Das klingt ja interessant.“
Das letzte Mal, als sie auf die glorreiche Idee kamen, war der Sulfat-Anteil so hoch, dass die gesamte Masse so schnell ausgehärtet war, dass alles an der Mischmaschine hängen geblieben war. Er hatte noch schnell zwei Kollegen herbei gerufen, damit sie die Maschine retten konnten.
„Hatten wir nicht vor zwei Monaten eine ähnliche Versuchsreihe?“
„Meinen Sie Herr S.?“`
„Ja natürlich, damals war die Aushärtungszeit so gering, dass uns die Silikone noch während des Mischvorgangs in der Maschine ausgehärtet ist. Wir hatten nicht einmal die Zeit, um etwas für unsere Tests abzufüllen.“
„Oh, gut, dass sie mir das sagen, Herr S. Da müssen wir diesmal aufpassen. Dann müssen wir den Sulfat - Anteil sehr gering halten.“
Mensch, der Chef ist wirklich ein Genie, manchmal frage ich mich, warum er mein Boss ist.
„Also dann, Herr P., ich verabschiede mich ins Wochenende.“
„Ja, natürlich. Achso, haben Sie schon Pläne für Samstagnachmittag?“
„Leider ja.“
„Oh, das ist schade. Vielleicht ein anderes Mal?“
„Ja, natürlich“
„Ok, dann genießen Sie ihr Wochenende.“
„Danke, das wünsche ich ihnen auch.“
Danach verließ er das Büro. Gut gelaunt ging er eine Etage herab. Die Gänge waren wie leergefegt, als ob pünktlich um 17 Uhr alle Menschen aus den Räumen gebeamt würden.
Er ging in den Umkleideraum, öffnete seinen Spind, nahm seinen kleinen Rucksack heraus und tauschte seinen weißen Laborkittel gegen eine dünne Windjacke. Nachdem er den Spind wieder abgeschlossen hatte, warf er seine Arbeitskleidung in den großen Wäschekorb und verließ den Raum. Als er das Laborgebäude verließ, herrschte in der Forschungsabteilung Grabesstille. Man hätte das tippeln einer Maus hören können, ok, hier gab es keine Mäuse, aber wenn es welche gegeben hätte. Langsam schloss er sein Fahrrad ab, stieg auf und fuhr zu dem wohlbekannten Pförtnerhaus.
Diesmal fragte keiner. Er verließ das Werkgelände und war frei.
Dafür hatte sein Abiturschnitt also 1,8 sein müssen, damit ein Mensch über ihn bestimmte, der meistens das Wissen seines Mitarbeiters brauchte, um seinen Job ordentlich machen zu können. Ein erfülltes Leben sieht anders aus.
Schon nach einigen Minuten sah er schon das wohlbekannte blau- gelbe Schild des Lidl Discounters. So praktisch diese Geschäfte auch waren, sie waren wie Unkraut, kaum waren sie einmal in der Stadt, wurden es immer mehr. Nur dieser war ihm ans Herz gewachsen, da in ihm eine der schönsten Frauen arbeitete, die er kannte.
Schnell war sein Fahrrad wieder angeschlossen und er betrat das Geschäft. Langsam bahnte er sich seinen Weg und blieb vor dem Brotregal stehen. Mischbrot oder Körnerbrot, das war hier die Frage, nicht „sein oder nicht sein“. Als er mit der Ausbildung zum Chemielaboranten begonnen hatte, war ihm alles noch so wunderbar vorgekommen. Neue Erkenntnisse gewinnen, die Forschung voranbringen und neue Wege finden, das waren seine Ziele gewesen. Aufstieg, Karriere und eine Familie waren seine Vorstellungen vom perfekten Leben gewesen. Was war daraus geworden? Familienvater war er nicht, sein Boss war anscheinend nicht für den Beruf geeignet und Freundin war auch keine in Sicht. Da war er also anscheinend mehr als nur einmal vom richtigen Weg abgekommen. Es hätte auch schlimmer kommen können, die Frage war, wollte er nicht vielleicht einiges in Kauf nehmen, nur um etwas anderes zu bekommen?
