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Herz aus Eis

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27.04.2003
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Herz aus Eis

Herz aus Eis

Du hast diese Welt verlassen und ein anderes Reich betreten . Es waren fremde Gedanken, wie Worte, niedergeschrieben in einem Buch. Die Herrscher dieses Ortes, Eis und Stein, sind grausam. Sie werden dich gefangen halten, bis du mit ihnen eins wirst .
Zitternde Finger, die Hände eines Fremden, denn er fühlte sie nicht, krochen langsam über den Stein, während er Gedanken lauschte, die nicht die seinen waren. Er wusste nicht mehr, ob er weiterhin voranschritt, da Gefühl und Sinn sich verloren hatten. Der Wind stahl ihm sein Augenlicht, und die Kälte ließ ihn frieren. Er mochte schon seit einer Ewigkeit an Ort und Stelle verharren, seinen Leib dicht an den Fels dieses Berges pressend. Seine Gefährtin, für ihn nicht weniger ein Geheimnis in diesem fremden Reich, schien bereits vor langer Zeit im blendenden Eis des Windes verschwunden. In das Vergessen hatte sie ihn geführt. Nun war auch sie nur ein Teil dessen, was er verloren hatte.
Furcht erfüllte ihn, wie so oft zuvor in seinem Leben. Doch diese Furcht war eine Fremde, denn sie erzählte ihm nicht von einem nahen Tod. Sie quälte ihn mit der Gewissheit, dass er scheiterte. Seine Gedanken werden schwinden, das Eis wird seinen Willen erfrieren und ihn danach verschlingen. Alles würde verloren sein. Sie würde verloren sein.
Ein weiterer Schritt auf dem eisigen Stein. Erneut tasteten sich die Finger vor und ergriffen Halt. Die Gedanken, die ihr galten, konnten die Herrscher dieses Reiches ihm nicht nehmen.
Doch sie mochten ihn in ihrer Falschheit hintergehen. Der Stein seines Haltes brach. Der eisige Schlund des Abgrundes öffnete sich scheinbar unter ihm - einer gewaltigen Bestie gleich, begierig, ihn zu verschlingen.
Eine fremde Hand ergriff sein Handgelenk und zog ihn zurück. Die Bestie schloss wieder hastig ihren Rachen, als er seinen Rücken erneut an die Felswand drückte.
Nicht einmal Zeit für das Entsetzen eines jähen Falls in die Eisschlucht war ihm geblieben. Atemlos, dem Wind zum Trotz, versuchte er, auf die Gestalt zu blicken, die noch immer an seinem Arm festhielt.
"Der Stein dieses Berges ist so trügerisch wie das Eis." Die Stimme der Frau erhob sich klar über dem wütenden Klagen des Windes. "Kommt, mein Fürst, der Pfad hat bald ein Ende, und eine Zuflucht findet sich nordwärts."
Er vermochte nicht mehr, Erstaunen ob der entschlossenen Kraft seiner Gefährtin zu empfinden. Er nickte nur stumm, zu erschöpft, um zu sprechen oder klare Gedanken zu fassen. So folgte er ihr in die Ungewissheit des Eiswindes und versuchte, nicht den Stimmen der Furcht und des Zweifels zu lauschen, die ihn und seine Schwäche verlachten.
"Ich werde nicht scheitern." Seine Worte verloren sich im Wind, doch sie waren die seinen und schenkten ihm Kraft.

Der Sturm schmetterte zornig gegen den Mauerstein der Nordfeste. Das Gebälk der inneren Bauten ächzte wie das Gebein eines alten Mannes, klagend, wie die hellen, angstvollen Laute des dort untergebrachten Getiers.
Die Tiere wussten, wen der Sturm mit sich führte.
Der Wind trug seltsame Laute herbei. Ein sanftes Tosen erklang und erstarb im beständigen Zyklus. Lauter wurde es, erstarkend und zornig, wie Schwingen von großer Kraft. Es erhob sich über den Sturm, kam näher, immer näher, und das Entsetzen, das die Tiere bereits verzweifelt aus ihren Kehlen schrieen, erfasste die Menschen der Feste.

Tharnin erwachte. Er fror, doch es war nicht die Kälte dieses Ortes, die ihn frieren ließ. Zögerlich öffnete er seine Augen und wandte seinen Kopf umher. Wie seltsam dieser Ort war. Ein anderes Reich .
Eine Wunde im steinernen Leib dieses Berges, eine Höhle wie an vielen anderen Orten und doch fern von allem, was er jemals vertraut genannt hatte. Ein länglicher Schlund, der in den Berg führte, mehrere Manneslängen breit und hoch. Die Wände waren überzogen mit glitzerndem Eis, bizarr gewachsen mit kristallenen Stalaktiten an der Decke dieser Zuflucht. Das Licht brach sich tausendfach und erfüllte jeden Winkel mit tanzender Pracht an einem Ort, an dem die Welt erstarrt schien. Das Licht, es war ein Eindringling und gehörte nicht hierher.
Er setzte sich auf und schaute zu der Frau, die ihn auf dieser Reise begleitete. Sie saß, den Rücken ihm zugewandt, vor der einzigen Quelle der Wärme. Hier, wo alles nur aus Eis und Stein zu bestehen schien, war das kleine Feuer, das sie an einer günstigen Stelle entfacht hatte, ein wahres Wunder. Zwergenstein . Sie hatte einen Vorrat mit sich genommen. Er brennt länger und heißer als es Feuerholz vermag, weswegen die Zwerge eifersüchtig sein Geheimnis hüten und scheuen, ihn an fremdes Volk abzugeben.
Wie wenig er über diese Frau wusste und wie sehr er ihr doch vertrauen musste, ließ ihn schaudern. Ihr Körper war so verhüllt wie der seine, unter all dem festen Leder und den Fellen ihrer beider Kleidung. Doch er hatte nicht einmal ihr Gesicht gesehen, so verborgen es unter dem dunkeln Tuch war, das, mit Ausnahme ihrer Augen, nichts von ihrem Antlitz preisgab. Ihre Augen, sie waren klar wie blaues Eis, ebenso unbeweglich und schienen, niemals von ihren Lidern bedeckt.
Ihm wurde bewusst, dass er sie bereits eine Weile schweigend anstarrte und richtete sich auf.
"Ihr solltet ausruhen." Sie hatte sich nicht umgewandt, als sie zu ihm sprach. Ihre Stimme war ruhig und klar. "Ihr braucht Eure Kraft, auch wenn der Weg nicht mehr weit ist, mein Fürst."
"Ich trage keinen Titel mehr, und ich hege kein Verlangen nach derlei Ehren."
Sie wandte sich ihm zu und schaute mit Augen aus Eis in die seinen. Er hatte seit je her großen Stolz über seine Gabe empfunden, in den Augen anderer lesen zu können, zu sehen, was verborgen ist. Nun blickte er in dieses Eis und sah nichts.
Sie nickte langsam, und es war ihm, als sei dies nicht eine Antwort auf sein Gesuch, sondern eine Antwort auf eine Frage, die sie sich selbst gestellt hatte. "So sei es, Tharnin ."
Er fragte sich, was sie vor ihm verbarg. Wenn sie sprach, schien jedes Wort, mit Bedacht gewählt und in eine Bedeutsamkeit gekleidet zu sein, die er zwar fühlte aber nicht verstand. Er schaute schweigend in ihr verhülltes Antlitz, als würde es die Antwort auf seine stille Frage geben können.
Doch ihre Augen richteten sich rasch auf das Innere der Eishöhle, das am Rande ihres Feuerscheins in Dunkelheit verschwand. Er folgte ihrem Blick und schaute nur eisige Schatten.
"Eistrolle." Ihre Stimme war nur ein Flüstern als sie sich erhob. "Trotz ihrer Größe schreiten sie lautlos auf dem Eis."
Er spürte, wie sich seine Hand selbstständig um den Schwertgriff schloss. Vorsichtig zog er daran und stellte mit kurzer Erleichterung fest, dass es nicht in der Scheide festgefroren war. Er blickte zurück zu dem Ausgang der Zuflucht. Der Sturm hatte an Stärke zugenommen. Ein Ausweg war ausgeschlossen.
"Sie wissen, dass wir sie entdeckt haben!" Sie hatte ihre Klinge gezogen. Ein schlankes Schwert, aus dem Gebein eines riesigen Biestes gefertigt. Runenschnitzwerk zog über die Schneiden bis hin zum Heft. Die Symbole glitzerten in der Kälte und schienen, über die Knochen zu wandern. Eine Klinge der Askaren.
Das Eis dieses Ortes begann, in leisen Klängen zu klirren. Bedrohlich zitterte es und durchbrach die schreiende Stille. Er wusste nun, dass die Kreaturen immer näher kamen.

