Herzwerkskunst
Herzwerkskunst
Von Sebastian Skopp
Es war einer dieser Tage, an dem vor Trübsal, der Kopf zu schwer ist um geradeaus zu sehen. Und so ging ich dahin. Schritt für Schritt, den Blick gesenkt auf meine sich abwechselnd vor und nieder schlurfenden Schuhe.
Wenn man zu Boden schaut, ist der Kopf in den Wolken. Man sucht in der Weite der Leere nach etwas, das gefunden werden will. Also führten meine Schritte, fiel mein Blick in eine Geschichte.
Dort lag es, matt silbern, aufgezogen auf eine ebenfalls silberne Halskette. Ein Herz. Ein Anhänger, von der Größe eines Pfirsichkerns. Es hatte die letzten zwei Tage geregnet. Das Regenwasser und der Dreck der Straße hatten die Kette und ihre Last traurig überlagert. Ich hob es auf und wickelte es in den Ärmel meines Pullovers, um es abzutrocknen und zu säubern. Es war nicht schwer und nicht leicht, massiv und fragil zugleich. Auf der Vorderseite des Herzens blickte mich ein schönes eingraviertes Auge an. Die langen Wimpern erzählten von einer Frau. Ich erkundete die Oberfläche mit meinem Daumen. Eine kurze Hoffnung, dass das Auge sich schließen würde, erträumte ich mir. Aber natürlich geschah nichts. Die Pupille, die Iris, die Lieder, die Wimpern, sie blickten weiterhin zu mir her. Das Medaillon zeigte an der linken Seite eine Erhebung und an der rechten ein kleines Scharnier. Es verbarg etwas in seinem Innern. Ein Gefühl sagte mir, dass es unangebracht wäre, es sofort hier zu öffnen und so verbarg ich es gut geschützt, eingesteckt in meiner Hosentasche und ging Heim.
Hier im Schutz meiner Einsamkeit lag es nun auf dem Schreibtisch, beleuchtet vom runden Lichtkegel der Arbeitsleuchte. Ich trocknete und reinigte es behutsam und wog es noch einmal auf meiner Handfläche auf und ab. „Ich werde dich jetzt öffnen?!“: flüsterte ich. Es wollte seinen Inhalt preisgeben, da war ich mir sicher. Ein leises Klicken und langsam klappte ich den vorderen Teil von links nach rechts. Ein Bild, eine Zeichnung lag dort. Hauchdünne , haarfeine Linien in schwarz und rot auf leicht vergilbtem Papier. In dem Herzmedaillon war eingebettet ein Bild eines zweiten Herzens. Jedoch nicht die Form der Hülle, die die Form der stilisierten Liebe darstellt. Die Zeichnung war eine perfekte Abbildung des Organs. Anatomisch detaillierte Muskeln, Sehnen, Adern und Arterien. Einzelheiten, die so fein dargebracht waren. Es fesselte mich. Man muss unglaublich spitze Federn oder Mienen benutzt haben, um so etwas herzustellen. Und genauso fein muss die Hand und die Geduld gewesen sein. Es raubte mir die Luft. Eine Angst befiel mich. Meine Hände zitterten. Ich klappte es zu, legte es auf den Tisch und stolperte hinaus auf den Balkon. Luft, Luft, mein eigenes Herz raste. Ich atmete und starrte in die, sich heimlich angeschlichene, Nacht. Mit jedem Schluck Klarheit kam ich zur Ruhe. Ich war mitgenommen, ich sollte mich niederlegen. Ich zog mich aus und legte mich aufs Bett. Von hier aus blickte ich hinüber zum Schreibtisch. Die Lampe hatte ich nicht gelöscht. Und so lag mein Blick, in dem sonst dunklen Zimmer, gebannt auf dem Gegenstand, der verschlossen dort ruhte. Er sah so verlassen aus. Dieses Herz schrie vor Einsamkeit. Ich stand auf und holte es zu mir ins Bett. Alle Lichter gelöscht, doch vom Schein des Mondes erhellt, bettete ich die Kette auf einem kleinen Kissen direkt neben meinem Kopf und bedeckte sie mit meiner rechten Hand. So fiel ich in den Schlaf.
