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Herr Staupheimer tut Gutes
Auf seinem Weg zur Arbeit beschloss Herr Staupheimer, etwas Gutes zu tun. Am wirkungsvollsten erschien ihm dazu ein Mord. Alles andere würde in endlosen Bemühungen dahindümpeln.
Er bog in die Straße ein, die einen halben Kilometer lang schnurgerade zur Haltestelle der Straßenbahn führte. Er hatte die Bahn um zehn nach nehmen wollen, hatte dafür aber zu spät das Haus verlassen. Getrödelt hatte er, so fiel es ihm ein. So lange in die Zeitung geschaut, dass es knapp geworden war, und jetzt würde er die Bahn verpassen und zehn Minuten auf die nächste warten.
Aber er beschleunigte seine Schritte. Er richtete sich auf, zog seine Jacke glatt und ließ vor seinem inneren Auge erscheinen, wie er die Bahn noch erreichen würde. Viel zu oft drückte er sich um die Verwirklichung seiner Entscheidungen. Heute war ein Tag des Handelns.
Herr Staupheimer bot einer älteren Frau seinen Platz an. Sie wollte nicht sitzen, danke, sie fahre nur zwei Stationen. Er betrachtete die anderen Fahrgäste. Sie wollten doch alle nur das Gute. Vom beginnenden Tag wünschten sie sich, dass er ihnen gut von der Hand gehe, sie wollten keinen Streit haben und keine unerwartete Rechnung im Briefkasten finden. Die Menschen waren bereit, einander zu helfen, zu vertrauen und anzulächeln. Man muss ihnen Gutes tun, dachte er. Aber wie viel Mühe es kosten würde, sich in einem wohltätigen Verein eine Position zu erarbeiten, dann Geld aufzutreiben, um nach Jahren, von Zeitungsfotografen umringt, einem Kindergarten einen Scheck zu überreichen! Da war er Realist, das würde er nicht durchhalten. Seine guten Taten mussten schnell, wirksam und unwiderruflich sein.
Die Straßenbahn ruckelte über die Brücke zur Innenstadt. Die ältere Frau stand immer noch an der Tür. Staupheimer gegenüber saß ein Mädchen mit blauen Haaren, versunken in der Musik aus ihren Kopfhörern. Zwei Reihen weiter ein Fahrgast mit offenem Hemd und Lederjacke. Ein Langweiler, dachte Herr Staupheimer. Er konnte seine Augen sehen. Sie schauten blitzschnell in der Gegend umher, hatten auch ihn zwei oder drei Mal angeschossen. Eine Kugel in den Kopf wäre sicher effektiv, es brauchte aber Schießerfahrung und natürlich eine Waffe. Puff und tot, das ging nur in Filmen. Einen angespitzten Pfahl durch den Hals zu treiben, wäre sicherlich tödlich, aber zu langwierig.
Der perfekte Mord muss eine Überraschung sein, dachte Herr Staupheimer. Vom Moment des Erkennens bis zur unwiederbringlichen Ausführung darf nur eine Sekunde vergehen, eben die Schrecksekunde. Danach darf höchstens Zeit für einen Aufschrei bleiben. Besser natürlich, die Tötung geschieht lautlos. Kampfschwimmer stechen so zu, dass die Lunge der Stimme keine Luft mehr liefert. Der Schrei bleibt stumm. Er war aber kein Kampfschwimmer.
Das Mädchen mit den blauen Haaren schrieb Textnachrichten. Hatte sie seine Gedanken gelesen und alarmierte jemanden?
„Glauben Sie, dass es einen gerechten Mord gibt?“, fragte er sie. Sie richtete ihre Augen auf ihn, ohne deren Ausdruck zu verändern.
Im Gang lehnte ein Jüngling an einer Haltestange. Er trug Jeans und ein schwarzes T-Shirt mit durchbrochenen weißen Lettern. Man konnte sehen, wie er den Mund verzog. Ihn hatte keiner gefragt. Dennoch antwortete er.
„Naja, Tyrannenmorde“, begann er. „das sind doch gerechte Morde oder? Also, der Anschlag auf Hitler, das war gerecht. Hat halt nicht geklappt.“ Herr Staupheimer hatte sich zu ihm umgedreht. Nun sah er erneut der blauhaarigen Frau ins Gesicht. Die setzte zu einem scheuen Grinsen an.
„Ja“, fistelte sie, als hätte ihr Lehrer sie zu einem Buch aufgerufen, das sie nicht gelesen hatte. „genau. Anschläge auf einen Diktator. Ist schon irgendwie gerecht.“
Die Bahn hielt pünktlich um kurz vor halb. Schräg gegenüber stand ein sehr dicker Junge von seinem Platz auf und bewegte sich zum Ausgang. Er ließ Herrn Staupheimer den Vortritt, der daraufhin überlegte, wie unmöglich sich in dieser Bahn ein Mord begehen ließe.
Zu viele freundliche Menschen, zu viele Schafe, die niemandem schadeten. Ihnen etwas zu tun, würde das Gute nicht voranbringen. Ein Mord müsste sich gegen eine Person richten, die dem Guten im Wege steht. Herr Staupheimer war begeistert von dieser Idee, gab dem Dicklichen einen Klaps auf den Oberarm und sagte: „Danke, Junge!“, aber der grunzte nur und schaute ihm von unten her ins Gesicht.
