Mitglied
- Beitritt
- 30.05.2016
- Beiträge
- 15
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 13
Herr von Goldschein und Horst
„Ich habe den Kunden praktisch ganz alleine an Land gezogen. Sie als Vorstand wissen ja, wie das ist mit den Angestellten. Man muss denen jeden Schritt haargenau erklären, damit sie es kapieren. Es ist aber klar, dass sie davon nichts verstanden haben. Wenn ich schon fast fertig bin, traut sich einer von denen vor und fragt nochmal, was sie eigentlich tun sollen. Wie einfach wäre es, wenn die einfach mal mitdenken würden“, erklärte Horst.
Herr von Goldschein lehnte sich genervt in seinem Stuhl zurück. Er ließ den Blick durch den Innenraum des Restaurants schweifen und stellte fest, dass er und sein Begleiter alleine waren. Er war gerade auf dem Weg nach Hause gewesen, als ihn sein Kollege gefragt hatte, ob sie nicht zusammen etwas essen gehen wollten. Hätte er doch nur abgelehnt.
„Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es unmöglich ist, gute Angestellte zu bekommen. Selbst wenn man tausend Bewerbungsgespräche führt, kriegt man höchstens den Einäugigen unter den Blinden. Am Ende bleibt doch alles an mir hängen!“, führte Horst fort.
Seitdem sie an dem kleinen Tisch in der Mitte des Raums saßen, redete er ununterbrochen. Zuerst hatte sein widerwilliger Gesprächspartner noch ein, „Achso“ oder ein „Aha“ eingestreut, doch jetzt starrte dieser wortlos auf die beige Tapete. Sie wurde von kleinen Lücken unterbrochen, durch die der Putz zu sehen war. Er meinte, eine leichte Verfärbung an den Rändern sehen zu können. Einen grünlichen Schimmelschein. Unter normalen Umständen hätte er wohl Ekel empfunden, doch unter dem Wörterbeschuss seines Begleiters verwandelte sich der schäbige Raum in die Sixtinische Kapelle.
„Und bezahlt werden, wollen die wie die Könige. Sie sehen ja in was für bescheidenen Restaurants ich esse. Warum? Weil ich genügsam bin. Ich brauche nicht viel zum Leben und ich arbeite so viel, weil ich der Firma helfen will“
„Wie fährt sich übrigens dein neuer Ferrari? Sind das nicht tolle Autos?“, fragte Herr von Goldschein in gespieltem Interesse. Seine Aufmerksamkeit galt inzwischen seiner Hand und dem Siegelring seiner Familie. Er strich mit dem Finger über die Inschrift, die sein Vater gravieren lassen hatte, und lächelte. Sein Vater war ein schwacher Mann gewesen. Er las den ganzen Tag und spendete sein Geld, anstatt es zu vermehren. Als Höhepunkt seiner Realitätsentfremdung hatte er dem Familienerbstück seinen Lieblingssatz aus irgendeinem Buch aufgezwängt. Eine Warnung für seinen Sohn von Goethe oder war es Mann? Hesse? Als zu lieber Mensch in die Verantwortung geboren, hatte er beinahe das ganze Vermögen verloren und sein Sohn hatte alle Mühe, die Familie wieder auf den alten Stand zu bringen. Herr von Goldschein war ihm nicht böse. Er empfand nur Mitleid, wenn er daran dachte, wie die Leute seinen Vater ausgenutzt hatten. Er hatte sich immer gewundert, was er ihm mit der Nachricht auf dem Ring hatte sagen wollen. Er drehte ihn hin und her, um die Lichtreflektion im geschliffen Topas zu vergrößern. Vielleicht konnte sie ihn ja blind machen.
„Großartige Autos! Aber ich sage Ihnen was nicht großartig ist: heute hat mich doch tatsächlich einer von denen gefragt, ob er früher nach Hause darf“, antwortete Horst, auf diesen Versuch das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.
„Dann habe ich ihm gesagt, er solle sich mal ein bisschen mehr anstrengen. Er arbeitet hier immerhin in meiner Abteilung und damit in der erfolgreichsten des ganzen Konzerns! Ich sage Ihnen mal was: wenn ich wegen jedem Kinderfußballspiel früher nach Hause gegangen wäre, dann wäre unsere Firma heute bankrott!“, er wurde immer lauter und schüttelte dabei aufgeregt den Kopf.
