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Hetzjagd
„...vielleicht beim nächsten Mal.“
* * *
Mein Schädel brummt und ich versuche mich aufzurichten, mich auf meinen Handflächen abzustützen. Doch ich rutsche immer wieder weg, ich bin noch zu schwach. Aber wo... wo bin ich hier überhaupt?
Ich reibe mir die Augen und kann meine Umgebung noch nicht klar wahrnehmen. Das einzige, was ich bemerke, ist dieser weiche, feuchte Grund. Ich taste vorsichtig auf dem Boden herum. Das muss Erde sein. Bin ich ausgesetzt worden? Was ist gestern überhaupt passiert? Habe ich vielleicht etwas zu viel getrunken? Mir schießen tausend Ideen und Gedanken durch den Kopf.
Langsam wird meine Sicht ein wenig klarer und ich kann mein Umfeld ausmachen. Was ist das hier? Sieht aus wie eine Höhle. Jedenfalls ist es düster, stickig, feucht und still. Nur ein nervtötendes Tropfen unterbricht diese Stille und kurz unter der Decke hängen Kerzen, jeweils in einem Abstand von ungefähr zehn Metern zueinander. Sie sorgen anscheinend für die einzige Beleuchtung in diesem Loch.
Mit aller Kraft stehe ich auf, klopfe mir den Dreck von den Händen und sehe mich um. Ich scheine mich in einem etwa fünf Meter breiten Gang zu befinden, der rechts und links von Wänden umgeben ist, die in die Höhe führen und sich dort verbinden. Alles sieht so unbekannt, fremd und beängstigend aus. Ich muss wohl nicht ganz bei Verstand sein, wie bin ich hier rein gekommen? Langsam kratze ich mich am Kopf und werfe meine langen, schwarzen Haare nach hinten. Plötzlich stelle ich ein Gewicht auf meinem Rücken fest, das mich veranlasst nach hinten zu greifen. Dann löst es sich und fällt in den Morast. Ein Rucksack? Warum habe ich einen Rucksack getragen? Ich bücke mich, schnappe ihn mir und versuche ihn zu öffnen, was mir aber nicht gelingt. Der verfluchte Reißverschluss muss klemmen. Ich lasse es sein und setze ihn mir wieder auf. Dabei wird mein Blick von einem leichten Glänzen abgelenkt. Irgendetwas muss da hinten im Schlamm begraben sein. Ich laufe dort hin, falle auf die Knie und suche wühlend nach dem Gegenstand, der das Glänzen verursacht hat. Dann spüre ich einen Griff und reiße ihn aus dem Dreck. Ein Messer? Was soll ich denn mit einem Messer? Es lag hier wohl nicht umsonst, also nehme ich es besser mal mit. Ich stehe wieder auf und meine rechte Hand hält den Griff so fest sie nur kann, da er schnell meinen kleinen, zarten Fingern entweichen könnte.
„Lauf!“, höre ich auf einmal eine seltsame Stimme rufen. Was? Wer war das?! Ich drehe mich panisch um, doch bemerke niemanden. Habe ich mir das nur eingebildet? Höre ich jetzt schon fremde Stimmen? Angst und Unsicherheit machen sich breit. Mit dem Messer in der Hand laufe ich nun los und gucke mich ständig um.
Nach einiger Zeit bin ich immer noch am Laufen, doch erschrecke mich kurz, als jemand hinter mir anfängt zu schreien.
„Bleib gefälligst stehen!“ Ich neige meinen Kopf kurz nach rechts, um zu prüfen, wer mich verfolgt. Scheiße, was soll das? Es ist ein kleiner, dicklicher Junge, der ebenfalls ein Messer in der Hand hält und mir gierig hinterher läuft, so als würde er mich wie ein Tier erlegen wollen oder als hätte er seit Tagen nichts zu Essen bekommen.
„Hey, Kleine! Ich brauche nur dein Geld!“ Lass mich einfach in Ruhe, bitte! Ich habe dir doch nichts getan, verdammt. Woher kommt der überhaupt? Das kann nicht sein. Ich muss einen Gang übersehen haben.