"Trolle, Drachen und bittere Kälte." Tharnin zog mit grimmigen Missmut die schweren Satteltaschen fest und klopfte anschließend den kräftigen Hals des zotteligen Kaltblutes. "Nichts anderes wird der Norden für uns bereithalten."
Er hatte sich nicht zu ihr umgewandt, doch er konnte ihr Lächeln spüren, den sanften Blick ihrer dunklen Augen, in denen ein winziger Schatz aus Bernstein funkelte. Tharnin hörte, wie das Leder ihres Sattels knisternd flüsterte, als sie sich auf ihr Reittier schwang.
"So beruht deine Sorge auf Geschichten und Mären? Ein Mann deines Standes sollte besserer Kunde zugetan sein."
"Ich weiß genug über die eisigen Lande, um vielerlei Sorgen zu genügen. Die Wege und Wälder bieten vogelfreiem Gesindel Zuflucht, das mit Wölfen und riesigen Graubären um den Vorzug ringt, Reisende der Nordstrasse ihres Lebens zu berauben." Tharnin stieg auf den Rücken seines Kaltblutes. "Und die Khoren sind kaum mehr als ein Volk von Barbaren, doch werden wir gerade auf ihre Gastfreundschaft angewiesen sein." Er blickte sie an. Ihre sanfte Fröhlichkeit mochte eine Herausforderung sein, doch verspürte er keinen Zorn. Tharnin würde an ihrer Seite reiten, sei der Weg auch voller Ungemach und Gefahr. Niemand konnte ermessen, wie viel er dieser Frau verdankte, wie viel er verloren und aufgegeben hatte. Doch es war nicht die Pflicht einer tiefen Schuld, die ihn zu dieser Reise trieb, wie Tharnin begann, sich einzugestehen.
Ihr Lachen klang aufrichtig, und ihre Wangen leuchteten in ihrem Gesicht, das nicht das schönste war, was er jemals gesehen hatte, doch besaß es seinen eigenen, anziehenden Zauber, um dessentwillen viele Frauen sie beneiden mochten.
"Ich trage keine Furcht in meinem Herzen, da ich weiß, dass die Klinge eines Edelmannes über mein Wohl und Leben wachen wird."
Tharnin nickte, doch antwortete er nicht. Er hoffte, dass seine Sorgen nicht zur Wahrheit fanden und er sein Schwert nie mehr würde ziehen müssen.

Eine Kälte kroch den Trollen voraus, in der die Flamme des wärmenden Feuers erstickend wisperte. Ein zischender Atemstoß, tief und ächzend wie brechendes Eis, entwich den Schatten, auf die sie beide angespannt starrten. Tharnin wich einen Schritt zurück. Er wagte es, kurz zu seiner Gefährtin zu blicken. Sie war hinter das Feuer getreten, die Askarenklinge in ihrer linken Hand hinter dem Kopf erhoben. Die andere Hand streckte sie mit gespreizten Fingern den Schatten entgegen, als wolle sie das eisige Grauen herausfordern, das sich darin verbarg.
Tharnins Augen versuchten verzweifelt, die Dunkelheit jenseits des Feuerscheins zu durchdringen. Unzählige winzige Lichter funkelten dort, ein Widerschein der Flammen auf dem Eis der tieferen Höhle. Ihm schauderte, als ihm gewahr wurde, dass einige der Lichter im Schatten wuchsen, während die Dunkelheit rings um diese dichter wurde und das andere Glitzerspiel verschluckte.
Langsam, als spürten sie jenes greifbare Grauen, das, einem Herold gleich, ihre Ankunft verkündete, traten zwei Kreaturen aus dem Dämmerlicht. Der Berg hatte sie aus seinem Leib geboren, und schrecklich waren sie anzuschauen. Der eisige Stein dieser Höhlen mochte sie ausgespieen haben, gekrümmte Leiber, verwachsen und gesplittert wie grauer Fels, riesig, fast zwei Manneslängen groß und bedeckt von dolchgleichen Eiskristallen. Anstelle eines Hauptes wuchs ein steinernes Geschwür direkt aus ihrem Rumpf, verschoben und gebrochen mit zwei tiefen Kratern anstelle von Augen, in denen das Flackern des Feuerlichtes böse funkelte. Ihr Maul war ein rissartiger Schlund, aus dem unförmige Splitter aus Eis und Stein herausragten und den eisigen Atem der Ausgeburten zerteilten.
Dann geschah etwas, dass Tharnin einem Zauber gleichkam. Die Welt versank in Stille. Es war ihm, als würde alles um ihn herum, die Trolle, seine Gefährtin und er selbst, endgültig von der Macht des Eises erfasst. Alles wurde zu Eis. Die Wirklichkeit gefror, was einst bewegt war, erstarrte zusehends und wurde gleichzeitig klar. Er sah die Bestie, wie sie näher kam, ihre grotesken Klauen griffen nach ihm. Es mochte nur ein Augenblick sein, doch er währte eine Ewigkeit, eine stille Ewigkeit, die er nutzte, um dem riesigen Troll auszuweichen. Tharnin spürte, wie der Stahl in seiner Hand Eis und Stein bezwang, wie seine Klinge durch das harte Fleisch schnitt und irgendwo jenseits der Stille die Welt erbebte, als die Kreatur ihren Schmerz beschrie. Die Furcht begleitete ihn nicht mehr. Er hatte sie zurückgelassen im Eis. Der Troll krümmte sich über seine Wunde und spie voller Hass nach seinem Widersacher. Es war ein eisiger Odem, der die Luft gefrieren ließ und sie mit Eiskristallen zerschnitt. Doch in Tharnins erstarrter Wirklichkeit konnte das Eis kein Leid mehr erwirken. Erneut wich er zur Seite und ließ sein Schwert auf die Bestie niedersinken. Er trieb die Klinge tief, zwischen Haupt und Rumpf, in den Leib des Trolls hinein. Sein Schwertheft stieß bis an die steinerne Haut, seine Hände umschlossen fest den Griff. Die riesige Kreatur erzitterte ob der tödlichen Wunde und schlug mit unnachgiebiger Zähigkeit um sich. Sie schmetterte ihren menschlichen Bezwinger fort von sich und starb.
Tharnin war es, als würde er durch eine Wand aus Eis brechen. Die Welt befreite sich aus ihrer Starre, die Stille endete und Schmerz und Furcht kehrten gleichsam zu ihm zurück, voller Zorn, dass er ihnen zu trotzen wagte. So stürzte er zu Boden und vermochte kaum, sich zu rühren. Heißes Blut rann ihm in die Augen, als er benommen nach seinem Schwert suchte. Es ragte immer noch aus dem Leib des toten Trolls hervor. Auf allen Vieren kroch er voran, während er spürte, dass seine Kraft schwand. Er griff nach seiner Klinge und richtete sich zitternd auf. Er vermochte nicht, sie aus dem gefrorenen Fleisch der Bestie zu ziehen.
Tharnin schaute auf, als er, bereits aus der weiten Ferne einer drohenden Ohnmacht, eines kurzen, hellen Lauts des Schmerzes gewahr wurde. Nicht weit von ihm lag der Körper des anderen Eistrolls. Die Ausgeburt war nahezu in Stücke zerteilt worden. Teile des massigen Leibes dampften in einem schwarzen, öligen Qualm. Vor der toten Kreatur kniete die Frau, die ihn auf dieser Reise führte. Ihre Klinge lag neben ihr, glitzernd, als wäre sie mit Reif bedeckt. Seine Gefährtin hielt sich zitternd ihren Schwertarm und hatte ihr Haupt geneigt. Teile ihres Mantels waren ihr entrissen worden, und ihr Haar, weißer als Schnee, fiel lang und frei über ihre Schultern.
Als spürte sie seinen Blick, hob sie ihren Kopf, und Tharnin schaute zum ersten Mal ihr Gesicht.
Dann vermochte er nicht mehr, der Erschöpfung zu widerstehen und sank in ohnmächtige Dunkelheit.

