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- 27.02.2002
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Herzschlag
Der Puls treibt mich weiter. Schlag für Schlag, durch die Venen der Stadt. Ich, ein kleines Teilchen im großen Lebensstrom. Ich gleite vorbei an anderen Partikeln. Sehe sie. Verliere sie wieder aus den Augen. Pulsierend im alles bewegenden Fluß, einer von Millionen.
Fast schwebend bewege ich mich in den unterirdischen Adern. Sie versorgen alle Teile des Körpers, die Stadt zu der wir gehören, mit Leben. Er quillt fast über, dieser kleine Raum. In ihm Tausende der kleinen Teilchen. Sie werden getrieben, wie ich. Unbewußt bewegen sie sich von Ort zu Ort. Zur Arbeit, in die Lungen, die Nieren und wieder nach Hause. In ihre eigenen kleinen Zellen. Sie alle sind für sich. Sind trotzdem mehr ein Teil des Ganzen als eine Persönlichkeit. Sie alle haben eigene Gedanken, funktionieren aber um den Fluß nicht zu unterbrechen. Ich denke wieder an das Mädchen. Sie ist auch an mir vorbeigetrieben. Ich habe sie gesehen, jedoch nicht aus den Augen verloren. Wir sind umeinander geschwebt, haben getanzt. Sie hat mich mit ihrer Schönheit gebannt. Ich kann sie nicht vergessen.
Der Puls trägt mich weiter. Ich sehe die funktionierenden Teilchen um mich herum. Ich mag nicht mehr dazugehören, mag nicht mehr nur getrieben werden. Ich möchte die Richtung bestimmen. Will nicht mit ausdruckslosem Gesicht von Punkt zu Punkt gleiten. Immer den selben Weg in den Adern verfolgen, um meine Aufgabe im Ganzen zu erfüllen. Ich will zu ihr, wieder den Geruch ihrer Haare aufsaugen, verloren in der Tiefe ihrer Augen in den Tag hinein leben.
Immer noch bin ich im Sog der Venen. Der Herzschlag der Stadt ist schnell und treibend, es ist schwer sich zu lösen. Kurz sehe ich ein herbstlich gefärbtes Blatt an mir vorbeifliegen. Es kommt neben mir zur Ruhe, liegt für einige Sekunden still. Dann fliegt es weiter, hoch in den Himmel, dreht sich um sich selbst, tanzt den Tanz der Unabhängigkeit. Ich sehne mich mit ihm zu tanzen, mit ihr zu tanzen. Ich bekomme sie nicht aus meinem Kopf, versuche es erst gar nicht.
Wieder bin ich in den unterirdischen Bahnen der Stadt. Werde immer noch bewegt, schaffe es nicht auszusteigen. Trotzdem denke ich nur an sie, nehme die anderen Teilchen noch weniger wahr als sonst. Nur ein zerstörtes, abgemagertes und verfilztes Teilchen fällt mir auf. Es schwebt nicht im Strom. Hat sich selbstzerstörerisch dagegen gestellt, hat sich selbst vergiftet um dem Strom zu entkommen. Geht es auch anders?
Langsam gleite ich weiter, entschlossen einen anderen Weg zu finden. Einen Weg mit ihr. Ich stemme mich gegen den Strom, bringe alle meine Kraft auf, um zu ihr zu gelangen. Die Wogen der Arbeitsteilchen branden mir entgegen, ich versuche ihnen auszuweichen, nicht mitgerissen zu werden und schaffe es. Weiter geht mein Kampf gegen den Strom der Stadt. Sie will mich nicht gehen lassen, doch ich bin zu allem entschlossen, nehme in Kauf das große Ganze zu stören. Ich denke nur an unser Wiedersehen.
Endlich bin ich bei dem Mädchen angelangt, daß seit so langer Zeit nicht mehr aus meinen Gedanken verschwindet. Sie ist immer noch so unglaublich wie in meiner Erinnerung. Sie scheint mit Leichtigkeit dem Sog der Venen zu widerstehen, ragt leuchtend aus der Masse der sie umgebenden Teilchen heraus. Als sie mich sieht, beginnt sie sich in meine Richtung zu bewegen. Ohne Anstrengung. Sie hat ihren eigenen Weg des Schwebens gefunden. Als wir uns wieder nahe sind, ich wieder ihr Haar rieche, ihr in die Augen sehe, meine Hände sich um ihre Hüften legen, sie mir über die Wange streichelt, unsere Lippen sich berühren, da höre ich ein Herz schlagen. Es ist mein eigenes.
[Beitrag editiert von: SignoreSalami am 07.03.2002 um 19:51]