Herr Staupheimer verweilte an der Haltestelle und sah die Menschenmassen davonfließen. Wer kann das sein, der dem Guten im Wege steht, dachte er. Ihn ausfindig zu machen, den Bremser, den Zerstörer – den Bösen –, ihn aus dem Verkehr zu ziehen, das würde den Mord zur guten Tat machen.
Als er ganz allein war, brach er auf. Eigentlich führte der Weg zu seinem Büro über die breit abgehende Straße. Nun war sie für den Bau einer neuen U-Bahn-Linie über die Länge von zwei Fußballfeldern aufgerissen. An Stelle des vertrauten Wegs gähnte eine Baugrube, die so tief wie breit war.
Wer bequem laufen wollte, musste einen Umweg machen. Herr Staupheimer kannte eine Abkürzung. Durch eine Gasse ließ sich eine überdachte Holzkonstruktion mit Blick auf die Großbaustelle erreichen. Sie lief auf schmalem Grat zwischen Bebauung und Abgrund und führte bis zur nächsten Seitenstraße, wo sie beinahe bei Herrn Staupheimers Büro anlangte. Kaum einer nutzte den Behelfsweg. Dabei war er nicht schwer zu finden und anfangs sogar Gegenstand öffentlicher Diskussionen gewesen. Besorgte Bürger hatten sich empört, dass sie nun von den Kameras aufgenommen würden, die private Firmen zur Überwachung der Baustelle betrieben. Also hatte man die Kameras so ausgerichtet, dass der Weg und ein kleiner Teil der Baustelle nicht erfasst wurden.
Wenn der Behelfsweg also bekannt war, warum gingen die Menschen ihn nicht? Vielleicht trauten sie der Holzkonstruktion nicht, oder das Poltern der Bohlen war ihnen unheimlich. Durch die Fugen am Boden stach die Beleuchtung der Baugrube. Jeder ahnte, in welcher Höhe er dahinschritt. Manchmal stellte Herr Staupheimer sich vor, dass nicht nur die Fugen, sondern auch die Bohlen aus nichts bestünden und er durch die Luft spaziere. Er ließ die Furcht in sich aufsteigen hinabzustürzen, und diese gefahrlose Angst, die Abgeschiedenheit und das Gefühl, mit sich, dem Geräusch der Bohlen und dem Tosen der Baustelle allein zu sein, bereiteten ihm einen eigentümlichen Genuss. Aber nicht jeder hegt solche Gefühle. Die meisten gingen den Umweg, und Herr Staupheimer begegnete oft keinem einzigen Menschen.
Er betrat die kleine Gasse, und es wurde sehr ruhig. Die Bebauung schluckte jeden Lärm. Das ist ein guter Ort, seinen Gedanken nachzuhängen!, dachte er.
War es so schwer, Gutes zu tun? Warum nicht einfach etwas spenden? Das konnte er sich leisten. Sein Haus war fast abbezahlt, dafür hatte er sich auch angestrengt. Herr Staupheimer dachte an die Frau, die in seinem Haus wohnte und inzwischen das zweite Kind geboren hatte. Er kümmerte sich leidlich um seine Kinder, eigentlich konnten sie sich nicht beschweren, aber etwas Besonderes war das nicht. Niemand lobte ihn dafür. Genauso wäre es mit einer Spende. Ein Dankesschreiben, eine Bescheinigung, eine Steuererstattung. Am Ende würde eine unbekannte Person seinen Namen in einen Computer eingegeben haben. Niemand würde ihn sehen. Wenn man etwas haben wollte von seinen guten Taten, dann brauchte man Menschen, die davon zeugten, und durfte nicht auf Datenstrecken verhungern.
Er war fast an der Baustelle angelangt, da fädelte sich vor ihm ein weiterer Fußgänger in den Weg ein. Er kam aus einer Seitengasse, die Herrn Staupheimer noch nie aufgefallen war. Ein schmächtiges Männchen, das mit giftigen Schritten vor ihm herlief. Er trug eine schmale Umhängetasche, die sich mit einem Kurzmantel an seinen Körper schmiegte. Um die kahle Mitte des Kopfes waren ihm Haare geblieben, doch waren sie geschoren oder so blond, dass nur ein schwacher Glanz zu sehen war. Die Bewegungen des Fremden waren zackig und präzise. Doch war er bei geringer Körpergröße trotz energischen Voranschreitens nicht schneller als Staupheimer. Die Baugrube begann an den Häusern zu kratzen, der Weg wurde schmaler und wechselte in den hölzernen Laubengang. Herr Staupheimer folgte dem Fremden mit wenigen Metern Abstand.
Er dachte über Spuren nach. Sie waren ein wichtiges Thema, vielleicht das wichtigste. Was bringt ein gerechter Mord, wenn man gefunden und eingesperrt wird? Besser, nicht einmal die Tat wird entdeckt. Wer einen Mord plant, muss sich minutiös überlegen, welche Spuren er hinterlässt. Etwa an sich selbst. Schäden an der Kleidung, am eigenen Fahrzeug, Reste von Vorbereitungshandlungen oder gar ein Tatwerkzeug im eigenen Haus. Diese Dinge ließen sich noch beherrschen. Dann aber die Spuren, die in die Welt gesetzt werden. Die waren die gefährlichen: Vergessene oder verlorene Gegenstände am Tatort, die Fingerabdrücke, die Hautschuppen unter den Fingernägeln des Opfers. Sie erlaubten kein Eingreifen mehr und wurden, wenn man geschlampt hatte, allenfalls mit Glück übersehen. Das alles war nichts gegen die tiefste und eigenwilligste Spur, gegen den Abdruck, den die Tat in der Wahrnehmung von Menschen hinterließ. Mitwisser und Zeugen waren nicht kalkulierbar. Die Spuren in ihnen tauchten mal hier, mal dort auf. Der perfekte Mord musste ohne Komplizen auskommen und vollkommen unbeobachtet geschehen.