„Ich dachte, du hast gar keine Kinder“, antwortete Herr von Goldschein etwas irritiert. Mit knurrendem Magen sah er sich um und bemerkte, dass der Raum erstaunlich dunkel geworden war. Er sah auf die Uhr und runzelte die Stirn.
„Ganz recht, ich hätte nie so eine egoistische Entscheidung treffen können. Ich bin verheiratet mit der Firma und bin dadurch sehr erfolgreich gewesen, wie Sie wissen. Es muss auch Menschen geben, die ihr Leben der Gesellschaft opfern“, erklärte Horst empört. Er schlug mit der Faust auf den Tisch. Sein Gesicht war stark gerötet und er musste schwer atmen, um weiterreden zu können. Eine Pause vor dem großen Finale. Die Ruhe vor dem Sturm.
Herr von Goldschein sehnte sich nach seinem Zuhause. Nach der schweren Eingangstür, die ihn vom Draußen trennte und hinter der kein Horst zu ertragen war. Er fühlte sich unwohl. Dies war kein Ort, an dem er sich unter normalen Umständen befunden hätte. Er fühlte sich wie ein Fremdkörper. Ein Eindringling in eine Realität, die besser ohne ihn funktionierte. Sollte er eine Entschuldigung erfinden? Einen Termin vortäuschen? Einfach wortlos durch die rettende Tür entkommen? Würde das funktionieren?
Dann bemerkte er die Kellnerin, die auf einmal neben ihnen stand, und atmete dankbar auf. Endlich eine Ablenkung. Horst richtete sich an die neue Person:
„Können wir jetzt endlich bestellen?“
Die Frau antwortete nicht, sondern holte eine Servierglocke hinter ihrem Rücken hervor und stellte sie auf den Tisch. Überrascht starrten sie die silberne Glocke an. Sie reflektierte das Licht der Lampe und warf es, in tausenden Farben, durch den Raum. Ein Schauspiel, das sie völlig in seinen Bann zog, sodass sie nicht bemerkten, wie die Kellnerin wieder verschwand. Der Schein fiel den Geschäftsleuten auf das Gesicht. Sie sahen friedlich aus.
Nach etwas, das sich anfühlte wie ein paar Stunden, erwachte Horst aus seiner Hypnose und hob langsam den Deckel an. Er war überrascht, als er feststellte, wie schwer er war und musste den anderen Arm zur Hilfe nehmen. Die beiden sahen sich völlig verdutzt an und verfielen dann in Gelächter, das von den Wänden schallte. Was sie vorfanden, war ein winziger grüner Punkt auf silberner Fläche. Auf dem Teller lag eine einzelne Erbse.
„Eine sehr üppige Küche haben die hier“, lachte Horst
„Und ob. Ich bin mal so höflich und überlasse dir den ersten Bissen.“
Herr von Goldschein machte eine einladende Geste, um sein Angebot zu unterstreichen und kicherte.
„Nein, dieses Festmahl steht natürlich Ihnen zu“, erwiderte sein Begleiter und tat es ihm gleich. Der Vorstand bedankte sich überschwänglich, immer noch grinsend, und griff nach der Erbse. Sein Arm bewegte sich langsam und genüsslich, wie ein Raubtier, dessen Beute vor Erschöpfung liegen blieb. Kurz bevor er das Ziel erreicht hatte, ließ Horst seinen Arm hervorschnellen und steckte sich die Erbse in den Mund. Dies geschah im Bruchteil einer Sekunde und Herr von Goldschein hatte keine Chance zu reagieren. Den Arm noch in der Luft, floh ihm das Grinsen aus dem Gesicht. Was nun folgte, war Stille. Fest und undurchdringlich. Die Pupillen wanderten von der Erbse weg, zu dem Dieb hin und kamen zum Stehen, als sie ein anderes Paar von Augen erblickten.
„Was fällt Ihnen ein!?“
Er sprang auf, das Gesicht in Wut verzogen. Den Arm benutzte er jetzt, um ihn seinem Gegenüber, mit ausgestrecktem Zeigefinger, vor die Nase zu halten.
„Sie sind ja ganz schön pingelig“, antwortete Horst, auf dessen Gesicht besagtes Grinsen Zuflucht gesucht hatte. Er lehnte sich süffisant zurück und kaute langsam, so als wolle er den Moment auskosten. Er stieß ein lautes „Mhhh“ aus, bevor er schluckte.
