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Herzinsolvenz
Herzinsolvenz
"Ach, du bist es. Waren wir verabredet?" Er zog die Augenbrauen fragend hoch, während er wie eine Absperrung im Türrahmen stand.
"Ja, wir hatten es am Sonntag besprochen, dass ich bei dir vorbeikomme, wenn ich mit dem..."
"Du entschuldige, das hab ich wohl vergessen, aber ich hab auch keine Zeit jetzt, hab grad ein paar Aufträge reinbekommen, sind Terminarbeiten." Sie schluckte. "Wir telefonieren am besten, ich melde mich bei dir." Sie hatte ihr "Ja, gut" noch nicht ganz ausgesprochen, da hatte er bereits die Tür geschlossen.
Wie benebelt stand sie davor, unfähig sich zu bewegen. Seine kalten Worte froren sie ein. Aus der Wohnung drang das verhaltene Kichern einer Frau und kurz darauf etwas deutlicher sein kehliges Lachen.
Sie schwankte zum Treppengeländer und umklammerte es, als sei der Boden unter ihren Füßen in eine Schräglage geraten. Dann stolperte sie mit Beinen, die ihr nicht mehr gehörten, wie auf Glatteis einen Fuß vor den anderen setzend die Treppenstufen hinunter. Drei nicht enden wollende Stockwerke lang.
Ihr Kopf, der seinen Gedankeninhalt irgendwo auf dem Weg nach unten verloren hatte, dröhnte. Der Freiraum füllte sich mit schweren Tränen.
Wie in Trance bewegte sie sich auf ihr geparktes Auto zu, setzte sich hinein, startete und fuhr los.
Mit tränenverschleierten Augen fuhr sie auf einen imaginären Punkt in der Ferne zu, bis sie mit einem ohrenbetäubenden metallischkrachenden Knall fest in den Gurten hängend gegen das Lenkrad gedrückt wurde.
Mit einem Schlag war das Dröhnen in ihrem Kopf verschwunden und Gedankenmaterial ergoss sich in ihr Gehirn. 'Du bist grad aus Unachtsamkeit jemandem mit ziemlicher Wucht hinten reingefahren' vermeldeten Gehirndaten.'Steig jetzt aus und klär das!'
Langsam wie in Zeitlupe stieg sie aus dem Auto.
Ein Mann war herangetreten und besah sich die Aufprallstelle.
"Das ist wohl nicht ihr Tag heute, nicht wahr?" Ein kurzer ironischer Blick traf sie und dann lächelte er so entwaffnend, als habe er gerade ein Kompliment gemacht.
Sie nickte schuldbewußt und hätte ihm gerne in Form eines vollständigen Satzes erwidert, dass es ihr Leid täte, aber sie brachte nur einen heiseren undefinierbaren Ton heraus.
"Ich denke, der Schaden hält sich in Grenzen," beruhigte er sie und blickte nochmals auf die Fahrzeuge. "Es sieht so aus als könnten wir beide mit unseren Wagen weiterfahren. Wir sollten Personalien austauschen, den Rest werden die Versicherungen machen."
Diesesmal hinderte sie ein dicker Kloß im Hals daran, ihm zu antworten, stumm zog sie ihre Handtasche vom Beifahrersitz und nestelte unbeholfen an einem Reißverschluß, um ihm danach ihren daraus hervorgeholten Personalausweis entgegen zu strecken.
Erneut ergossen sich Tränen über ihr Gesicht, wohl noch die ungeweinten Reste ihrer Trauer vom dritten Stock, nun aber aus Dankbarkeit. Hier auf der Straße begegnete ihr ein Unbekannter mit menschlicher Wärme, obwohl sie ihm gerade sein Auto kaputt gefahren hatte. Ihr Freund dagegen hatte sie grad eiskalt abserviert.
Und genau diese Gedanken brachten einen weiteren Schub an Selbstmitleid und ließen sie aufschluchzen.
"Nehmen Sie es nicht so schwer, es ist wirklich nur ein kleiner Blechschaden." Er hatte seinen Kopf etwas zur Seite geneigt und versuchte, ihr in die Augen zu sehen. Dann drückte er ihr einen kleinen Zettel, auf welchem er handschiftlich seinen Namen vermerkt hatte, sowie ihren Personalausweis in die Hand.
Sie nickte energisch, wich seinem Blick jedoch rasch wieder aus, weil sie sich ihrer verweinten Augen schämte und überhaupt wogte in ihr ein Gefühl auf, sich völlig unpassend zu benehmen.
Geschäftig wandte sie sich ihrer Handtasche zu und verstaute umständlich den Zettel und den Ausweis darin.
"Ich bin etwas in Zeitdruck. Kann ich Sie denn nun so aufgelöst zurücklassen? Wird es gehen?" Er klang besorgt und wieder kämpfte sie mit diesem Gefühl der Gegensätze.
"Ja, es wird gehen, danke " hörte sie sich mit bleiernschwerer Zunge sagen, die wie ein Fremdkörper in ihrem Mund sich nicht recht bewegen wollte.
Und während sie sich, als sei ihr ganzer Körper in dicken Gips verpackt, mühselig auf den Fahrersitz drückte, sah sie ihn davon fahren.
Mit angestrengter Aufmerksamkeit gelang es ihr ohne weiteren Unfall nach Hause zu fahren.
Als sie den Schlüssel in das Türschloss ihrer Wohnung steckte, fühlte sie sich erleichtert. Ihre Wohnung war eine warme schützende Höhle, in der sie Unterschlupf fand.
Sie streifte ihre Schuhe ab, goss randvoll Rotwein in ein Glas und schaltete ihren Computer an. 'Ablenken, du musst dich jetzt ablenken,' befahl sie sich.
Nach Herstellung der Online-Verbindung klickte sie auf die Seiten der kurzgeschichten.de, die nun in angenehm sanftes Blau getaucht vor ihren Augen erschienen.
Sie zog die Maustaste auf "Neue Beiträge" und öffnete diese Seite mit einem Klick. Ihre Augen suchten begierig die Titel der neu erschienen Geschichten ab. Ein Titel fiel ihr besonders ins Auge, weshalb sie ihn anklickte. Sie nahm einen großen Schluck Rotwein während sich die Geschichte auf dem Bildschirm aufbaute. Dann legte sie ihre rechte Hand auf die Maus, nahm nochmals einen Schluck und begann zu lesen:
Herzinsolvenz
"Ach, du bist es. Waren wir verabredet?" Er zog die Augenbrauen fragend hoch, während er wie eine Absperrung im Türrahmen stand....