Der Laubengang war eng und verlief in einem weiten Bogen. Inmitten des langen Schlauchs blickte ihnen ein älterer Mann entgegen. Neben sich hatte er einen Rucksack stehen. Keine schlechte Idee, dachte Staupheimer, im Scheitelpunkt der Kurve um Geld zu betteln. So wird man erst spät bemerkt. Wer dem Bettler in die Arme läuft, kann nur umkehren, ihn zurückweisen oder ihm Geld geben. Sich totstellen und den Bettler übersehen, das ist ausgeschlossen.
Der Alte war mäßig ungepflegt. Seine grauen Strähnen umloderten den kahlen Schädel. Sein Gesicht glänzte. Er strahlte.
„Guten Morgen!“ tönte er in geschäftsmäßiger Fröhlichkeit. Die Baumaschinen röhrten, aber er war ein trainierter Sprecher. Der flinke Fremde hatte abrupt angehalten. Herr Staupheimer lief weiter, als habe er nichts mit der Szene zu tun, und blieb wie überrascht stehen, als er fast schon in die zwei anderen hineingelaufen war.
Offenbar hatte der Bettler unhörbar eine Antwort auf seinen Gruß erhalten, denn er wechselte zum Grinsen eines Kindes, das bei einem Fehltritt ertappt wird. „Ach Geld!“, sagte er betulich. „Sie sollen Gelegenheit haben, etwas Gutes zu tun!“ Dann ließ er seinen Blick finster werden. „Ich bin nicht schuld, dass ich hier stehe. Sie können mir glauben. Für die Wohnung haben sie mir dreihundertsechsunddreißig angerechnet, weil ich da angeblich umsonst gewohnt habe. Aber das war bei meiner Mutter, und ich kann Ihnen sagen, die wollte Geld. Immer schon. Dann musste ich raus, und jetzt hab ich gar nichts mehr!“
„Sehen Sie“, begann der schnelle Fremde. „ich würde Ihnen wirklich gerne etwas Gutes tun. Ich kann es nur nicht! Stellen Sie sich vor, ich drücke Ihnen einen Zehner in die Hand. Der ist heute Abend weg. Da haben Sie noch nicht mal gegessen. Höchstens getrunken.“
In einer Zehntelsekunde hatte sich der alte Mann aufgerichtet. „Was glauben Sie? Seit fünfzehn Jahren hatte ich keinen Tropfen! Mein Cousin lag da und ist gestorben, und vorher hat er zu mir gesagt“, und er kniff die Augen zusammen und verzog das Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. „er sagte: ‚Wenn du einen Schnaps trinkst, dann musst du dir vorstellen, wie er dir die Kehle runterläuft und sich in dir verteilt und die Eingeweide zersetzt und wie sich alles auflöst in Matsch.‘ Da bekam ich nichts mehr runter. Sobald ich Alkohol geschmeckt habe, musste ich würgen und alles ausspucken. Die haben mir Geld angeboten, wenn ich einen Schluck bei mir behalte, aber ich konnte nicht. Seitdem war Schluss. Wenn ich Geld übrighabe, wird gespart.“
Herr Staupheimer stand nun dicht neben dem Fußgänger und betrachtete ihn von der Seite. Harmlos ragte sein Gesicht in den Raum vor der Kulisse der Bauschlucht. Auf den Halbkreis des Profils war eine stumpfe, fast kindliche Nase gesetzt. Im schwachen Licht erschien die perlmutterne Gesichtsfarbe. Die Augen waren aufmerksam nach vorn gerichtet.
Bei den letzten Worten war das Gesicht des Mannes aus den Fugen geraten. Er brach in ein meckerndes Gelächter aus: „Das ist großartig. Fantastisch!“ Seine Stimme überschlug sich gekonnt. „Das muss ich mir merken. Was übrigbleibt, wird gespart. Wo ist es denn, das Gesparte? Sie sagten doch, Sie hätten nichts mehr.“ Aus seinem Singsang ließ er sich zurücksinken in eine vergiftet-mitfühlende Ansprache. „Wissen Sie, was ich bei Ihnen sehe? Einen glasigen Blick mit erweiterten Pupillen. Und irgendwie –“, er schloss die Augen und zog Luft durch die Nase ein. „habe ich das Gefühl, in diesen Duft nach Kleidung – die mal wieder eine Wäsche vertragen könnte – mischt sich eine leichte geistige Note. Was sagt uns das? Dass Sie Alkoholiker sind. Das ist völlig wertfrei. Sie sind krank und müssen behandelt werden. Das mit dem Ausspucken ist eine schöne Geschichte. Aber Ihr toter Cousin kann Ihnen nicht helfen. Geld ebenso wenig. Sie müssen zum Arzt gehen und sich sagen lassen, was hilft: Durchhalten, Verantwortung übernehmen.“ Er lächelte fürsorglich. „Seien wir mal ehrlich: Das wollen Sie doch gar nicht.“
Auf dem Blick des Alten zeigte sich Verunsicherung. Er schien seine Gedanken sortieren zu wollen, einen Halt zu suchen in irgendeinem Partikel des Wortschwalls, der über ihn hereinbrach. „Der Arzt, der Arzt“, nahm er einen Anlauf, ins Spiel zurückzukehren.