Es war ihm unmöglich, sein Gesicht von ihr abzuwenden, als fürchte er, er würde sie verlieren, sollte er es wagen. Ein beherztes Feuer brannte inmitten des kreisrunden Raumes und erfüllte diesen mit dichter Wärme. Doch die heiße Kraft dieses Feuers schien die junge Frau nicht zu erreichen, der all seine Gedanken galten. Kalt und tot lag sie da, ihre weiße Haut umrandet von ihrem dunklen Haar, wie Schatten, die sich um sie schlossen. Der Schatz aus Bernstein war verborgen hinter ihren geschlossenen Lidern.
Stimmen erklangen gedämpft und jenseitig, sprachen miteinander, erfüllt mit Furcht und Trauer zugleich und beschrieben Worte, die er nicht verstand. Es verlangte Tharnin auch nicht danach, sie zu verstehen.
Ihr gemeinsamer Weg in den Norden war lang gewesen und nicht ohne Erschwernisse. Seine Welt hatte er für sie aufgegeben, hatte allem entsagt, das sein Recht und Erbe war. Es mochte Torheit gewesen sein, die ihn hat fortgehen lassen, doch es war eine befreiende Torheit, die ihn atmen ließ. Tharnin hatte Atem gefasst nach einer blinden Ewigkeit, die ihn einschnürte und ihn zu ersticken drohte mit Schlingen aus Schlechtigkeit, Gier, Falschheit und Gold. Er wäre verloren gewesen, hätte sie ihn nicht vor der schleichenden Finsternis errettet, die alles verschlang, was in seiner Welt existierte.
Nun war seine Vergangenheit und alles, was sich in ihr verbarg, eine ausgehöhlte Erinnerung, wie ein zerbrochenes Schiff, das im Meer der Bedeutungslosigkeit versank. Aus dem Nichts schien diese Frau gekommen, doch nun war sie alles, was Tharnin mit seiner Seele, seinem Geist und seinem Fleisch fassen konnte. Es gab kein tieferes, innigeres Gefühl, das ein Mensch empfinden konnte.
"Sie ist verloren." Diese Worte erreichten ihn. Unbarmherzig durchbrachen sie die Jenseitigkeit und ließen ihn zittern. Tharnin blickte in das Antlitz des alten Mannes. Mit den Jahren seines Lebens hatten die Grausamkeiten und Entbehrungen des Nordens den Khoren gezeichnet. Sein Gesicht war so ausdruckslos wie die felsige Einöde an den nördlichen Grenzen seines Gutes. Mitgefühl, aber auch die Gewissheit des unveränderlichen Schicksals, lag in den Tiefen seiner dunklen Augen. Tharnin starrte hasserfüllt in diese Dunkelheit, war sie doch der Vorbote eines Feindes, den er nicht zu bezwingen vermochte.
Der alte Khore senkte seinen Blick auf das Gesicht der jungen Frau. Er streckte ruhig seine Hand aus, als wollte er sie berühren. Doch er verharrte dicht über ihrem Herzen.
"Drychenhorr. Drachenherz. Herz aus Eis. Der Frostwyrm, ein weißer Drache, hat ihre Seele geholt. Zurück ist nur die Kälte seines Reiches geblieben. Eine Kälte, die kein Feuer besiegen kann. Niemand vermag, sie davor zu bewahren. Durch ihr eisiges Herz wird sie erfrieren. Es ist gleich, wie sehr wir sie zu retten versuchen, denn sie wird dem Eis erliegen." Tharnin vermochte nicht, zu sprechen. Er starrte schweigend in das Gesicht des Mannes. Erneut blickte ihm der Khore in die Augen. Doch diesmal schienen sie nicht, seinen Gast zu schauen.
"Seit unsere Vorfahren in diese Lande kamen und lernten, unter den Klauen des machtvollen Eises zu leben, kommen die Drachen aus den Tiefen der nördlichen Berge zu uns. Es mögen Jahrzehnte vergehen, doch ihre Wiederkehr ist uns seit je her Gewissheit geworden. In manchen Wintermonaten verlassen sie ihre eisige Zuflucht und fallen über unsere Lande her. Ihre Wut und ihre Grausamkeit sind unbeständig wie die Stürme, auf denen sie reiten. Viele meines Volkes fielen ihrem Hunger zum Opfer. Aber diejenigen, die wahrhaft glücklos waren, verloren mehr als ihr Fleisch. Niemand weiß, warum es geschieht, doch manchmal verschonen die Drachen den Leib eines einzelnen Menschen, während alle anderen um sie herum, ihrer Wut zum Opfer fallen. Die, die sie zurücklassen, sind jedoch fern jeden Lebens und Wärme. Sie haben das Auge des Frostwyrm geschaut, so sagt man, und das Eis hat ihre Seele gefroren und sie mitgenommen in den Norden, auf ewig im Besitz des Drachen, der sie stahl."
Der alte Khore schien, durch Tharnin hindurch zu schauen. Die Winkel seines stolzen, geraden Mundes zitterten als er sprach.
"Vor vielen Jahren nahm ein Drache die Seele meiner Frau. Er hat sie mit sich genommen, als ich nicht bei ihr war und in den Wäldern mit den anderen Bogenreitern jagte, so wie Ihr es tatet, als die Nordfeste fiel. Viele Monate vergingen, in denen ich die Kälte bekämpfte, die sie befallen hatte, doch ich verlor und erlitt große Qualen in der Zeit, da ich um sie rang." Seine Augen blickten auf Tharnin und seine Stimme war sanft.
"Gebt sie auf, junger Herr. Es wird für sie und für Euch eine Erlösung sein."
Tharnin erhob sich, während er seine Augen von dem Khoren abwandte und in das Gesicht der Frau schaute. Die Vergangenheit war bedeutungslos.

