Mitglied
- Beitritt
- 24.03.2019
- Beiträge
- 177
- Zuletzt von einem Teammitglied bearbeitet:
- Kommentare: 6
Herr Sander
Diese Hand ist nicht meine. Sie gehört einem fremden, schönen und starken Mann. Diese Hand fährt zärtlich über meinen Unterarm, gleitet sacht über die Härchen, die sich sogleich aufstellen. Ein wohliger Schauer fährt mir über den Rücken und ich lege den Kopf in den Nacken, schaue nach oben, durch die Decke, direkt in einen blauen Himmel. Jeder Muskel meines Körpers ist jetzt angespannt. Die Hand wird fordernder, legt sich auf meinen Oberschenkel, fährt zunächst zögerlich, dann bestimmt an ihm hoch. Fingerspitzen tauchen unter den Bund des Höschens, fahren in die Höhle, die feucht und warm wird. Schon füllen zwei Finger meinen Schoß aus, jede ihrer Bewegungen ist präzise und doch liebevoll. Die Hand weiß was sie tut. Sie überträgt Energie. Ihre Hitze staut sich am Eingang und entlädt sich dann über die Finger ins Innere meines Körpers. Das Feuer, die Flammen erfüllen mich durch und durch. Schweiß perlt auf meiner Haut. Ich glühe, ich brenne, es lodert überall. Ich komme. Ich schreie.
Ich verglühe, das Feuer erlischt. Ich komme zur Besinnung, bin wieder da, schwer atmend, aber bei Bewusstsein. Ich bin allein. Die künstlich entfremdete Hand ist meine, ich erkenne sie wieder, nehme Kontakt auf.
Der schöne, fremde und starke Mann. Es hat ihn nie gegeben. Ich stehe auf und mache mich fertig für die Arbeit.
„Musse noch lernen“, sagt sie. Ich lächele zurück und denke an Herrn Sander, den Minh-Vi gleich waschen, anziehen und zum Frühstück in den Aufenthaltsraum bringen soll.
Ich erinnere mich an den Tag, als er zu uns kam. Wie er plötzlich im Flur stand: groß, drahtig, im marineblauen Anzug und mit einem wachen Blick. Er hatte keine Koffer dabei und wirkte auf den ersten Blick wie ein Mann Anfang siebzig.
„Zu wem möchten Sie denn?“, fragte ich ihn, in der Annahme, er besuche hier jemanden.
„Zu Ihnen!“, erwiderte er mit seinem dunklen Timbre, ein verschmitztes Lächeln auf den Lippen.
„Papa!“, kam es plötzlich von der Eingangstür. Ein Mann Ende vierzig, gutaussehend, kräftig und noch ein bisschen größer als sein Vater, stolperte mit einem Rollkoffer herein und gesellte sich zu uns.
„Guten Tag“, sagte er, an mich gerichtet. „Ich bin Frank Sander, das hier ist mein Vater Oskar Sander. Er ist ab heute Bewohner hier.“
„Ach so“, lachte ich. „Na dann kommen Sie, ich bringe Sie zur Rezeption, oder noch besser, zur Heimleitung.“
Die beiden Männer folgten mir gehorsam. Auf dem Weg zur Chefin sah ich mich nur einmal nach ihnen um. Sie lächelten mich an, ich lächelte zurück und erkannte den alten im jungen Mann und umgekehrt. Beide wirkten wie Figuren aus einer Filmwerbung für Altersvorsorge. Dynamisch, gefasst, souverän und mitten im Leben stehend. Ich verspürte Neid auf und Ehrfurcht vor dieser Familie, die einer alten Linie zu entstammen schien und etwas darstellte.
„Guten Morgen, Herr Sander“, sage ich fröhlich, als ich mit Minh-Vi das Zimmer betrete.
„Guten Morgen, Frau Roth“, erwidert er, im Bett liegend, von seiner Zeitung aufsehend.
„Gutte Mogge, He Sande!“, sagt auch Minh-Vi, und ich empfinde sie plötzlich als störend. Die Atmosphäre ist dahin.
„Frau Nguyen wird sie heute morgen waschen“, sage ich und meine, einen Hauch von Enttäuschung auf seinem Gesicht zu erkennen.
„Einverstanden“, erwidert er.
In den ersten sechs Monaten nach seiner Ankunft konnte Herr Sander sich noch alleine waschen. Überhaupt war er sehr rüstig. Wenn ich morgens in sein Zimmer kam und er mit nacktem Oberkörper am Waschbecken stand, erinnerte er mich an Clint Eastwood in ‚Die Brücken am Fluss’. Verlebt, ungewaschen, und doch eine imposante Erscheinung. Dann jedoch war er von der Treppe im ersten Stock gestürzt und hatte sich einen komplizierten Wadenbein- und Schienbeinbruch zugezogen. Der anschließende Genesungsprozess hatte länger als erwartet gedauert und danach hatte er Mühe, sich länger als zwanzig Minuten auf den Beinen zu halten. Aber er machte immer noch Physiotherapie, in der Hoffnung, wieder so mobil zu werden wie bei seiner Ankunft.