„Ich habe kein Problem damit, wirklich nicht!“, unterbrach ihn der Fremde freundlich. „Ihre Lebensweise habe ich nicht zu kritisieren. Wir haben alle unsere Freiheit. Aber – tut mir leid – mein Geld will ich da raushalten!“ Er musste Herrn Staupheimer im Augenwinkel längst bemerkt haben, denn nun wandte er kurz und ruckartig den Kopf zu ihm, ohne ihn näher anzusehen.
Von der Baustelle her heulten Maschinen auf. Am Rand der Baugrube gossen sie Streifenfundamente. Bei Herrn Staupheimers Garage waren die Streifenfundamente schlank und zierlich gewesen, hier waren sie meterbreit, auf die Entfernung kaum zu schätzen.
Der alte Mann schaute vor sich hin. Sein Gesicht zeigte keine Veränderung, die Augen sinnend geradeaus, der Mund entspannt. „Ich habe ein Attest“, begann er mit ungebrochener Stimme. „ich vertrage überhaupt keinen Alkohol. Kommen Sie, etwas Kleingeld! Ich muss von irgendwas leben. Ohne Leben keine Freiheit.“
„Von irgendwas!“, fuhr der Fremde ihn an. „Ich sage Ihnen, ‚von irgendwas‘ gibt es reichlich, auch ohne Betteln. Sie verschwinden nicht so schnell. Ihre Fortexistenz –“ damit stach er mit seinem Zeigefinger in Richtung des Bauches, den der alte Mann vor sich trug. „erscheint mir nicht gerade gefährdet.“ Er wiederholte sein abgehacktes Gelächter und wandte den Kopf zu Staupheimer, als solle der bestätigen, dass er den Witz verstanden habe.
Die Miene des Alten spannte sich nur mäßig an. Zugleich ging ein Leuchten über sein Gesicht. „Sie können wohl nicht oder? Sie haben gar nichts dabei. Oder sind so ganz allgemein – knapp bei Kasse?“
So durchsichtig die List war, so erstaunlich wirkte sie. Das Gesicht des Zackigen verlor seinen Ausdruck. Er atmete ein und ließ seinen Atem für eine Sekunde stehen. Dann zog er einen Mundwinkel nach unten, als genieße er ein Stück Schokolade, und sprach akzentuiert und freundlich. „Da schauen Sie sich einmal an!“, und schneller und höher fuhr er fort: „Ich meine, Sie müssten wirklich eine neue Jacke bekommen. Der Rucksack ist auch hinüber. Was ist denn mit Ihren Zähnen? Die sollten Sie sich dringend reparieren lassen, das sind ja Stumpen. Wirklich, so etwas habe ich noch nicht gesehen. Ich frage mich, wenn ich Ihnen ein Butterbrot gäbe, könnten Sie überhaupt davon abbeißen? Mir tut das wirklich leid, Sie könnten mehr erreichen, aber Sie schaffen es nicht. Nicht, weil Sie nichts haben.“ Nun ließ er seine Stimme anschwellen. „Weil Sie nichts tun, deswegen sind Sie nichts. Weil Sie sich um nichts kümmern. Keine Verantwortung übernehmen. Sie stehen hier und betteln.“ Seine Unterlippe zitterte. Der Gedanke, er könne nicht liquide sein, schien ihn getroffen zu haben. Er zog eine Börse hervor und klappte sie auf, so dass einige Geldscheine sichtbar wurden. Einen drückte er halb heraus. Eine Kreditkarte blitzte in der Morgensonne. „So“, und er drehte sich zu Staupheimer und wieder zurück, damit auch der das Beweisstück zur Kenntnis nehme. „sehen Sie nur, wie knapp ich bei Kasse bin! Ist so viel Ihr Tagessatz? Oder eher dieser hier?“ und er zückte einen anderen Schein. „Vielleicht noch mehr. Ihr Geschäftsmodell ist sicher einträglich, aber nicht einmal daraus machen Sie etwas. Sie sollten wirklich sparen, vielleicht eröffnet der Zahnarzt ein Konto für Sie.“
Herr Staupheimer fühlte sich eingeschüchtert von den Tiraden des Fremden. In Gedanken hatte er nach Worten gesucht, die er hätte herausrufen können. Auch er empfand nicht viel Achtung vor dem Bettler. Doch eigentlich interessierte ihn nur der geifernde Fremde. Dem war es ein Leichtes zu helfen. Aber er wollte nicht.
„Noch nie“, fuhr der jetzt fort und reckte einen Zeigefinger in die Höhe. „noch nie war ich in Geldnot. Noch nie habe ich eine offene Rechnung nicht bezahlt. Was meinen Sie, wie das geht? Meinen Sie, ich habe gebettelt? Ich habe verzichtet, habe nicht mehr ausgegeben als ich hatte. Ich habe was riskiert, habe Sachen ausprobiert, die mich weitergebracht haben. Oft genug habe ich nachts wachgelegen. Mir geht es gut, ja! Aber nicht, weil ich genug Geld habe. Weil ich jeden Tag kämpfe, deswegen. Sie kämpfen nicht, kein bisschen, und darum kann ich nichts für Sie tun. Ich kann es nicht, ganz richtig! Worin soll ich Sie denn unterstützen, was ist das, womit Sie sich gerade beschäftigen, was ist Ihr aktuelles Projekt, sagen Sie es mir! … Na, nichts?“ Damit senkte er die Augenbrauen und verkniff Augen und Mund. „Wissen Sie, was ich tue? Ich lasse Sie hier stehen und gehe. Sie bekommen nichts von mir, gar nichts!“
Über den ohnehin hohen Lärmpegel hinweg brauste überheiser der Motor eines schweren Baufahrzeugs. Das Heulen des Krans gesellte sich dazu. Eine Säge kreischte. Die Betonpumpen durchfurchten alles mit ihrem Grundgeräusch und ließen ein Streifenfundament nach dem anderen volllaufen. Herrn Staupheimer stach das Sonnenlicht in die Augen.