"Wer ist sie?"
Er versuchte, durch den dämmrigen Rauch des Schankraumes das Gesicht einer Gestalt zu erkennen, die in grobem Leder und Felle gekleidet war. Jäger und Bogenreiter tranken hier den starken Tjarres, ein Gebräu, das die bittere Kälte ihres Landes zu vertreiben vermochte. Die rauen, lauten Stimmen, in der klangvollen Sprache der hiesigen Menschen, tönten unter dem knarrenden Gebälk. Tharnin wusste um die Freiheiten und das Vertrauen, das die Frauen dieses Landes genossen. Dennoch war er überrascht, dass ihn eine Frau in das Gebirge des Nordens führen sollte.
Der Bogenschütze, rotwangig und dunkel, wie die meisten Menschen dieses Reiches, wandte seinen Kopf in Richtung Tharnins zukünftiger Gefährtin und verengte seine Augen während er mit rollenden Worten flüsterte.
"Eine Tochter von Fharnyr, Eiszauberern, wie man sagt. Einige wenige von ihnen leben jenseits der Städte, in Wäldern, Ebenen und Bergen, in denen ewig Winter ist. Niemand vermag es, Euch weiter zu führen, als sie." Der Mann schüttelte den Kopf und schaute in Tharnins Augen. "Niemand würde es auch nur wagen, Euch den Weg zu weisen, den Ihr Euch ersehnt, Herr. Ihr habt Glück, dass sie sich an diesem Ort eingefunden hat. Die Fharnyr kommen nicht häufig zu den Menschen der Siedlungen."
Tharnin wandte seinen Blick erneut der geheimnisvollen Fremden zu. Durch das verrauchte Treiben des Raumes fanden seine Augen die ihren. Augen aus Eis schauten aus einem vermummten Antlitz. Sie blickte ihn nicht wie eine Fremde an, die einen Unbekannten mustert. Sie sah ihn an, wie eine Gastgeberin, die einen lang erwarteten Gast erblickt.
Ihm schauderte, und er fühlte zugleich, wie sein Herz stärker in seiner Brust schlug.

Schmerz und Licht kehrten zu ihm zurück. Augen aus Eis durchbrachen die Dunkelheit. Kalte Hände, sanft und dennoch bestimmt, berührten seine Wunden und schienen, dem pochenden Leid Einhalt zu gebieten.
Die Erinnerung erwachte mit ihm. Tharnin öffnete die Augen und ergriff die Hand, die seine Wange berührte.

"Was ist mit dir?"
Die Berührung ihrer Hand war warm und angenehm, wie die Gastfreundschaft des Gutsherrn, ein alter Khore, der anscheinend großen Respekt unter dem Volk seiner Siedlung genoss. Der Rundraum aus Stein barg ein behagliches Feuer, um das sie saßen. Tharnin war bereit, sich einzugestehen, dass die vermeintlichen Barbaren des Nordens nicht allen Geschichten entsprachen.
Er nahm ihre Hand von seiner Wange, als er antwortete.
"Warum der Norden? Was hat dich hier hergeführt?"
Sie senkte ihren Blick und schmiegte sich an seine Brust. Eine Weile schien sie, nur seinem Herzschlag zu lauschen. Tharnin schloss seine Augen. Seine Unruhe erschien ihm nun töricht, und er dachte bereits nicht mehr an seine Frage, als sie mit leisen Worten sprach.
"Meine Träume sind wie Eis und Schnee. Sie sprechen zu mir in Bildern und Formen. Ich kann sie sehen und ich verstehe sie, doch sie vergehen, schmelzen und nehmen jedwede Erinnerung mit sich." Sie hob den Kopf und sah ihn an, der Bernsteinschatz schien in ihren dunklen Augen zu leuchten. "Ich sehe dieses Land jede Nacht in meinen Träumen. Sein Zauber und seine Kraft umgeben mich. Es ist, als wenn dieser Ort nach mir rufen würde. Ich fühle ein Verlangen in mir, die Grenzen dieses Reiches zu ergründen."
"Was erhoffst du dir, zu finden?"
Sie richtete sich auf. "Ich weiß es nicht. Doch ich weiß, dass ich ohne dich niemals hierher gekommen wäre".
Sie nahm seine Hände und küsste sie.
"Du musst mir vertrauen."