Als ich erwachte, hatte ich mich kein Bisschen bewegt. Ich, der ansonsten einen sehr unruhigen Schlaf hat; sich von einer Seite zur anderen wälzt, lag in derselben Position in der ich eingeschlafen war. Meine Hand stetig schützend über das kleine Herz gelegt. Auch mein eigenes Herz hatte im Schutz dieser Zweisamkeit sicher geruht. Zwei Herzen hatten die Nacht miteinander verbracht. Eine seltsame Verbindung war zwischen mir und diesem Schmuckstück entstanden. Zu dieser anatomisch perfekten Abbildung und ebenso zu diesem Auge, das mich nun anblickte. Ich schmunzelte und nahm es in beide Hände. Ich musste herausfinden, wem es gehörte, wer es verloren hatte, wer es vermisste.
Es war Montag und ich musste zur Arbeit. Ein trister Tag in der Routine als Verkäufer von Rauchwaren, wie Tabak, Pfeifen, Feuerzeugen und Ähnlichem wartete auf mich. Ich arbeitete in einer kleinen Trafik im Dorfzentrum. Die einzige Trafik im Umkreis. Wir arbeiteten immer zu zweit, weshalb nie zu viel und nie zu wenig zu tun war. Arbeit, die getan werden musste; Geld das verdient werden wollte. Als ich schon die Türklinke in der Hand hatte, um die Wohnung zu verlassen, blickte ich mich noch einmal um. Ich konnte das verlorene Herz nicht einfach alleine lassen. Es machte mich traurig es dort liegen zu sehen. Und so nahm ich es mit, hängte die Kette um meinen Hals. Diese war lang genug, dass das Medaillon genau auf Höhe meines eigenen schlagenden Herzens, auf meiner Brust lag. Dort wollte ich es spüren. Der Tag nahm seinen Lauf, Herren kamen und kauften Zigaretten, Damen gingen mit ihren Klatschblättern unter den Arm geklemmt. Aber etwas schien ich zu bemerken. Jeder Kunde und auch meine Arbeitskollegin schaute mich sehr wohlwollend an. Blicke die sagten: „ Schön, dass auch du gefunden hast, was du verdienst!“ Und in Gedanken wollte ich schon fast entgegnen: „ Nein, es ist nur…“ Aber natürlich schaute ich nur wunderlich zurück. Als endlich der Feierabend da war, stürzte ich zu mir nach Hause. Ich musste irgendwie mehr in Erfahrung bringen. Und so untersuchte ich alles nochmal ganz genau. Weder Kette noch Verschluss oder die Vorder- oder Rückseite des Anhängers zeigten irgendeine Gravur über die Herkunft. Ich starrte wiedermal auf das Gemälde im Inneren. Ich hielte es ganz nah vor meine Augen, dann ganz weite weg. Legte es nun direkt unter den Lichtschein der Arbeitsleuchte. Kippte es hin und her zwischen meine fingern. Und da sah ich etwas. Minimal, dort war eine Erhebung, ein paar dünne Linien, durchgedrückt von der Rückseite des Papiers. Vorsichtig, ich war in meinem Leben noch nie sanfter gewesen, wie ein Sprengstoffexperte, der den roten Draht durchschneidet versuchte ich das Papier seitlich mit Hilfe einer Nähnadel anzuheben ohne es zu beschädigen. Und es gelang mir die Nadel dahinter zubringen. Ich hob sie leicht an und das Bild löste sich aus seiner Fassung.