„Kämpfen Sie“, brüllte der Mann über das Heulen und Stampfen hinweg und klappte sein Portemonnaie zusammen. „dann sprechen wir uns wieder. Kämpfen Sie endlich!“
Herr Staupheimer sah die feindseligen Gesichtszüge sich entspannen, sah, wie der Fremde sich in Gedanken von dem armen Alten verabschiedete, sah ihn den Vorgang beiseitelegen und seine Gedanken auf das Tagwerk richten, sah ihn innerlich schon andere Angelegenheiten bearbeiten statt sich mit einer Laus im Pelz herumzuärgern. Auch der Alte schien sein Vorhaben als gescheitert auszubuchen, sein Gesicht leuchtete wie frisch abgebürstet, der Mund in sich gezogen, die Augen staunend auf den vergeblich beworbenen Passanten gerichtet. Es war vorbei.
Da straffte sich Staupheimer. Einmal sollte es nicht vorbei sein. Einmal musste die Geschichte gut ausgehen.
Hier war er, der Böse, nach dem er gesucht hatte! Der sich dem Fluss seines Vermögens zum Wohle der Menschheit entgegenstellte, der herausgenommen werden musste aus dem Spiel, damit andere mitspielen könnten. Der Fluss des Guten war bereit, den Obdachlosen zu überfluten, es musste nur einer die Schleusen öffnen. War es ein Zufall, dass der Böse ihm ausgerechnet jetzt zugeführt wurde, an dem Morgen, da er sich auf die Suche nach dem Guten gemacht hatte? Göttliche Fügung? Nichts davon. Das Böse war überall. Er hatte nur seinen Blick geschärft und es erstmals nicht übersehen.
Nun blieb nur Handeln. Kein Mensch war vor oder hinter ihnen zu sehen, alle hatten sie die breite Straße gewählt. Der Laubengang war überdacht, abgeschirmt, schlecht einsehbar, mit seinen glimmenden Neon-Röhren nur Halbdunkel gegen das erstarkende Licht der Morgensonne.
Herr Staupheimer war wenige Schritte zurückgetreten, er zog seine Lauflinie auf dem Bohlenboden vor, er berechnete den Zugriff, er berechnete die Diagonale, die ein siebzig oder achtzig Kilo wiegender Körper zur Brüstung nehmen müsste, um so weit vorangetrieben zu werden, dass sich das Übergewicht zur Baugrube neige. Er erwog den Angriffspunkt, den er brauchte, um nicht abzurutschen, kalkulierte die Hindernisse, die Geschwindigkeit, die Zeit, die ihm die Überraschung gewähren würde, fragte sich, ob sein Wille denn ausreichen würde, ob sich nicht zu viel lähmende Nervosität aufgebläht hätte, bis er endlich, als es fast schon zu spät war, alle Überlegungen und Vorausberechnungen fallen ließ und seinem Handeln nur noch zuschaute.
So sah er seinen Arm in die Höhe fahren und mit ausgestrecktem Zeigefinger an der Szenerie vorbei den engen Pfad des Fußgängerwegs entlang weisen, er spürte, wie seine Lungen sich aufblähten, wie er das Zwerchfell anspannte, wie der Sturm aus seinem Hirn in den Stimmwerkzeugen explodierte.
„Da!“ brüllte er langgezogen und voluminös.
Der Schmächtige riss den Kopf zu Staupheimer herum, und noch während er sich wieder zurückwendete, um der Weisung des ausgestreckten Fingers zu folgen, spürte Herr Staupheimer, wie die Muskeln seiner Beine sich anspannten, wie die Füße ihn vom Boden abstießen und ihn bei sich senkendem Oberkörper in den Laufzustand versetzten. Er sah den Menschen vor sich, der mit den Augen noch nicht ganz von ihm weg war, der seine Bewegung erkennen musste und trotzdem sein Abwenden fortsetzte, weil sein Gehirn die drohende Attacke noch nicht verarbeitet hatte, sondern mit Herrn Staupheimers schlichtem Ablenkungsmanöver beschäftigt war.
Schon spürte er, wie er vor dem Fremden niederging, dessen Beine umschlang, wie er sie mit aller Anspannung packte und emporzog. Es war schwer! Einen ganzen Menschen, auch von kleinem Gewicht, anzuheben, das braucht Kraft, selbst wenn viere ihn gemeinsam schleppen, ist die Anstrengung gewaltig. Aber der Moment verdiente die Anstrengung, er hatte ja nur den Moment, nur diesen einen Schuss, um zu treffen. Also ließ er sich mit seinen Kräften hineinfallen, ließ allen Willen einfließen und glaubte es kaum, als der Herr in seinem teuren Kurzmantel sich aufwärtsbewegte, mehr und mehr Abstand zum Boden gewann, wie er, der untrainierte Herr Staupheimer, einen ganzen Menschen mit allem, was er war und hatte, emporhob und ihn in Richtung der Brüstung drängte, um ihn in einem einzigen Schwung hinüberzubefördern.