Er hielt die Fharnyr fest, und seine Augen fanden die ihren. Sie ließ ihm ihre Hand, erwiderte seinen Griff jedoch nicht. Ihre Augen blickten aus ihrem verborgenen Gesicht auf Tharnin herab, schweigend.
Er konnte sich daran erinnern, in dieses Antlitz geschaut zu haben, ohne dass es von einem Geheimnis aus grauen Tuch bewahrt wurde. Doch so sehr er versuchte, sich dieses Gesicht in sein Gedächtnis zu rufen, so sehr verschwammen seine Erinnerungen zu ungreifbaren Bildern. Es war, als versuchte er, durch eine Scheibe aus dichtem Eis zu blicken. Er erahnte Vertrautes, doch er vermochte nicht, es zu erfassen.
"Wer bist du?" Seine Stimme war nur ein Flüstern, doch es lag eine verborgene Hoffnung darin, die Verwirrung zu zerschlagen, die seinen Geist quälte.
Sie zog ihre Hand aus der seinen. Tharnin richtete sich auf. Sein Kopf schmerzte, doch er nahm den Blick nicht von der Fharnyr. Einige Herzschläge vergingen in ihrem Schweigen. Dann schlug sie ihre Augen nieder und verbarg zum ersten Mal das Eis darin mit ihren Lidern. Ihre Stimme war klar und erhaben, wie in dem Sturm, der hinter ihnen lag.
"Ich bin die, die Euch auf dieser Reise führt, Tharnin, da ich weiß, was Ihr verloren habt und weiß, wie Ihr es finden könnt. Ich geleite Euch auf dieser Suche, die Ihr Euch selbst auferlegt habt, da nur ich den Weg kenne, den Ihr ersehnt."
Sie öffnete ihre Augen und schaute in sein Gesicht. "Niemand hat es jemals gewagt, dem Flug der Drachen in die Berge zu folgen. Niemand hat jemals versucht, ein Herz aus Eis erneut mit Leben zu erfüllen, sich dem Drachen zu stellen, der es mitnahm. Nicht einmal die Fharnyr haben sich je einem derartigen Wagnis ausgesetzt."
"Doch du bist eine Fharnyr, und du setzt dich diesem Wagnis aus, da du mit mir kommst. Warum tust du das?"
"Auch mir ist eine Bürde auferlegt, so wie Euch. Mein Weg ist mit dem Euren verbunden, denn ohne Eure Hilfe werde ich scheitern, und so ist diese Gunst der einzige Lohn, den ich von Euch für den Weg verlange, den ich Euch weise."
"Was erwartest du von mir? Was ist das für eine Bürde, von der du sprichst?"
Tharnin glaubte, dass ihre Stimme leicht zitterte, als sie sprach. "Nein. Noch nicht. Ich kann es Euch noch nicht sagen, denn ich würde alles zerstören."
Ihre kalte Hand berührte die seine. "Erst müssen Eure Augen schauen, was sich am Ende unserer Reise befindet, dann werdet Ihr verstehen, Tharnin. Ihr müsst mir vertrauen." Du musst mir vertrauen .
Dann sprach sie nicht mehr und verließ den Ort seiner Lagerstatt. Der Sturm jenseits ihrer beider Höhlenzuflucht begann, sich in lichtere Schneewehen aufzulösen. Doch in Tharnins Kopf wollte der Sturm nicht aufhören, der an seinen Gedanken zerrte. Er fühlte tiefe Sorge, als er versuchte, dem Chaos Herr zu werden, das ihre Worte hinterlassen hatten. Er wusste, dass er keine andere Wahl hatte, als die Weisung seiner Gefährtin zu akzeptieren, denn ohne sie wäre er in den eisigen Höhen dieser Berge verloren.
Tharnin erkannte, dass seine Furcht um die Frau, die er zurückließ, zusehends mit der Sorge um seine Gefährtin auf dieser Reise verschmolz. Wie konnte er diese Gefühle erklären? Was geschah mit ihm?

Wenige Stunden nur verstrichen, bis er erneut die eisigen Winde des Bergpasses zu spüren bekam. Noch vor Einbruch der Dunkelheit würden sie die Wyrmhöhlen erreichen, die ihrer beider Ziel waren.
Tharnins Gedanken schienen, an zwei Orten zugleich zu weilen. Es war, als ob sie zu zwei Frauen gehörten, die beide den gleichen Platz in seinem Geiste einnahmen, obwohl es Unendlichkeiten waren, die sie trennten.
Er sollte Vertrauen haben. Es gab einmal eine Zeit, da wusste er nicht einmal, dass es Vertrauen unter den Menschen geben konnte. Nun gab er sich eben diesem menschlichen Gefühl hin, es hatte ihn bereits in diese Lande und sogar in die tödlichen Gebirge geführt. Tharnin fragte sich, ob es ihn gut führte.
So folgte er dem Pfad seiner Gefährtin, fühlte die wachsende Furcht ob der Gefahren, der sie sich näherten und gedachte zweier Augen und einem Herzen aus Eis.