Das war zu viel. Herr von Goldschein holte aus, zielte und schlug mit der Faust auf den Kiefer seines Begleiters. Ein Knacken war zu hören und der Getroffene fiel, mit dem Stuhl, rücklings auf den Boden. Die Augen weit aufgerissen, mehr aus Überraschung als aus Schmerzen, versuchte er zu erfassen, was eben passiert war. Dann sprang Horst auf. Wutentbrannt eröffnete er den Gegenangriff, warf den Tisch beiseite, versuchte sich an einem rechten Haken und strauchelte zurück, als dieser abgewehrt wurde. Er fing sich wieder und ergriff abermals die Initiative. Er täuschte einen Schlag von links an, sah wie sein Gegner versuchte ihn abzuwehren, brach ab und legte seine Kraft in einen mächtigen Aufwärtshaken. Ein Volltreffer. Herr von Goldschein taumelte, griff nach der Stuhllehne um sich abzustützen, doch sackte zusammen. Er sah die verschwommene Zimmerdecke über sich, als er auftraf. Horst betrachtete wie der Körper nun, vor Schmerzen winselnd, hin und her rollte. Er rieb sich die Faust, die durch den Hieb einiges abbekommen hatte.
„Ich bin stärker als du. Glaubst wohl, du wärst was besonderes, weil du einen Adelstitel hast!?“, rief er dem Liegenden zu. Er schüttelte seinen hochroten Kopf.
„Falsch gedacht!“
Er trat noch einmal zu und hörte ein Stöhnen, das ihn sehr zufrieden stellte.
Horst machte sich auf den Weg nach draußen. Langsam und sicher stolzierte er in Richtung Tür. Und zurecht, denn er war der Sieger dieser Auseinandersetzung. Hatte gezeigt, wer der Stärkere war. Mit wem man sich nicht anlegen sollte.
Kurz bevor er den Ausgang erreicht hatte, bemerkte er eine Bewegung in seinen Augenwinkeln. Er drehte sich um, sah seinen Gegner direkt vor sich, mit einem glänzenden Ding in der Hand. Er riss die Arme hoch um den Schlag abzuwehren. Zu spät. Mit einem lauten Gong traf die Servierglocke seinen Kopf, drückte die Nase beiseite, schob sich unaufhaltbar nach vorne. Horst wurde nach hinten geschleudert, sein Gesicht entstellt. Er traf, mit dem Rücken zuerst, auf den Boden auf und rutschte noch ein Stück weiter. Der Aufprall presste ihm alle Luft aus dem Körper, was in einem langgezogenen Laut endete. Er hörte sich an wie ein schmerzerfülltes Klagen.
Herr von Goldschein schnaufte schwer und warf die Tatwaffe beiseite. Er fühlte nichts außer Zorn. Im Moment, in dem er den Aufwärtshaken eingesteckt hatte, war ihm alle Rationalität abhanden gekommen. Jeder Gedanke war verschwunden. Es zählte nur, dem Gegner möglichst viel Schaden zuzufügen. Der eigene Körper spielte dabei keine Rolle. Alles nach vorne. Alles in einem letzten Schlag riskieren. Wie eine Maschine war er losgeprescht. Es gab nur ihn, die Essenglocke und den Kopf seines Opfers. Jetzt sah er, wie sein Kollege regungslos auf dem Boden lag. Die Raserei, die über ihn gekommen war, wie eine Flutwelle, ebbte ab, zog sich zurück. Sie legte ein anderes Gefühl frei. Ein erfüllendes Gefühl des Sieges. Ein warmes Gefühl der Überlegenheit.
„Wer ist hier der Chef!?“, brüllte er den Sterbenden an. Er spuckte in die Reste eines Gesichts. Er atmete aus und strich sich durch die Haare, dann zupfte er seine Kleidung zurecht. Er sah, dass sich sein Ring beim Schlag verschoben hatte und rückte auch ihn an seinen normalen Platz. Dabei fiel ihm die Gravur ins Auge: „Der Machtmensch geht an der Macht zugrunde“. Er bemerkte, dass ihn die Kellnerin aus der Küchentür angrinste und zuckte zusammen. Er sprang über Horst und rannte nach draußen, ohne sich noch einmal umzudrehen.