Der Kurzmantel reagierte eigentümlich. Er gab nur einen schwachen kurzen Aufschrei von sich, kaum mehr als einen stimmhaften Seufzer. Das Portemonnaie flog mit einem Klatschen zu Boden. Ansonsten blieb es beim Dröhnen der Baustelle.
Der Schwung gelang. Staupheimer sah die Beine in den anthrazitfarbenen Stoffhosen und den braun glänzenden Schuhen an den Füßen hinauffahren an die Brüstung, es fehlte nur ein letzter Schub, da spürte er Fingerspitzen in seinem Rücken: Der Fremde hielt sich an ihm fest. Unerhört war das! Ausgerechnet in Herrn Staupheimer wollte er Halt gewinnen, in ihm, dessen ganze Anstrengung auf die Auslöschung dieses Menschen gerichtet war. Etwas musste geschehen. Sein Rücken, in den der Griff ging, war eine schwache Angriffsfläche. Doch spürte er, wie der todesangstgetriebene Griff sich im Stoff verkrampfte. Wenn er einen Fetzen herausriss, war das eine Spur, vielleicht eine zu viel. Da sah er seitlich den Stützbalken. Der wäre ein guter Halt gegen den Sturz, viel besser als sein bekleideter Rücken. Etwas näher heran, und der Kämpfende hätte ihn in Griffweite. Staupheimer drehte sich stückchenweise, nicht zu schnell, in die rettende Richtung, warf den tödlichen Köder aus. Die List gelang, das Opfer versuchte in seiner Not, von ihm abzulassen und nach dem Balken zu greifen. Als Staupheimer die Finger in seinem Rücken sich lösen spürte, war es soweit. Für einen Moment lag der Körper nur in seinen Händen. Ein letztes Mal streckte er sich mit aller Kraft und stieß ihn ins Nichts. Dann erst ertönte der Schrei, gemeinsam mit dem Aufheulen der Betonpumpe, als wolle die den Sturz musizierend in Szene setzen.
Der Schrei war hoch, durchdringend, wenn auch weniger dramatisiert als Staupheimer es aus Filmen kannte. Zugleich war er die dünne Oberstimme im Duett mit der Betonpumpe. Im Brummen der Großbaustelle jedoch, im Stampfen und Schleifen und Kreischen, da war er nur ein unbedeutender Zwischenruf, für Staupheimer gerade noch hörbar, für alle anderen verloren.
Der Körper sauste hinunter, meterweise, zehnmeterweise, die Fallkurve weiter herausgedrückt als erwartet. Nach einer Drehung schoss er mit dem Kopf voran schnurgerade auf ein werdendes Streifenfundament zu. Schließlich stach der Kopf wie eine Pfeilspitze in das weiche Bett ein. Der Körper verschwand immerhin bis über die Schultern im zähen Beton, verharrte für einen Moment in seiner Position, kippte dann zur Seite, um sachte auf das Fundament zu sinken. Der nachströmende Beton legte sich auf ihn wie eine Decke, die endlich als sich selbst glattziehende Oberfläche friedlich zum Ruhen kam.
Herr Staupheimer ließ seinen Blick über die Baustelle schweifen. Die zwei Arbeiter, die den Betonschlauch überwachten, waren mit der Steuerung beschäftigt. Der Kran schnurrte weiter seine Kreise. Es wurde gehämmert gebohrt, gefahren, gebaggert. Die Arbeiter bewegten sich kreuz und quer, als wollten sie einen Tanz aufführen, ein in sich fließendes Gedränge wie von tausenden Ameisen. Doch keine einzige Ameise nahm Notiz davon, dass eine der ihren vom Ameisenhügel vertilgt worden war. Wie mit einem spitzen Bleistift fuhr Staupheimer jedes Fenster der umgebenden Wohnhäuser ab. War nicht irgendwo ein erstarrtes Gesicht zu sehen, irgendjemand auf seinen Balkon gestürzt, irgendwo ein wild Gestikulierender mit dem Telefon am Ohr? Überall waren Menschen, alle mit dem beginnenden Tag beschäftigt, keiner mit Herrn Staupheimers Tat. Am Ende warf er zwei Blicke in den Laubengang – nach vorne wie nach hinten fand er ihn menschenleer. Unglaublich! Niemand hatte gesehen, was er getan hatte.
In der Mitte stand der alte Mann mit dem Rücken an einem Pfosten der Brüstung. Die Arme hatte er nach beiden Seiten ausgestreckt, die Hände presste er an das Geländer. Sein Mund war zu einem albernen Grinsen geöffnet. Er hatte wahrhaft Stümpfe anstelle der Zähne, die allesamt abgebrochen sein mussten. Die aufgerissenen Augen, die in Falten gedrängte Stirn und das erfrorene zahnlose Lachen machten sein Gesicht zur Clownsmaske.
Herr Staupheimer sah ihn freundlich an und bückte sich nach dem Portemonnaie, das der Verunfallte liegengelassen hatte. Er klappte es auf und zog eine Kreditkarte hervor.