„Können Sie sich nicht schneller entscheiden?“. Die wütende Stimme einer entnervten Frau riss ihn aus seinen Gedanken. „Meine Kinder würden heute noch gerne Brot zum Abendbrot und nicht zum Frühstück essen.“ Energisch griff sie nach dem letzten Mischbrot und ging mit einem Tempo weiter, bei dem jeder Marathonläufer neidisch geworden wäre. Es gab nur noch ein Körnerbrot, nun ja damit konnte er auch leben. Nun nur noch eine Packung Salami und schon war sein Wocheneinkauf auch erledigt. Langsam näherte er sich der Kasse. Wer die Wahl hat, hat die Qual. Als er das Abiturzeugnis in den Händen hielt, hatte er gehofft, dass damit die Angebote gemeint waren, aber nun waren es die Einkaufskassen in der Lidl Fiale. Wie Dinge sich ändern konnten. An Kasse zwei saß wieder die nette Verkäuferin, für die sein Herz Gefühle hatte, sein Verstand ihm aber sagte, dass daraus nie etwas werden würde. Er stellte sich an Kasse zwei an. Als seine Einkäufe langsam über den Scanner wanderten, fragte sie ihn lächelnd:“ Na der Wocheneinkauf schon erledigt?“
„Für diese Woche ja.“ Am liebsten hätte es ihm gefallen, wenn sein Mund die Frage: Und was machen Sie am Wochenende? angeschlossen hätte, aber es wollte nicht gelingen.
Genauso wie bei seiner ersten großen Liebe. Seine Schüchternheit hatte dazu geführt, dass er ihr nie gestand, dass er in sie verliebt war und als es endlich doch so weit war, erzählte sie ihm, dass sie einen Freund gefunden hatte, der zu ihr passt. Dieses Strahlen in ihren Augen, wie die ersten Sterne am Nachthimmel. Er hatte es nicht tun können, ihr Glück zu zerstören, nur damit er glücklich werden könnte. Das Schweigen an jenem Tag begleitete ihn noch immer, aber vielleicht verschwand es ja auch eines Tages, genauso wie seine Freunde und die Freude am Beruf.
„Das macht dann 2,23€. Möchtest du einen Beutel?“
„Nein, Danke. Ein schönes Wochenende“
„Ich muss leider arbeiten, aber trotzdem danke.“
„Also dann bis bald.“
„Bis bald.“
Er griff nach dem Brot, der Salami und den Kassenbon und verließ den Supermarkt.
War dieser Dialog gerade wirklich geschehen? Gab da jemand ihm nochmal eine zweite Chance? Er warf einen kurzen Blick auf den Kassenzettel um den Namen, der Kassiererin zu erfahren. Melina stand mit starren Buchstaben darauf. Mit einem Mal fiel ihm ein kleines, mit Kuli, gemaltes Herz aus Fragezeichen auf. War das von ihr oder nur ein Scherz? Die entscheidende Frage war, wie war es da hin gekommen?
Sollte er sie wegen des Wochenendes fragen? Aber was, wenn es schief gehen sollte? Was, wenn er sich Hals über Kopf in sie verliebte und sie dann beim näheren Kennenlernen doch nicht mehr attraktiv findet?
Die gesamte Heimfahrt dachte er über diese Fragen nach und ehe er es sich versah, stand er vor der Tür seiner Wohnung.
Langsam, als ob er es verhindern wollte, schloss er den Eingang zu seiner Bleibe auf. Es wirkte alles sehr verlassen, als ob sich niemand darum kümmern würde. Die Blumen fingen an zu vertrocknen, wenn er sie doch mehr pflegen würde. Auch die Bilder sehnten sich danach, dass jemand sie von dem Staub der vergangen Zeit befreien würde, aber für wen sollte er das tun?
Seine ehemaligen Klassenkameraden waren schon vor Jahren, entweder für das Studium oder danach weggegangen. Nur er war geblieben.
Die Stellung hatte er gehalten, warum aber blieb das Gefühl, den Kampf verloren zu haben?