M.. Es war nur ein Buchstabe, ein M und ein Punkt. Wessen Herz wurde hier verwahrt. War M. der Künstler, der das Bild erschaffen hatte? Hatte jemand sein Herz verschenkt oder wurde eines gut behütet, um nicht verletzt zu werden? All meine Fragen verlangten nach Antworten. Zuerst machte ich ein Foto. Doch nur vom Verschlossenen Anhänger. Ein tiefes Gefühl von Respekt wollte nicht, dass ich dieses eingeschlossene Geheimnis in die Welt hinaus trug. Ich rief bei der Gemeindezeitung an und schaltete eine Anzeige. Die Besitzerin, das Opfer des Verlustes, musste gefunden werden. Ich ging fest davon aus, dass diese kette um einen weiblichen Hals, auf einer weiblichen Brust gelegen hatte. Das sagte mir in erster Linie die Gestaltung. Kaum ein Mann trägt solch etwas. Sind Männer den Schmuck nicht wert oder sind sie dessen nicht nötig? Das Fundamt war die nächste offene Option, aber die alleinige Vorstellung, dass das Herz in einer dunklen, kalten Schublade, in einem sonst seelenlosen Raum verschwand, erfüllte mich mit zu viel Wehmut. Es gab bereits eine so starke emotionale Bindung zwischen meinem Schatz und mir, die ich heute ähnlich der Bindung zu einem neugeborenen Familienmitgliedes beschreiben würde. Keine Kommunikation, die jemals stattgefunden hätte. Und doch ist mir dieser Mensch, der gestern noch nicht auf dieser Welt war, heute fast gleich wichtig, wie mein eigenes Leben. Er berührte mich, ich berührte ihn. Er brauchte mich, um zurück nach Hause zu finden und ich ihn, um das gleiche zu tun. Denn nun war mein trostloses Leben erfüllt von einem Sinn; einer Aufgabe. Ich sprach mit diesem Gegenstand. Anfangs nur in Gedanken, doch als Wochen und Monate vergingen, erwischte ich mich selbst dabei, wie ihm aus der Küche zurief: „ Mach dir keine Sorgen. Wir werden sie sicher bald finden!“ So als würde ihm eine Vernunft, ein Verstand inne wohnen.
Wer war M.? es war nun ein halbes Jahr vergangen. Niemand hatte sich auf die Zeitungsannonce gemeldet. Niemand hatte nachgefragt. Ich musste, wollte ich wirklich mehr herausfinden, selbst etwas unternehmen. Ich begann ganz offensichtlich. Es ist gemacht worden, hergestelltes Künstlerhandwerk. Die zeitlosen Erinnerungen an Hände, die Metall schmolzen, formten und verzierten. Gedanken, die entwarfen, umsetzten und entschieden, dass etwas, das nach einer Existenz verlangte, nun real werden durfte; perfekt und erschaffen. Geschaffen um zu schützen was wichtig ist. Und wichtig war dieses Herz. Die Abbildung eines Instruments, eines Motors, der im Takt des Lebens schlägt und selbiges erhält. Auch hier war ein Bedürfnis hervor gegangen, ein Antrieb, ein Ruf nach Existenz, nach Sein. Jemand hatte entschieden, dieses kleine Abbild sollte auf Erden zur Wahrheit werden. Hände, Finger, Augen und das Leben in Zeit und Raum des Künstlers waren übertragen worden auf dieses nun vergilbte Stück Papier. Vermutlich signiert mit dem Buchstaben M. All das was hier vor mir lag, war Kunst. Und dort sollte ich recherchieren.
Ich begann bei den Goldschmieden der Umgebung. Ich ging von einem zum anderen und zeigte ihnen mein Medaillon; ließ es sie wiegen und schätzen. Sie beschauten und begriffen. Doch nie ließ ich sie mit meinem Herzen alleine. Wenn der eine Schmuckmacher mit seinen rauen Fingern über das Auge fuhr, durchströmte mich eine zähe Eifersucht. Vielleicht nicht die Eifersucht eines Ehemanns; vielleicht die eines Vaters, der das erste Mal sein Kind in die Hände der Gesellschaft übergibt, der er doch selbst sein Leben lang unweigerlich und blind ausgeliefert war und doch mit ihr vertraut geworden ist.