„Schau an“, sagte er. „mit der kann man sich was leisten. Da steckt noch eine. Mit Bargeld sieht’s auch nicht schlecht aus, und dahinter ist noch mehr davon. Nicht schön, wie er sich Ihnen gegenüber verhalten hat, finden Sie nicht?“ “ Er packte das Portemonnaie zusammen und hielt es mit ausgestreckter Hand vor sich. „Ich würde sagen, damit lassen Sie es sich erstmal gutgehen.“ Der Alte lehnte weiter am Geländer und rührte sich nicht. Seine Grimasse war unverändert. „Nehmen Sie schon!“, versuchte Staupheimer es erneut. „Da ist nichts Schlechtes dabei. Es gehört sowieso Ihnen. Er hat es Ihnen nur vorenthalten.“
Herr Staupheimer sah sich um. Einen Meter neben dem Bettler schimmerte blau dessen Rucksack. An den Ecken war er abgeschabt. Graue Striemen und mehrere fingergroße Löcher zeichneten das Obermaterial. Herr Staupheimer ging vor dem Rucksack in die Knie, hob den Deckel und stopfte das Portemonnaie hinein. Es überraschte ihn etwas, als er seine Hände zittern sah. Er erhob sich.
„Für Sie kann es jetzt ganz neu losgehen“, sagte er zu dem alten Mann. „Sie haben da ein schönes Polster. Mit den Karten lässt sich nichts anfangen. Aber mit dem Bargeld. Sparen Sie es wirklich einmal! Und lassen Sie sich helfen! Sie haben viel mehr Möglichkeiten als Sie denken. Vielleicht kann sogar ich Ihnen helfen durchzustarten. Das muss nicht das einzige Gute bleiben, das ich Ihnen getan habe. Sprechen Sie mich an, wenn der Schuh drückt! Sie finden mich tagsüber in dem roten Bürogebäude gleich am Ausgang von diesem Tunnel.“ Herr Staupheimer zog seine Kleidung glatt und betastete vorsichtig seine Haare. „Ha!“ machte er dann. „Ich habe mich noch nicht einmal vorgestellt. Mein Name ist Staupheimer. Jörg Staupheimer. Mit ‚p‘, nicht mit ‚b‘! Eh ich’s vergesse, den hier bekommen Sie von mir dazu.“
Herr Staupheimer lächelte tief in die aufgerissenen Augen des Bettlers, zog einen Geldschein aus seiner eigenen Tasche und schob ihm den zwischen die Finger. „Alles Gute!“ lächelte er ihm zu und setzte seinen Weg zum Büro fort.
In ihm brach Jubel los. Er hatte es getan! Dabei hatte ihm das Glück die Perfektion einfach so zugespielt. Mitten in einer Großbaustelle mit hunderten Menschen war der Mord unbemerkt geblieben. Es gab nicht die geringste Spur. Den Körper hatte er auf brillante Weise rückstandslos verschwinden lassen. Alles hatte sich im toten Winkel der Überwachungskameras ereignet. Sollte man jemals auf die Leiche stoßen, wären im Beton alle Spuren zerstört. Er hatte einen Obdachlosen nach einer Demütigung rehabilitiert, ihm einen größeren Geldbetrag verschafft, er hatte ihm Hilfe angeboten, und er würde sie leisten. Er würde nachhaltig für den armen Mann da sein. Endlich war er nicht mehr nur für sich, sondern ließ seine Energie strömen, er spürte sein Leben reicher und bedeutungsvoller werden, spürte sich in seinem Handeln sichtbar werden, für sich und für die ganze Welt. Das musste es sein, was er gesucht hatte! Dass in Wirklichkeit niemand von seinen Taten erfahren würde, störte ihn nicht. Der alte Mann war sein Zeuge, das reichte.
Der Alte verharrte mehrere Minuten in seiner Position. Dann drehte er sich langsam zur Baugrube und warf einen Blick hinunter. Er betrachtete den reglos daliegenden Beton, an dem die Maschine längst nicht mehr arbeitete. Er zog das Portemonnaie aus dem Rucksack, nahm die Kreditkarte in die Hand, betrachtete sie von vorn und hinten, fühlte an den Geldscheinen, steckte alles wieder ein. Dann schulterte er den Rucksack, ging in die Richtung, in der Herr Staupheimer ihn verlassen hatte, bis zum Ende des Behelfswegs, sah das rote Bürogebäude, ging noch etwa fünfzig Meter weiter, bis er die kleine Polizeistation erreicht hatte.
Die Vorsitzende Richterin war mit ihrer Urteilsbegründung fast am Ende.
„Es steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass Sie aus Habgier handelten. Die Wegnahme der Geldbörse ist dafür der zweifelsfreie Beleg. Es ist auch kein anderer Grund ersichtlich, aus dem die Tötungshandlung begangen wurde. Der Getötete musste sterben, weil Sie an sein Geld gelangen wollten.“
Staupheimer schaute auf seine Füße, auf seine Oberschenkel, dann auf seine Hände. Nichts verstanden die, rein gar nichts. Dann blickte er quer durch den Saal nach dem alten Mann. Er hatte sich rasiert, und der Haarkranz war ordentlich gelegt. Die stinkende Kleidung hatte er gegen saubere Sachen eingetauscht. Immerhin!
Die Richterin legte ein Blatt ihrer Aufzeichnungen beiseite und fuhr fort.