Kurz nachdem er seine Ausbildung abgeschlossen hatte, wurde er von einem guten Freund gefragt, ob er nicht Lust hätte, mit nach Kanada zu kommen, für fast ein Jahr. Eigentlich hatte nichts dagegen gesprochen, oder? Durch seine Ausbildung hatte er etwas angespart, das er hätte nutzen können und seine Familie hätte ihn bestimmt auch unterstützt und arbeiten wollte und durfte er auch, durch das Working Holiday Visa. Wen hätte er denn enttäuschen sollen? Seine Eltern? Sie wären stolz auf ihn gewesen. Seine Freunde? Nein, denn er hätte mit ihnen per ICQ, Skype oder E-Mail in Kontakt bleiben können. Es gab also keine logischen Gründe dafür, dass er nicht gefahren war. Was war es also dann gewesen? Es war nicht die Angst vor dem Versagen gewesen und auch nicht die vor dem finanziellen Verlust, eher die Angst vor der Veränderung. Früher im Kunstunterricht mochte er nicht alle Farben, die der Farbkasten bereithielt, genau wie alle Aspekte seiner Persönlichkeit. Aber was würde passieren, wenn er sich verändern würde? Würden dann eventuell die negativen Aspekte seiner Persönlichkeit überwiegen? Er würde es nie erfahren, denn die Chance, die sich ihm damals geboten hatte, würde sich ihm nie mehr bieten, oder?
Er war allein in der Welt. Irgendwie hatte er den Großteil seiner Freunde verloren oder zumindest schien es ihm so. Warum war es für ihn so schwer allein zu sein, früher hatte es doch auch geklappt, als er nur einen Freund besessen hatte. Aber nun verstand er den Satz, den er einmal gehört hatte: „Die größte Angst ist, alleine gelassen zu werden.“ Früher hätte er so viele Vorteile aufzählen können, die für das Alleinsein sprachen, aber den einzigen, den er nicht hätte überzeugen können, war er selbst und das war, seiner Ansicht nach, das eigentliche Problem.
Das Brot und die Salami verstauten sich automatisch. Sein Blick fiel auf die Uhr, die seit Jahren ihren Dienst an der Wand verrichtete. Es war 5 Minuten nach 6 Uhr. Erschöpft ließ er sich auf sein Sofa sinken und dieselbe Frage, wie schon seit Jahren, gelangte in sein Bewusstsein. Was hast du eigentlich erreicht? Aus Reflex zeigte sein Finger auf die Urkunden, Zertifikate und Auszeichnungen, die überall an der Wand hingen. Im Prinzip hatte er schon viel erreicht, für seine gerade einmal 25 Jahre. Es stimmte, dass er ein Talent für die Naturwissenschaften besaß, aber während seines Zivildienstes hatte er auch gemerkt, das er ein Talent in der Arbeit mit Menschen besaß, auch hatte ihm diese Tätigkeit viel Freude bereitet, aber ein Bekannter riet ihm, dass er doch lieber einen wissenschaftlichen Beruf ergreifen sollte. Sein Chef im Zivildienst hatte ihm etwas anderes gesagt. Er hatte sich seine Worte gemerkt und immer wieder klangen sie in seinem Kopf: „ Du hast hier gute Arbeit geleistet und man konnte sich auf dich verlassen. Bei dir war viel Herzblut und Einsatz zu spüren. Das ist nicht bei jedem so und man kann das nicht voraussetzen. Danke nochmal für deine Arbeit.“ Mit diesen Worten war er offiziell aus dem Zivildienst entlassen worden. Vielleicht war das ja ein Zeichen gewesen, das er einfach ignoriert hatte. Es könnte sein, dass das der Anfang seines Niedergangs gewesen war. Denn nun war er am Ende, er wusste nicht, wohin er sollte. Er war eigentlich noch in dem Alter, in dem er sich neu orientieren konnte. Er wusste, das Bafög bis 31 gezahlt wurde, aber würde er dieses Wissen nutzen? Vielleicht könnte er ja trotzdem die Kassiererin im Lidl ansprechen. Es sprach ja trotz allem nichts dagegen, oder?