Wenn es jemals Zweifel am Ursprung der nördlichen Berge gab, ein Ursprung, der in alten, arkanen Geheimnissen und unweltlichen Kräften begründet liegen soll, so wären diese Zweifel vergangen, beim Anblick des Ortes, den die Fharnyr die Wyrmhöhlen nannten.
Tharnin glaubte, dass seine erschöpften Kräfte der Grund für diesen Anblick waren, denn er traute dem nicht, was er sah. Die Bergwand aus Eis und Stein, die er kräftezehrend erklommen hatte, endete hier und offenbarte sich als eis- und schneebedeckter Rand eines kleinen Tales, das umringt von hohen Steilwänden war. Gletschereis lag darüber, durchzogen von unzähligen schlundgleichen Öffnungen, riesige Höhlenmäuler, die durch das Eis und in den darunter liegenden Stein führten. Ein unwirklicher Ort, in dessen Zentrum sich die entsetzliche Macht des Nordens entfesselte. Eine gewaltige Windsäule aus aufgepeitschtem Schnee und losgerissenem Eis erhob sich aus den dunstigen Tiefen des Tales und verschwand im Sturmwind des grauen Himmels. Sie wanderte nicht, sie war bewegt und beständig zugleich, eher ein Bollwerk, als eine vergängliche Erscheinung. Tharnin hatte das Gefühl, als würde er das Zentrum der Welt schauen, nicht der seinen, sondern der Welt, in der er einzudringen wagte. Hier, auf dieser Säule aus Sturm und Eis, die weder ein Dach trug, noch einen Grund besaß, ruhte das Reich des Eises und des Steins. Hier band sich die Macht des Nordens. Dies ist der Ursprung der Drachen .
Der Wind strebte von diesem Zentrum fort und verlor sich in den Höhlen des Gletschers. Dort heulte er wie aus tausend Mündern. Es war, als klinge das Klagelied zahlloser verirrter Seelen, die niemals mehr die Wyrmhöhlen würden verlassen können.
Tharnin spürte seine Verzweiflung, wie sie ganz tief in ihm mit kalter Schwere an seinem Willen fraß. Wie sollte ein Mensch die Mächte dieses Ortes besiegen? Wie sollte er finden, was ihm geraubt und an diesen Ort gebracht wurde?
Die Fharnyr war bereits einige Schritte in das Tal hinuntergegangen, als sie sich zu Tharnin umdrehte. Erneut erhob sich ihre Stimme mit sanfter Unmöglichkeit über das Heulen des Sturmes.
"Kommt, Tharnin. Der Hort der Drachen ist nicht mehr weit. Ihr sollt finden, was Ihr ersehnt."
Die Drachen . Die Bestien aus der Kälte dieser Bruthöhlen. Die Seelendiebe. Er würde sie nicht mit ihrer Beute davonkommen lassen. Zorn vertrieb die Verzweiflung, das Feuer seiner Wut zerschmolz die lähmende Kälte seines Willens. Er folgte dem sicheren Schritt der Fharnyr hinunter in das Tal der Wyrmhöhlen.
Je näher sie der Sturmsäule kamen, desto wütender tobte der Wind. Eis und Schnee schlugen ihre Körper, während die Augen blind und die Ohren taub wurden. Tharnin spürte die Hand seiner Gefährtin an seiner Schulter. Sie zog ihn in seiner Blindheit durch den Sturm, der unversehens abzulassen schien.
Er blinzelte, denn es war ihm, als hätte er das Tal gänzlich verlassen und einen weit entfernten Ort betreten. Tharnin befand sich in einem Höhlengewölbe aus Eis, ihrer letzten Zuflucht ähnlich und doch anders. Das Eis der Wände glitzerte hier in einem ewig tanzendem, bläulichen Schimmer, ein Licht, das von dem Eise selbst zu kommen schien. Es spiegelte und brach sich in zahllosen gefrorenen Kristallen. Unweltliche Kraft lag in diesem Schauspiel, und Tharnin spürte, dass kaum ein Mensch jemals diese Schönheit gesehen hatte.
Die Fharnyr führte ihn mit ruhiger Sicherheit durch ein Labyrinth aus kristallenen Höhlen, die erst aus reinem Eis und später aus Stein bestanden, der jedoch ebenfalls ganz mit dem schimmernden Kristall bedeckt war. Tharnin vergaß fast seine Furcht und seinen Zorn, so sehr entrückte ihn der Zauber dieses Ortes. Dann blieb die Fharnyr stehen, als sich das Ende dieser Höhle zu einer schier endlosen Weite unter dem Eis und Stein des Berges öffnete – und dort sah er die Drachen.
Tharnin hatte sich nicht vorstellen können, was ihn erwartete, auch hatte er nicht gewusst, was er tun würde, wenn seine geheimnisvolle Gefährtin ihn zu den Drachen führen würde, die ihm so viel Leid zu gefügt hatten. Nun blickte er in die gewaltige Tiefe dieses Ortes und war unfähig, zu fühlen oder einen Gedanken zu fassen.
Zwischen den Steinen und Kristallen vermochte er, sie zu sehen, die Drachen. Sie schienen eins zu sein mit dieser Welt. Wunderschöne, unsterbliche Geschöpfe, gekleidet in schimmernden Kristall, erfüllt mit der klirrenden Kälte dieser Welt, verwahren sie die Macht der stürmenden Nordwinde unter ihren riesigen Schwingen. Hier schliefen sie, während Eis über ihre Körper wuchs und sie mit Träume aus ihren vergangenen Tagen überzog. Hier erwachten sie, wenn der Nordwind sie rief und sie herabkamen in die Täler der Eindringlinge in ihrem Reich, den Menschen.
Es waren so viele. So weit Tharnin zu schauen vermochte, sah er die schlafenden Drachen. Es waren genug, um alle Menschen des Nordens, die Khoren und Barbaren, mit Leichtigkeit zu zerschlagen. Wenn sie ihren Flug bis in die großen Reiche der Menschen tragen würden, gäbe es auch dort kein Heer, kein Zauber und kein Glaube, die stark genug wären, der Macht der Drachen standzuhalten.
Wie töricht es war, hier her zu kommen, denn nun wusste Tharnin, wie hilflos ein Mensch gegen diese Mächte war. Sein Innerstes war erschüttert. Doch sein Herz flehte ihn an, etwas zu tun.
"Es sind Geschöpfe des Zorns dieser Welt." Er vernahm die Worte der Fharnyr aus weiter Ferne. Sie klangen in der Stille seines Leids. "Sie existierten lange vor den Völkern der Menschen, in einer Zeit, in der die Welt, wie du sie kennst, mit Eis und Schnee überzogen war. Sie waren die Herrscher in einem Reich des Windes und der Kälte. Dann kam die Zeit, da sie sich zurückzogen an diesen Ort und aus der Welt verschwanden. Nur die Drachen wissen, warum sie dies taten. Das Eis folgte ihnen und gab das Land jenseits dieser Berge frei.
Es mag viel Zeit seitdem vergangen sein, und die Völker der Menschen und andere Kreaturen kamen und gediehen. Ein Unglück, dass die Menschen in ihrer Entschlossenheit, ihre Art zu verbreiten, auch in die Nordlande zogen, denn ihre Gegenwart begann, den Schlaf der Drachen zu stören. Die Wildheit, die ihnen innewohnt, ist ein Teil ihrer Seele. Anders als bei den Menschen sind die Drachen Wesen, die eins mit großer Weisheit aber auch Instinkt sind. Es war nie vorgesehen, dass wir neben ihnen existieren. Es liegt in ihrer Natur, uns zu zerstören, auch wenn es nicht ihr Wunsch ist.
In ihren Träumen beherrschen sie ihren Zorn. Indem sie schlafen, schützen sie uns. Wir, die Fharnyr, die Hüter, bewachen den Schlaf der Drachen. Wir sind Auserwählte. Gerufen in den Träumen dieser Geschöpfe, teilen wir unsere Seele mit dem Drachen, der uns rief. Wir spüren die Tiefe seines Schlafes und schenken ihm unsere Träume, wenn der Zorn droht, ihn zu wecken.
Wir werden Geschöpfe des Eises, wie die Drachen es sind. Das Fleisch hat keine Bedeutung mehr für uns, und so lassen wir es zurück. Doch wir sind nicht unsterblich. Wenn ein Hüter stirbt, so erwacht der Drache seiner Seele, und die Folgen sind schrecklich für die Völker des Nordens, denn der Zorn übermannt ihn. Er wird töten und zerstören, bis die Reste der menschlichen Seele in ihm, die Gabe eines Hüters in einem Menschen finden und ein Seelenband mit ihm eingehen. Doch viel Leid wird bis dahin geschehen. Daher beginnt ein Fharnyr, wenn er das Ende seines Lebens nahen spürt, in seinen Träumen einen würdigen Nachfolger zu rufen, dessen Kraft und Wille stark genug sind, den Schlaf der Drachen zu schützen und ihre Träume zu hüten. Nur selten kommt der Ruf zu spät."
Tharnin bewegte sich nicht, er sah sich nicht um. Doch er konnte den sanften Blick ihrer Augen spüren, gleich blauem Eis, das den winzigen Schatz aus Bernstein verbarg. Er konnte sich nicht umdrehen. Er konnte kein Wort sagen. Alles, was er fühlte, waren seine Tränen, die in der Kälte gefroren. Doch er verstand. Die Träume des Drachen waren nach wie vor unruhig. Tharnin ließ sie, die sie nun eine Fharnyr war, nicht gehen, und so konnte sie ihn nicht loslassen. Er hatte nie aufgegeben, hatte sogar Hoffnung gefasst und war bereit, die Reise in seinen sicheren Tod auf sich zu nehmen, da er trotz aller Zweifel an ihr fest hielt. Sie ließ ihn jedoch nicht in den Tod gehen, denn sie erschien, um ihn zu führen, zu beschützen. Er sollte verstehen und nicht sein Ende finden.
Ja, Tharnin verstand. Sie hatte ihn ein letztes Mal errettet.
In den Adel seiner Heimat geboren, gab es für ihn nur ein zweigeteiltes Schicksal – Verderbtheit oder der Tod. Vor dem Niedergang seiner Seele hatte sie ihn bereits vor geraumer Zeit bewahrt. Doch was war er, wenn er all seinen Rang und Titel verwarf? Nichts. Ein Nichts, das in dem Vergessen des Todes eine Erlösung sehen sollte. Doch er hatte sie, die seiner Zuneigung bedurfte und deren Zuneigung ihm einen Sinn gab. Sie hatte immer den Wert seines Selbst gesehen, und niemals zweifelte sie an ihm. Selbst jetzt nicht.
Tharnin verstand. Er drehte sich um und sah ihr in die Augen. Doch er sah den Bernstein nicht.
"Ich werde niemals wissen, wer du jemals warst, woher du gekommen bist und warum du gehen musstest."
Ihre Tränen waren wie geschmolzenes Eis, doch sie gefroren nicht. Er spürte ihr verborgenes Lächeln und fühlte die Wärme in ihrer Stimme, als sie sprach.
"Und ich werde nie vergessen, wer du bist, Tharnin."