Juweliere, Goldschmiede und Schmuckmacher hatte ich ausfindig machen können; Fünf an der Zahl. Alle gaben mit in etwa die gleichen Auskünfte: Es ist Silber, es ist nicht sehr alt aber auch nicht neu. Es ist eine Meisterarbeit. Perfektion aus Händen, die das Versuchen nicht mehr benötigen. Sicher ein Einzelstück. Einer, ein junger Schmuckmacher, der erst vor kurzem hierher gezogen war, wollte Fotos machen. Ich denke er war aus dem Norden, das sagte mir sein blondes Aussehen und sein trockener Dialekt. Es erinnerte ihn an etwas, das er in seiner Lehrzeit gesehen hatte. Er würde nachforschen und sich gegebenenfalls dann bei mir melden. Als nächstes besuchte ich zwei Ateliers in der benachbarten Stadt. Vielleicht kannte jemand den Pinselstrich des Maler oder der Malerin. War es ein bekannter Illustrator?
Beide Atelierbesitzer waren sehr interessiert. Auch hier war wohl ein Profi am Werk gewesen. Die feinsten Linien und die definitive Umsetzung der Anatomie, so sagten sie, seien der Beweis dafür. Es wurden oder sollten Bildbände durchblättert werden. Auch hier sollte ich Nachricht bekommen, sobald sie etwas in Erfahrung bringen. Die Initiale M. war ihnen zu vage. Es gab nicht nur einen Künstler, der seine Bilder so signierte. Doch weder Stil noch Ausführung stimmten überein.
Die Zeit verging, das Forschen und Suchen flachte ab. Das kleine Herz nahm seinen Platz in meinem Leben ein. Dort wo vielleicht immer ein freier gewesen war. Als stetiger Begleiter, Zuhörer, als Zweisamkeit, mit einem nicht imaginären Etwas, für das ich doch so viel empfand. Ich mochte das Gefühl, wie es auf meiner Brust lag; sich mit meiner Körperwärme auflud und wenn ich es in meine Hände nahm, diese spürbar zurückgab. Ich mochte dieses Geheimnis, das in mein Leben geraten war und dessen Bewahrer und Entschlüsseler ich doch werden sollte. Ich bin kein gläubiger Mensch. Habe nie gebetet, nachdem ich mich von den Vorstellungen meiner Eltern gelöst hatte. Das Bedürfnis mit etwas höherem, doch nicht wirklich existentem, zu sprechen, kannte ich nicht. Doch nun war es ein Gegenstand, mit dem ich meine Gedanken teilte.
Ich war nicht glücklich gewesen. Trüb war mein Leben. Ich hatte einen Wunsch; einen nach Sinn, nach etwas, dass mein Leben zu einem Ganzen machte. Ich war einsam gewesen. Und nun war das Loch in mir ausgefüllt mit etwas, das wie es schien, Menschen so erschaffen hatten, dass dieses perfekt dort hineinpasste. Mein Leben hatte sich kaum geändert. Arbeitsalltag, die gleichen paar Bekannten, die mich umkreisten. Aber es fühlte sich an wie ein gutes Leben. Ich lebte.
Viele Tage sind vergangen. Es ist Mittwoch, es regnet. Es ist kurz vor halb acht am Abend. Ich bin in der Küche und Koche. Das Telefon klingelt. Ich lasse es läuten. Wer so lange läuten lässt, hat etwas zu sagen. Ich gehe zum Hörer. Greife ihn mit meinen leicht fettigen fingern, nehme ab und lausche. „Ja Hallo?“ „Hier ist Caspar. Sie wissen schon, der Schmuckmacher. Ich habe ja gesagt, es kommt mir bekannt vor; ihr kleiner Schatz. Ich habe bei meinem Meister angerufen und ihm die Fotos geschickt. Er hat seine Beziehungen spielen lassen und die Fotos sind einmal um die Weltgereist. Naja, vielleicht auch nur einmal durch unseren kleinen Kosmos. Aber genaues erkläre ich ihnen unter sechs Augen. Ich unterbrach ihn. Sagte: „ Fantastisch und was heißt das!?“. Er sagt: „ Einen Moment. Hier ist jemand, der sie sprechen möchte. Ihr Name ist Marion.“