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Herz über Kopf
Herz über Kopf
Tief unten am Grund der Lagune, gleich am Rande des Riffs, schimmerte das Sonnenlicht durch das Wasser auf eine farbenprächtige Korallenlandschaft. Bunte Fische schossen durch das flimmernde Grün und ab und zu wühlte sich ein brauner Krebs durch den feinen weißen Sand am Boden.
Inmitten dieser grün schillernden Unterwasserwelt lebte glücklich und zufrieden ein kleiner roter Seestern. Irgendwann einmal hatte eine launische Meeresströmung ihn als winziges Seestern-Ei hier in die Lagune getragen und obwohl er der einzige Seestern weit und breit war, fühlte er sich garnelen-wohl. All das viele Seestern-Futter war für ihn allein, er musste es mit niemandem teilen, nie war ein Versteck oder eine Höhle von einem anderen seiner Art besetzt, und so geriet er kaum in Gefahr, von einem anderen Tier gefressen zu werden. Wenn es danach gegangen wäre, hätte er ewig so weiterleben können – und doch, je älter er wurde, desto merkwürdiger fühlte er sich: etwas fehlte ihm ...
Er bemerkte, dass die meisten anderen Tiere, ob nun Krebse, Garnelen oder Fische, zu zweit durch das Korallenmeer zogen. Oft konnte er beobachten, wie sie verliebte Tänze im Wasser aufführten und mit entzücktem Flossenflattern spielerisch hintereinander herjagten, und irgendwie wurde ihm dann so weh ums Seesternherz ...
Da gab es nur eine Lösung: Der rot leuchtende Seestern beschloss, sich sofort auch zu verlieben!
Doch das war gar nicht so leicht in die Tat umzusetzen! Zunächst versuchte er, eine rot gestreifte Putzergarnele für sich zu interessieren, immerhin trug auch er diese prächtigste aller Farben! Doch irgendwie flüchtete sie auf ihren langen, stakeligen Beinen immer, sobald er auch nur in Sichtweite kam, und so gab er es bald auf, ihr mühsam durch den Sand hinterher zu kriechen. So ein unhöfliches Geschöpf, ihm immer wieder wegzulaufen!, dachte er enttäuscht.
Die Fisch-Damen, die er freundlich anstupste, wenn sie sich mal in seiner Nähe am Boden niederließen, waren ebenso schreckhaft und stoben davon, noch ehe er ein Wort herausbringen konnte. Der Seestern war ratlos.
Da wollte er sich doch so gern verlieben, bloß – in wen nur?
Als er wieder einmal suchend von einer Koralle zur nächsten kroch, fiel sein Blick auf eine Gruppe der merkwürdigsten Gestalten, die er je gesehen hatte. Erst hielt er sie für kleine gebogene Algenästchen, die die Strömung vielleicht von ihrer Mutterpflanze abgerissen hatte, aber bald merkte er, dass sich diese geheimnisvollen Wesen aus eigener Kraft senkrecht im Wasser bewegten.
Staunend kroch der rote Seestern näher heran. Die seltsamen Ast-Wesen schwebten kurz über ihm und nahmen nicht Reißaus! Eins sah sogar neugierig zu ihm herab und kam dann langsam näher. Der Seestern konnte erkennen, dass das Tier kleine, fast durchsichtige Flossen an den Seiten hatte, die sich schwirrend schnell durchs Wasser bewegten, so dass man sie kaum sehen konnte. Wie interessant!
„Bist du ein Fisch?“, fragte er, alle Höflichkeit vergessend, so fasziniert war er. Das Wesen nickte zutraulich: „Wir sind ganz besondere Fische, wir sind Seepferdchen! Mein Name ist Hippocampa, freut mich, dich kennen zu lernen!“
„Das ist sie, das Wesen meiner Träume!“, dachte der Seestern, und ehe er sich versah, war er bis über alle seine fünf Arme Herz über Kopf in Hippocampa verliebt.
In den folgenden Tagen erlebte er die glücklichste Zeit seines bisherigen Meereslebens. Zusammen erkundeten sie die Lagune, und obwohl der Seestern nicht so schnell am Boden vorankam wie sie, wurde Hippocampa niemals ungeduldig. Er dachte sich für sie die schönsten und kunstvollsten Drehungen und Wasser-Purzelbäume aus, die sie sogleich unter Kichern und Lachanfällen ausprobieren musste. Bewundernd sah der Seestern zu ihr hinauf, es kribbelte in seinem Bauch wie von tausend Wasserflöhen und er träumte von der Zukunft ...
Doch gerade an dem Tag, als er sein Herz in alle fünf Arme nehmen und ihr seine Liebe gestehen wollte, kam sie zum Meeresboden herab, um sich von ihm zu verabschieden. Ihr Schwarm wollte zurück zu den Seetangwiesen, wo alle Seepferdchen zusammen lebten, ihr Ausflug in die Lagune war zu Ende. Mit einer ihrer zarten Flossen streichelte sie dem sprachlosen Seestern über den Kopf , hauchte ihm noch einen Abschiedskuss zu, dann verschwand sie mit den anderen Seepferdchen über den Rand des Riffs in die dunkle Welt des tiefen Meeres, in die ihr der Seestern niemals folgen konnte.
Der rote Seestern blieb allein und unglücklich in der Lagune zurück, vor lauter Liebeskummer verlor er sogar seine leuchtenden Rottöne. Blass und mutlos trauerte er seiner großen Liebe nach und es dauerte lange, bis sein gebrochenes Herz zusammenheilte, nur ganz langsam fasste er sich wieder. Wenn er jetzt an Hippocampa dachte, erinnerte er sich fast nur noch daran, wie viel Spaß sie gehabt hatten, dort zwischen den Korallen beim Seepferdchenkopfstand, nur noch ab und zu hörte man von ihm einen marianengrabentiefen Seufzer. Die Zeit verging und täglich fühlte er sich unternehmungslustiger. Auch sein Appetit war zurückgekehrt und seine Fangarme hatten ihr gewohntes Korallenrot wieder.
So entschied er, sein Bündel mit ein paar Vorräten zu packen und eine große Rundreise durch die Lagune zu machen. Sicher gab es viele Stellen dort, die er noch nie gesehen hatte. Das würde ihn auf andere, neue Gedanken bringen!
Und vielleicht traf er unterwegs doch noch irgendwo eine hübsche Seestern-Dame, die sein großes Herz als Geschenk annehmen würde ...