So machte er sich auf, ohne ein weiteres Wort, ohne einen weiteren Blick, in der Gewissheit, dass er nicht gescheitert ist, denn er hatte gefunden, was er gesucht hatte.

 

Hallo! :)

Da dies hier nicht nur meine erste Kurzgeschichte hier auf kg.de ist, sondern meine erste überhaupt, bitte ich diejenigen, die Zeit und Lust gefunden haben, meinen Beitrag zu lesen, mir eine richtig knallharte Kritik zu geben, da ich so etwas als Newbie gut gebrauchen kann... ;)

Ich hoffe, die Geschichte findet, der Länge zum Trotz, teilweise Anklang, und ich wünsche Euch viel Spass!

Vimes

 

Hallo Vimes,

willkommen auf kg.de :)

Ich habe Deine Geschichte noch nicht vollständig gelesen, sondern nur den Anfang. Dazu kann ich Dir jedenfalls schonmal was sagen. Eine Kurzgeschichte sollte sofort mitten in der Handlung beginnen, um den Leser gleich mitzureißen. Für mich enthält der ganze erste Abschnitt eine eher vage, poetische Vorrede, die mir trotz vieler farbiger Worte fast gar nichts darüber verrät, wer der Held ist, wo er sich befindet, was er tut und warum. Du versuchst, Fantasy-Atmosphäre aufzubauen. Klar, kann man so machen. Es geht aber auch anders: mit Handlung, Geschehen, Dialogen, greifbaren Charakteren. Letzteres ziehe ich vor, finde es bei weitem interessanter als Deine Herangehensweise. Aber andere mögen das anders sehen. Soweit es mich betrifft, hat Deine Story ihre Chance nicht genutzt: Ich habe sie angelesen und weil der Anfang nicht interessant war, aufgehört.
So, das war jetzt nur ein kleiner Kritikpunkt, aber vielleicht hilft der Dir schon für's nächste Mal.
Mal sehen, was die anderen sagen.

Uwe

 

Hallo Vimes!

Herzlich Willkommen auf kg.de und viel Spaß beim Schreiben, Lesen und Kritisieren!

Du hast eine wirklich sehr gute und durchdachte Story zu deinem Einstand auf der Seite abgeliefert. Eine Geschichte, der anzumerken ist, dass sie häufige Korrekturen durchlaufen ist und deren Autor bemüht war, sie so gut wie möglich zu veröffentlichen.

Sehr gut hat mir gefallen, dass die Geschehnisse nicht chronologisch erzählt wurden, sondern die Vergangenheit dem Leser sich erst nach und nach anhand von Erinnerungen und Einschüben erschloss. Gerade diese Art der Erzählweise stiftet oft Verwirrung und es ist häufig erkennbar, dass der Autor stark bemüht ist, den roten Faden nicht zu verlieren, was bei dir beides nicht der Fall ist. Gut gelöst!

Ebenfalls gut fand ich den Beginn der Geschichte, bei dem der Leser mitten in die Handlung geworfen wird und nicht erst die Charaktere ausführlich beschrieben werden.
Hier ein Punkt, der mir negativ auffiel. Die Handlung verfolgt natürlich Tharnins Weg, aber mir fehlt doch sehr eine genauere Charakterisierung der Protagonisten. Wer ist Tharnin? Wer ist die Frau? Fürst welchen Landes? Vergangenheit der Protagonisten fehlt. Sie bleiben für den Leser ungreifbar, weshalb auch ein Mitleiden, Mitfühlen und Mitgerissen-Sein fast unmöglich wird und der Geschichte viel Glanz verloren geht.

Das Ende, obwohl schon sehr früh zu erkennen war, wer die Fharnyr ist, überrascht. Es ist originell. Dieser Ausgang hat mir wirklich ausnehmend gut gefallen. Die Drachen als großer Feind der Menschen, doch neu daran, die Wesen möchten den Menschen überhaupt kein Leid zufügen. Während der Geschichte wartet man darauf, dass Tharnin als schillernder Held die Drachen besiegen wird und ist wirklich überrascht, auf solch ein durchdachtes und völlig neues Ende zu stoßen. Ich möchte den Ausgang hier nicht darlegen, da einige Leser erst die Kritiken durchgehen, bevor sie Geschichten lesen. ;)

Dein Stil hat mir eigentlich auch zugesagt, wobei aber zum einen extrem viele Sätze nach dem Schema Subjekt-Prädikat-Objekt aufgebaut sind und zum anderen viel zu viele Relativsätze vorkommen, die das Lesen manchmal etwas monoton werden lassen. Mehr Abwechslung wäre von großem Vorteil. Auch könntest du so einige Stellen, zum Beispiel die Kampfszene viel schneller und atemraubender gestalten. Ja, diese Textabschnitte sind mir besonders aufgefallen.
Der Kampf zwischen der Fharnyr/Tharnin und den Eistrollen müsste spannender, mitreissender sein. Hier hast du zu umständlich formuliert und es kann keine Schnelligkeit entstehen.

Einige Stellen, die ich mir markiert habe:

So folgte er ihr in die Ungewissheit des Eiswindes und versuchte, nicht der Stimmen der Furcht und des Zweifels zu lauschen, die ihn und seine Schwäche verlachten.
den Stimmen
Außerdem stolpert man hier, da Stimmen von Furcht und Zweifel doch gerade Schwäche entstehen lassen und nicht über diese lachen.

Vorsichtig zog er daran und stellte mit kurzer Erleichterung fest,
"er" vergessen.

Das Ziel dieser Reise bedeutete ihm nichts, auch wenn er sich beklagte.
Das klingt unverständlich. Andersrum wäre es klar, wenn das Ziel wichtig ist, beklagt man sich nicht über den Weg, aber so?
Hier fehlt auch wieder mehr über Beweggründe und Vergangenheit. Zieht es sie nach Norden, weil sie zur Fharnyr bestimmt ist? Wieso begleitet er sie? Ich mein, es ist klar, dass er sie liebt, aber es fehlt der Hintergrund.