Langsam erhob sich der Körper und seine Füße führten ihn zum Fenster und seine Augen schauten hinaus.
Viele Regentropfen begehrten Einlass, da hatte er doch noch einmal Glück gehabt, denn wenn dieser Regen ihn erwischt hätte, dann wäre seine dünne Windjacke ohne jede Chance gewesen und er nur noch ein leichtes Opfer für das Wasser. Vielleicht hätte er sich den Tod oder schlimmere Krankheiten geholt, denn der Regen klatschte nicht von allein gegen die Fensterscheiben. Auch die Bäume beugten sich schon recht stark dem Wind. Es war schwer, etwas zu erkennen, dennoch sah er die erleuchteten Fenster des gegenüberliegenden Cafés. Früher war er dort öfters mit einigen Freunden gewesen und er hatte die verschiedensten Liebespaare dort gesehen. Die einen, die sich nur verträumt ansahen, manche stritten sich kurz und andere, die einfach miteinander sprachen. Eins hatten sie alle gemeinsam, denn in ihren Augen leuchtete etwas. Irgendwas wovon er nicht wusste woher es kam, aber ein Trainer, den er schon seit seiner Kindheit kannte, sagte zu ihm, dass er ein Leuchten in den Augen hätte, während er Trainingseinheiten leitete. Aber ob das stimmte, da war er sich nicht so sicher.
Traurig beschloss er zu Bett zu gehen.
Am nächsten Morgen wachte er schon um 7 Uhr auf. Müde rieb er sich die Augen. Das war wirklich eine schlechte Nacht gewesen. Es war, als ob der Sandmann sein altes Ego geschickt hatte und ihm für diese Nacht den Job überlassen hatte. Der Tag hielt anscheinend nichts Gutes für ihn bereit, zumindest nach dieser Nacht. Aber wollte er eigentlich, dass es weiterging? Wollte er den Trott weiter beibehalten? Irgendwie wünschte er sich eine Entscheidungshilfe. Irgendetwas, das ihm sagte, was er machen sollte, denn so wie es jetzt lief, wollte er nicht mehr. Er wollte sich nicht immer mit den gleichen Gedanken aufwachen und diesen Fall gab es nur zwei Wege. Entweder er ging aus dem Leben oder er änderte es. Aber wie sollte er es entscheiden, denn, wenn er ehrlich zu sich war, glaubte er nicht, dass er die Kraft für die Veränderung besaß. Aber er wollte den Zufall entscheiden lassen, denn der Zufall war unparteiisch und versuchte nicht, einen zu täuschen. Er schaute auf sein altes Beistelltischchen, was neben dem Sofa stand und entdeckte eine Kupfermünze, die er irgendwo gefunden hatte. Kopf er blieb und veränderte seinen Lebensweg und Zahl war der gute alte Suizid. Einen Abschiedsbrief hatte er seit Jahren in der untersten Schublade seines Nachtschränkchen lagern, keiner hatte ihn bis jetzt gesehen, wer auch?
Also dann, los ging‘s. Zögerlich schnipste er die Münze in die Luft. Scheppernd landete sie auf dem schwarzen, kleinen Tisch und begann sich zu drehen. Nervös beobachtete er die Münze, vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, sein Leben einer Münze anzuvertrauen. Sein Magen schien diesen Gedanken zu teilen, denn ihm wurde etwas flau. Der Regen trommelte weiter gegen das Fenster und schien stärker zu schlagen, als ob er hoffte, so den Vorgang zu unterbrechen und die Münze drehte sich, also ob sie ihm auch nochmal die Chance zur Umkehr geben wollte. Unruhig stand er auf und lief durch das Zimmer. Er schaute aus dem Fenster und fragte sich, ob er sich weiter sagen lassen wollte, was er tun sollte, denn die Münze würde nur ein weiterer Befehlsgeber sein. Entschlossen ging er zum Tisch, schnappte die Münze, bevor sie kippen konnte und steckte sie in die Tasche, egal was gekommen wäre, er hatte heute noch etwas zu tun, denn es gab ein nettes Café in der Nähe des Lidl Supermarktes.