Mitglied
- Beitritt
- 26.06.2002
- Beiträge
- 17
Herr Schobinski
"Hahahaha, Herr Schobinski, was für ein bescheuerter Name für eine Schildkröte!", lachte Henning der Henker und griff nach Manfreds Rucksack.
"Ja, hört sich genauso dämlich an wie Manfred, wer heisst denn heutzutage noch so!", höhnte der Gnadenlose Guido und boxte Manfred kräftig in den Magen.
"Hört auf!", brüllte Manfred verzweifelt. Innerlich verfluchte er sich selber, dass er schon wieder so unvorsichtig gewesen war, die Abkürzung übers Feld zu nehmen, obwohl er doch genau wusste, dass seine unbarmherzigen Nachbarn nur darauf warteten, ihm dort nach Schulschluss wieder einmal zu mehreren auflauern und ihn traktieren zu können.
"Lasst Herrn Schobinski in Ruhe, wir müssen dringend nach Hause!", flehte er.
"Ihn in Ruhe lassen?". Henning horchte auf. Die Erkenntnis durchzuckte sein ansonsten eher ausdrucksloses Gesicht.
"He, habt ihr gehört? Die kleine Heulsuse scheint ihre dämliche Kröte wohl dabei zu haben, was? Vielleicht im Rucksack?". Voller Vorfreude stürzten sich alle drei erneut auf Manfred, der mittlerweile angefangen hatte zu heulen.
"Huuuu, der kleine Manfred heult, weil wir ihn wiede ärgern, dabei muss er doch zu seiner Mami, damit die ihm und seinem einzigen Freund nen Salat machen kann!" gackerte Susi, das einzige Mädchen der Gang.
"Wenn dafür überhaupt Geld da ist", ergänzte Maurice mit einem fiesen Grinsen.
"Als Hausmeister verdient dein Penner von Vater ja wahrscheinlich nicht besonders viel... Solange er überhaupt noch Arbeit hat. Den kriegen wir auch noch von der Schule, genau wie dich", lachte er.
Susi musste sich den Bauch halten vor Lachen, und Maurice beobachtete belustigt, wie sich der elfjährige Manfred verzweifelt bemühte, die um vieles stärkeren Zehntklässler am Öffnen seines alten und schäbigen Rucksacks zu hindern. Mit einem verzweifelten Ruck versuchte er dem Griff Guidos an seine Rucksackträger zu entkommen. Die Träger rissen, der verblüffte Manfred landete durch die Wucht seines eigenen Rucks auf der Straße, ebenso wie seine Butterbrotdose, die knallend auseinanderflog und ihren kargen Inhalt der Straße preisgab. Auch Herr Schobinski, von dem die ganze Zeit die Rede gewesen war, kullerte quer über die Straße in Richtung Bürgersteig. Die vier Älteren brüllten vor Lachen.
"Aber he", fragte sich Henning der Henker, "wie kommts denn dass da immer noch ein Tomatenbrot in der Box ist, wir hatten doch ausgemacht, dass Verpflegung vor Unterrichtsbeginn unaufgefordert abzugeben ist, du Wurst!?".
Mit einem drohenden Blick zu Manfred hob er die matschigen Reste von dessen Pausenbrot von der Straße auf.
"Naja, wenn er es uns nicht geben wollte und in der Schule sich nicht mehr zu essen traut, dann sollten wir es ihm vielleicht jetzt verfüttern?", quietsche Susi, während Henning auch schon begann, Tomaten, Salat und Butter in Manfreds Gesicht zu verreiben.
"Komm, lass uns gehn, der Zwerg ist mir zu schlecht", schlug Maurice vor.
"Ja, wir gehen schonmal vor zu seinem Haus und geben seinem Penner von Vater die Eier zurück, die wir uns letztens von ihm geliehen haben, am besten platzieren wir sie an seinem Fenster... so eine Versagerfamilie!", schüttelte Guido den Kopf und wandte sich zum Gehen.
"Wir sehen uns morgen, da ist Freitag, und du weisst ja, Freitag wird wieder auf dem Hof getanzt, wie üblich zum Ende der Woche, damit wir wieder alle unseren Spass haben. Wehe du hast bis dahin keine neue Brille...", ergänzte Maurice und alle wandten sich zum Gehen.
"Ach ja, noch was", wandte sich Susi mit ihrem liebenswürdigsten Lächeln zu dem am Boden kauernden Manfred.
"Ich kann deine Einladung zu dir nach Hause leider nicht annehmen. Das ist echt nix persönliches. Aber erstens besuch ich keine Versager, und zweitens konnte ich der Öffentlichkeit deinen Brief einfach nicht vorenthalten, deswegen hab ich mir überlegt ich kopier ihn mal und häng ihn morgen an einem passenden Ort aus. Also machs gut Kleiner, vielleicht im nächsten Leben" verabschiedete sie sich mit einem geringschätzigen Lächeln.