Ihr Lachen klang aufrichtig, und ihre Wangen leuchteten in ihrem Gesicht, dass nicht das schönste war,
Die Verwechlung zwischen dass-das ist dir sehr häufig passiert. Ich zitier jetzt nicht jede Stelle, die ich gefunden habe. Langsam durchlesen, das fällt dir auf. Wenn nicht melde dich, dann mail ich dir die Textstellen, die ich markiert habe.

winzige Lichter funkelten dort, ein Wiederschein der Flammen auf dem Eis der tieferen Höhle.
in denen der Wiederschein des Feuerlichtes böse funkelte.
Widerschein
Außerdem kommen diese beiden Textstellen kurz hintereinander. Diese Wiederholung stört beim Lesen.

Doch die heiße Kraft dieses Feuers schien, die junge Frau nicht zu erreichen,
Erstes Komma muss weg.

beschrieben Worte, die er weder verstand, noch verlangte es ihm danach.
Das ist falsch formuliert. Wenn du "weder...noch" verwendest, muss in beiden Teilen das gleiche Subjekt vorkommen.

Ihr beider Weg in den Norden
Ihrer beider Weg... oder: Ihr Weg...

Sie hob den Kopf und sah ihn an, der Bernsteinschatz schien, in ihren dunklen Augen zu leuchten.
Zweites Komma muss weg.

Sie versuchte nicht, ihre Hand zurückzuziehen, auch seinen Griff erwiderte sie nicht.
So stimmt es nicht. Vielleicht: "Sie ließ ihm ihre Hand, erwiderte seinen Griff jedoch nicht."

Tharnin erkannte, dass seine Furcht um die Frau, die er zurückließ, zusehends mit der Sorge um seine Gefährtin auf dieser Reise verschmolz. Wie konnte er diese Gefühle erklären? Was geschah mit ihm?

Nach diesem Textabschnitt hatte ich mir notiert, dass es zu offensichtlich ist, wer seine Gefährtin ist. Jetzt bin ich mir aber nicht mehr sicher, ob das wirklich so bestehen bleibt, da das Ende der Geschichte sehr überraschend ist. Hier dachte ich: 'Na toll, die Fharnyr ist seine Geliebte, deren Seele vom Drachen geholt wurde. Jetzt zeigt sie ihm den Weg und er befreit sie.' Da dem aber nicht so ist, kann diese Offensichtlichkeit stehen bleiben, finde ich zumindest.

Den Abschnitt, in dem beschrieben wird, wie sie die Drachen erreichen, musst du nochmal genau durchgehen. Du schreibst einmal "Der Drache.", später "wenn seine geheimnisvolle Gefährtin ihn zu dem Drachen führen würde". Gut, vielleicht denkt Tharnin hier nur an den einen Drachen, der die Seele seiner Geliebten hat, trotzdem ist es verwirrend, sind es nun viele oder nur einer? Da es aber eine unüberschaubare Menge an Drachen ist, würde ich hier immer in der Mehrzahl bleiben.

Ach ja, geh die Dialoge nochmal durch. Manchmal schreibst du "du" in der Anrede groß, das gehört klein. Andererseits schreibst du "Ihr/Euch" klein, ich glaube aber, dass das auch nach neuer Rechtschreibung groß gehört.


Ich hoffe, die Kritik hilft dir weiter!
Kitana :)

 
Zuletzt bearbeitet:

@Uwe Post

Selbstverständlich ist Dein Ratschlag für mich sehr hilfreich. Ein ernstgemeintes Dankeschön hierfür von meiner Seite! :)
Daran, dass Du einen wunden Punkt von mir erwischt hast, wird deutlich, wie recht Du mit Deiner Kritik hast. Ich habe Schwierigkeiten, mich kurz zu fassen (und verheddere mich dann mit Nebensächlichkeiten, die sich als wahre "Atmosphären-Killer" herausstellen).
Tatsächlich war der Anfang teilweise so geplant, wie Dein Vorschlag es vorsieht - beginnend inmitten der Handlung.
Meiner Unerfahrenheit als Geschichtenschreiber (und nicht zuletzt meiner Langatmigkeit) ist es zu verdanken, dass ich den Anfang nicht so pfeffrig hinbekommen habe, wie es wünschenswert gewesen wäre.

Ich werde in Zukunft daran arbeiten und versuchen, interessantere Anfänge zu schaffen. ;)


@Kitana

Ein großes Dankeschön für Deine ausführliche Kritik und den damit verbundenen Leseaufwand! Ich weiß die Mühe, die Du Dir gemacht hast, sehr zu schätzen.

Ulkig, dass Dein Lob über meinen Geschichtenanfang genau den Kritikpunkt von Uwe Post umfasst (immerhin passt Deine negative Anmerkung den Anfang betreffend wieder in jene Kritik hinein).

Die Komma und Grammatikfehler werde ich natürlich später berichtigen (ich sollte mir angewöhnen, meine zukünftigen Texte nicht nur auf dem Bildschirm Korrektur zu lesen).

Meine umständlichen Satzgefüge sind die Folge meines "Ich-habe-noch-etwas-zuzufügen-Fetischismus. Deswegen steigere ich mich manchmal in Formulierungsreihen, die mich überfordern (und meiner Geschichte letztendlich geschadet haben).
Damit blähe ich dann den Text zu einer unschönen Form auf.
Zum beschriebenen Kampfgeschehen: Ich selbst empfinde oftmals in vielen Büchern und Geschichten detailreich beschriebene Konflikte langweilig. Ich habe versucht, eine Stimmung der Bedrohung und Kontrolle (Tharnins Gefühl der Klarheit und erstarrten Zeit) zu vermitteln, die mir offenbar nicht so gut gelungen ist. Ich verstehe jedoch Deine Kritik und Forderung nach Geschwindigkeit und Spannung (und werde in Zukunft daran denken).

Die Charakterisierung der Protagonisten habe ich bewusst nur vage verwirklicht (ein Fehler, wie ich einsehe), da sie mir so geheimnisvoller erschienen. Außerdem sollte die Fharnyr (auch in ihrem vergangenen Leben) ein Geheimnis für Tharnin bleiben.
Die Vergangenheit meines "Helden" hatte ich ursprünglich ausführlicher erläutert (die genaueren Umstände seines Neubeginns), ich strich diese jedoch aus Platzgründen.
Wie dämlich, ich hätte einige der unnötigen Nebensätze unterlassen und dafür der Charakterisierung der Hauptfiguren mehr Aufmerksamkeit schenken sollen.
Ab einem bestimmten Zeitpunkt konnte ich meine Geschichte einfach nicht mehr einschätzen (inwiefern die Stimmung aufgenommen wird, wie die Protagonisten verstanden werden etc.).
Die ist wohl der wichtigste und lehrreichste Kritikpunkt für mich.

Die Patzer im Ausdruck und in der Verständlichkeit werde ich ausbügeln (so gut es mir möglich ist).

:)

Ich finde es schön, dass meinem Beitrag so schnell geantwortet und mir handfeste Ratschläge erteilt wurden.
Über weitere Verbesserungsvorschläge und Kritiken würde ich mich sehr freuen und hoffe, in Zukunft wertvollere Beiträge zu leisten.

Vimes

Edit: Ich habe die "handwerklichen" Fehler, auf die ich freundlicherweise aufmerksam gemacht wurde, den Vorschlägen gemäß behoben.

 

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