„Aaaah, aaah, nein!“, wieder seine Stimme, doch diesmal ein völlig anderer Tonfall. Sofort drehe ich mich um und plötzlich stockt mein Atem. Ich werde zwangsläufig langsamer, denn ein großer, muskelbepackter Mann bohrt sein Messer durch die Kehle des Jungen, der mich eben noch angesprochen hatte. Er sieht aus wie ein besessenes Monster. Voller Anstrengung fließen Schweißperlen seine Wangen hinunter. Sein Arm vollführt hektische Bewegungen, er sticht brutal auf den Jungen ein. Danach lässt er ihn los und sein lebloser Körper fällt in den Matsch. Mittlerweile bin ich wie angewurzelt stehen geblieben und beobachte das Geschehen. Der Mann dreht den Leichnam des Jungen um und reißt ihm den Rucksack vom Rücken. Er schneidet mit dem Messer ein Loch in den Stoff, wodurch er seine Hand streckt und einen Bündel Scheine herausholt, den er schnell in seinem Rucksack verstaut. Und dann passiert es. Seine weit offen stehenden dunklen Augen richten sich auf mich. Er brüllt wie ein Tier und läuft los. Mein Herz beginnt laut zu pochen und ich höre nichts als meinen eigenen Puls. Ohne lange zu überlegen, fange ich sofort auch an zu rennen. Meine einstigen Träume von einem Studium, einem Freund, zwei Kindern und einer sicheren Zukunft lösen sich innerhalb von Sekunden in Luft auf. Scheiße, ich will doch noch nicht sterben. Bitte, bitte, bitte.
Tränen fallen aus meinen Augen. Ich spüre meine Beine nicht mehr und die Lunge brennt wie Hölle. Immer wieder war ich in Seitengänge abgebogen, um den tollwütigen Mann abzuschütteln, aber diese verdammte Höhle scheint kein Ende zu haben. Hinter mir nehme ich andauernd ein Gegrunze oder Gebrüll wahr.
Als ich in den nächsten Gang abbiegen will, stoppe ich kurzzeitig. Was zum Teufel? Die verzweifelten und Hilfe suchenden Augen eines anderen Jungen starren mich an. Er wälzt sich dort im Dreck und versucht seine schwachen Arme in meine Richtung zu strecken. Nein, ich muss es mir einbilden, das kann nur ein Alptraum sein. Ich halte meine linke Hand vor den Mund, mir wird schlecht und ich glaube, kotzen zu müssen. Der Junge liegt auf dem Rücken und jemand anderes reißt ihm mit seinem Messer die Gedärme aus dem Körper, während er mit der anderen Hand sein nacktes Bein hält, in welches er mit voller Wucht seine Zähne rammt. Scheiße... Wo bin ich hier nur gelandet?!
„Aaarg!“, ertönt es hinter mir, der Mann will nicht locker lassen. Dem Jungen kann ich nicht helfen, also muss ich weiter rennen. Nach ein paar Sekunden blicke ich nach hinten, um die Lage zu checken, doch der Mann ist an der gleichen Stelle stehen geblieben, wo ich eben auch aufschreckte. Nur, dass er dort nicht aus Entsetzen oder Angst Halt macht, wie ich es tat. Er dreht sein Messer elegant in der Hand, sodass die Klinge nach vorn zeigt, spreizt die Kiefer, um seinen Schlachtruf zu brüllen und stürzt sich auf den Mann, der es auf die Innereien des Jungen abgesehen hatte. Ich muss so schnell wie möglich einen Weg hier raus finden. Verdammt, ich muss es schaffen.
Mein Blick begrenzt sich nur noch auf das, was vor mir liegt und meine nackten Füße quälen sich durch den schweren und widerstandsfähigen Schlamm. Ich muss mich auf einen Fluchtweg konzentrieren. Doch dann spüre ich etwas. Meine Gedanken, die sich eben noch um einen Fluchtweg gekümmert haben, sind nun wie schwerelos und scheinen unkontrolliert durch meinen Kopf zu schießen. Ich kann nicht mehr weiterlaufen und meine Beine verwachsen mit dem Boden. Abrupt verkältet sich meine Haut, als würde sie von einer Frostschicht überzogen werden, sodass ich erstarre. Von der Medusa erwischt. Ich sehe dabei zu, wie sich die letzten Ereignisse binnen Sekunden vor meinen Augen abspielen. Die Augenlider werden immer schwerer und fallen schließlich zu. Mit meiner letzten Kraft greife ich noch nach hinten zu meinem Nacken und spüre etwas Kaltes, Glattes, Hartes. Und dann das Nichts. Leere. Stille. Dunkelheit. Nichts.
* * *
„Das war's auch schon für heute. Wir gratulieren jedem unserer Zuschauer, der auf die Nummer Drei gesetzt hat!“, schallt es noch aus den Lautsprechern eines alten Fernsehers, bevor er ausgeschaltet wird. Ein dicker Mann in Unterhemd versucht sich unbeholfen von der Couch zu erheben, lässt seine Fernbedienung auf einen niedrigen Tisch fallen und nörgelt los: „Ach, verdammt! Naja, was soll's...“