„Besondere strafschärfende Momente konnte das Gericht nicht erkennen. Der Hinweis der Staatsanwaltschaft, die spontane Tötung um einer Geldbörse willen sei ein besonders verwerflicher Akt der Feindseligkeit, mag zutreffen. Das gilt aber für jeden Mord. Die vorsätzliche Tötung eines Menschen ist von sich aus ein Akt der Feindseligkeit. Von sich aus ist ein Mord verwerflich. Das bildet sich im gesetzlichen Strafmaß bereits ab und kann nicht zur Strafschärfung führen.“
Staupheimer verkrampfte seine Hände ineinander, warf den Kopf in den Nacken, betrachtete mit verkniffenem Mund die Decke des Gerichtssaals. Er hätte aufschreien wollen, hätte die Menschen aus der Straßenbahn als Zeugen aufrufen wollen dafür, dass es den gerechten Mord gab. Aber er wusste, dass es nichts bewirken würde. Gerichte verstanden keinen Spaß, so viel hatte er gelernt.
„Wenngleich der Gesetzgeber die lebenslange Freiheitsstrafe vorgeschrieben hat, sind auch bei einer Verurteilung wegen Mordes die strafmildernden Umstände zu berücksichtigen, schon um deutlich zu machen, warum das Gericht davon abgesehen hat, die besondere Schwere der Schuld festzustellen. Sicherlich fällt auf, dass der Getötete eine Reihe respektloser Äußerungen getätigt haben soll. Demnach hatte er sich abfällig gegenüber Menschen in Armut ausgelassen und als Ausdruck des Hohns den Inhalt seines Portemonnaies präsentiert. Der Sachverhalt ist insofern nicht zweifelsfrei geklärt. Darauf kommt es aber nicht an, denn es bestünde dadurch kein Ansatz für eine Strafmilderung. Wir müssen damit leben, dass sich andere unangemessen und respektlos verhalten. Wir müssen damit leben, dass unpassende Äußerungen fallen. Wir müssen in einem gewissen Umfang sogar damit leben, dass uns die Rechtsordnung nur unvollkommen davor schützt. Mord ist nicht das Mittel, um sich gegen mangelnden Respekt zu wehren, daran muss sich auch die Strafzumessung halten. Alles andere würde der Selbstjustiz das Wort reden.“
Staupheimer hatte erneut den alten Mann im Visier. Der schaute kurz zurück. Mit einem erschöpften und bösen Blick. Jedenfalls war er jetzt ein gepflegter Mann. Und er war nicht mehr obdachlos. Vielleicht würde man ihm sogar die Zähne instandsetzen.
„Sehr wohl strafmildernd“, erläuterte die Richterin nun. „wirkt der Umstand, dass Sie sich selbst den Behörden gestellt haben. Dadurch haben Sie Ihre Haltung zur Rechtsordnung unter Beweis gestellt.“
Der Alte strich sich über den Kopf und ließ seine Hand im Nacken verharren. Er machte seine Augen groß, wendete den Kopf zu Herrn Staupheimer und starrte ihm quer durch den Gerichtssaal unverhohlen ins Gesicht.
„Dabei haben Sie die Polizei zwar zunächst mit einer ganz anderen Geschichte aufgesucht, der zufolge der Zeuge Staupheimer die Tat begangen haben sollte, und haben auf angebliche Fingerabdrücke auf einer Kreditkarte verwiesen. Doch haben weder Polizei noch Gericht das als ernsthafte Behauptung verstanden, weil es als solche keinen Sinn ergeben hätte. Ich habe das bei der Beweiswürdigung ja eingehend ausgeführt. So waren die Fingerabdrücke auf der Kreditkarte Ihre eigenen. Die Geldbörse befand sich in Ihrem Rucksack. Es hatte lediglich dieses Gespräch mit dem Zeugen gegeben, bei dem er Ihnen einen Geldschein aushändigte. Die Geschichte vom Mörder Staupheimer ist vollkommen unplausibel. Einen Mörder in geordneten finanziellen Verhältnissen, der für etwas Bargeld einen Menschen tötet, seinen einzigen Vorteil, den er davon hat, sofort aus der Hand gibt und Ihnen dann, statt unsichtbar zu bleiben, seinen Namen buchstabiert, kann man sich schwer vorstellen. Man kann Ihnen nicht vorwerfen, Sie hätten den Zeugen ernsthaft belasten wollen.“
Die Zuschauerin neben Herrn Staupheimer drehte sich zu ihm und flüsterte: „Abgefahren war das. Ich war hier an dem Tag, als Sie ausgesagt haben. Da wollen Sie ihm was Gutes tun, und er hängt Ihnen einen Mord an!“
Die Richterin hielt inne und überflog mit ihrem Blick die Zuschauerreihen. Die fremde Dame verstummte, und die Richterin sah wieder auf ihre Unterlagen. „Die Geschichte war Ihre Art, das Unfassbare zu kommunizieren und der Polizei Ihre eigene Tat mitzuteilen. Für das Gericht zählt dabei, dass die Tat unentdeckt geblieben wäre, wenn Sie sie nicht angezeigt hätten. Das muss man Ihnen zugutehalten. Auch wenn Sie sich nicht ausdrücklich als Täter kenntlich machten, Ihre Anzeige kommt für das Gericht einem Geständnis zumindest nahe.“
Die Sitzung war geschlossen. Der verurteilte alte Mann verließ in Begleitung von zwei Wachtmeistern durch einen gesonderten Eingang den Saal. Herr Staupheimer erhob sich und blieb stehen. Vor der grau umkränzten Glatze zog der Wachtmeister die Tür zu.
„Alles Gute!“, formte Herr Staupheimer mit den Lippen. Niemand sah ihn.