Manfred schniefte. Warum hatte er es auch wieder versucht, die zwei Jahre ältere Susi auf sich aufmerksam zu machen, die seine Gedichte und Briefe ja doch immer nur dazu benutzte, ihn vor allen lächerlich zu machen. Susi war mal wieder sitzen geblieben und im letzten Jahr in seine Klasse gekommen, war aber kein Problem gewesen wäre, wäre sie nicht Hennings Schwester und diesem schon lange sehr ähnlich.
"Dann geh doch mit deinen asozialen Freunden!", brüllte er mit dem Mut der Verzweiflung seinen Zorn hinaus. "Ich bin eh zu gut für dich, ich und Herr Schobinski, wir haben was besseres verdient!".
"Was???", tobte Henning. "So redet niemand mit uns und meiner Schwester, nicht mit Henning dem Henker! Ich zeig dir was ich von deiner Schildkröte halte, hier, guck mal, wie toll sie wirklich ist!", und mit maßlosem Entsetzen musste Manfred mit ansehen, wie Henning der Schildkröte mit aller Kraft einen Tritt gegen den Kopf gab, so dass sie in hohem Bogen gegen einen geparkten Audi knallte und reglos auf dem Boden liegen blieb, die Füße in die Luft gestreckt.
"Komm, ich glaube das reicht wirklich für heute. Die Kröte ist jedenfalls hinüber" meinte Guido mit einem sachverständigen, aber doch betretenen Blick und wandte sich ab. Mit einem letzten angedeuteten Fußtritt verabschiedete sich Henning der Henker von Manfred.
"Ach was solls, war nur ne Kröte", versuchte er sich selbst zu beruhigen und trat den Rückzug an.
Manfred blieb alleine zurück und betrachtete mit tränenverschmiertem Gesicht den verstreuten Inhalt seiner Schultasche, seine Brille, deren notdürftig angeklebter Bügel, den Maurice ihm drei Tage zuvor abgebrochen hatte, wieder abgerissen war, und wischte sich die Butter aus dem Gesicht. Er war unendlich traurig, traurig darüber dass ihm niemand glaubte und sich niemand für ihn und Herrn Schobinski interessierte. Wie sollte er das seinen Eltern beibringen, was ihm heute wieder passiert war. Ihm graute bereits vor dem nächsten Schultag. Die Sonne beschien ihn und Herrn Schobinski auf der anderen Straßenseite, aber er mochte sie nicht sehen, die sie sein Elend jeden Tag mit ansah. Er traute sich kaum, endlich über die Straße zu Herr Schobinski herüberzuhumpeln. Die ausgestreckten Beine waren in den Panzer verschwunden. Manfred nahm ihn in die Hand und drehte ihn herum, aber nichts regte sich.
"Herr Schobinski!", schluchzte er. Da schob sich langsam ein verrunzelter Kopf aus dem Vorderteil des Panzers.
"Gemach, gemach", knarzte Herr Schobinski, "Sind die Penner denn wenigstens weg?".
"Hmjahahaaa", heulte Manfred, aber doch erleichtert.
"Meine Fresse, nun heul hier nicht auch noch rum, mir brummt auch so der Schädel. Der blöde Penner hat mich dumm erwischt, ich hatte gerade angefangen, die Frankfurter Allgemeine zu lesen!" fluchte die Schildkröte.
"Jetzt sind hier drinnen im Panzer alle meine Akten und Notizen durcheinandergekommen. So kann das auch nicht weitergehen mit dir. Es wird Zeit dass wir da mal was unternehmen. Aber dafür bin ich ja hier."
Manfred zog die Nase hoch und wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht. "Hm", schniefte er.
"Na fein, und jetzt pack deine Sachen und los, wenn das noch lange dauert latsch ich alleine los, dann bin ich auch noch schneller. Denk dran wir wollten um Punkt vierzehn Uhr zuhause sein. Ich erwarte noch einen wichtigen Anruf, ich will die Nachrichten nicht verpassen, brauche meinen Kaffee, und wir müssten uns langsam mal um unsere Aktien kümmern, Intradaytraining ist nichts für Lahmärsche!".
Manfred zögerte. "Nu los!", drängelte Herr Schobinski. "Ich bin dir nicht umsonst zugeteilt worden. Es wird dringend Zeit dass sich bei dir was ändert, und dafür bin ich genau der richtige. Denn wie du schon sagtest, ich bin nicht irgendeine dämliche Schildkröte. Ich bin was besonderes!".
"Ja, ich weiss!", lächelte Manfred unter seinen Tränen hindurch, verstaute Hernn Schobinski in seiner ramponierten Tasche und war kurz darauf dem Blick des Betrachters in die von der Mittagshitze flirrende Luft des Sommertages entschwunden.