Minh-Vi macht alles nach Vorschrift: Sicherstellen einer angenehmen Lage, Entkleidung des Oberkörpers, Handtuch drunter, Augenreinigung vom äußeren zu inneren Augenwinkel hin, Waschung der Arme vom Handgelenk zum Herzen hin, Entkleidung des Unterkörpers, Abdeckung der Intimregion, Waschung der Beine vom Fuß zum Herzen, Intimpflege mit einem Waschlappen. Schließlich wieder anziehen und für bequeme Liegeposition sorgen.
Herr Sander scheint es zu genießen. Eine Asiatin, die ihn wäscht, und eine Europäerin, die dabei zusieht. Er sieht darin etwas Sinnliches. Minh-Vi sicherlich nicht.
„Frau Nguyen bringt sie jetzt in den Frühstücksraum“, sage ich zum Abschied. „Bis später“.
„Bis später, Frau Roth!“
Verhüllen, enthüllen. Anziehen, ausziehen. An so manchem Abend, nach der Arbeit und der Dusche, creme ich mich zuerst mit einer vitalisierenden Körperlotion ein. Wenn der Dampf im Badezimmer aufsteigt und mir der Geruch des Jojobaöls in die Nase steigt, wenn die nassen, schwarzen Haare glatt anliegen, dann betrachte ich mich gerne im großen Spiegel. Wenn sich die Schwaden verflüchtigen, wenn sich das beschlagene Bild langsam schärfer stellt, wenn ich meinen üppigen Busen, meine Scham und die glatt rasierten Beine erkenne, verspüre ich ihn wieder: den Wunsch, mich zu berühren, mich zu liebkosen, zu streicheln. Gut zu mir zu sein. Ich genieße das Gefühl von strammem Fleisch in meiner Hand, das Gefühl straffer Haut. Ich bin jung und schön, denke ich. Warum nur, frage ich dann, will mich keiner?
Nach der Pflegezeremonie im Bad gehe ich ins Wohnzimmer und trage die verschiedensten Stoffe auf: Seide, Leinen, Kaschmir, Musselin, Batist, Taft. Leichte, weich fallende Textilien, die sich sanft wie eine Katze an meinen Körper schmiegen. Auf der nackten Haut passen sich die leichten Stoffe meinen weiblichen Rundungen an, akzentuieren den Busen und das Becken. Wenn ich dann noch die schwarzen Pumps dazu anziehe, empfinde ich mich als unwiderstehlich, als sinnlich und gefährlich. Ich werde für ein paar Momente zur femme fatale, zum männermordenden Vamp, der mit einem Blick allein den Willen der stolzesten Kerle bricht. Dann bin ich nicht Frau Roth, die Altenpflegerin, sondern Salammbô, Kleopatra und Mata-Hari. Ich bin die personifizierte Verführung.
Wie gut es mir jetzt im Dreilindenhof geht, merke ich schon beim Frühstück. Manchmal kann ich bis zu einer halben Stunde neben einem der Bewohner sitzen und mich mit ihm unterhalten. Anfangs hatte ich immer Angst, dass die Chefin kommt und mir einen bösen Blick zuwirft. Aber nein. Stattdessen gab es Lob für meine individuelle Betreuung.
Ich unterhalte mich gerne mit Herrn Sander. Ich sitze gerne neben ihm. Während andere sich gelegentlich gehen lassen, kommt Herr Sander stets gepflegt zum Frühstück. Selbst nach seinem Beinbruch, als er mit Rollstuhl zum Frühstückstisch gebracht werden musste, achtete er darauf, frisch rasiert und frisiert am Tisch zu sitzen. Sein After Shave riecht nach alter Schule, herb und männlich.
„Wie geht es Ihnen heute, Frau Roth?“
„Gut, Herr Sander, danke der Nachfrage. Wie geht es Ihnen?“
„Danke, gut. Ich habe die Buddenbrooks fast beendet. Ich lese es zum dritten Mal, aber ich werde dieses Buch nie müde. Kennen Sie Thomas Mann?“
„Dem Namen nach. Aber gelesen habe ich nichts von ihm.“
„Nun ja, es ist auch ein alter Schinken. Genau wie ich. Was machen Sie denn so in Ihrer Freizeit?“
„Ich tanze.“
„Wie wunderbar. Klassische Tänze?“
„Auch, ja!“
„Vielleicht darf ich Sie ja mal zu einem langsamen Walzer auffordern. Einem sehr langsamen.“
„Sehr gerne!“
Ich denke noch oft an Julian. Und an den Sex mit ihm. Nie zuvor und nie danach habe ich einen Mann so intensiv gespürt wie ihn. Jedes Mal, wenn wir miteinander geschlafen hatten, versuchte ich, das Erlebte schriftlich zu fixieren. Meine Sicht, seine Sicht. Es war der zum Scheitern verurteilte Versuch, gelebtes Leben einzufangen, zu bewahren, für die Zukunft. Ich wollte bewusst darüber schreiben. Seine Idee, es zu filmen, lehnte ich ab. Ich ahnte, nein, ich wusste, dass eine Kamera unsere Gefühle beim Sex nicht abzubilden vermochte. Was hätten wir gesehen? Hüllen, nacktes Fleisch, plumpes Dekor, aber das Innerste wäre uns auf den Bildern verborgen geblieben.
Manchmal hole ich mein Notizbuch hervor und lese mir aus meinen Aufzeichnungen laut vor: „Alle seine Muskeln waren eins, all seine Kraft war eine Kraft, konzentriert in diesem Körper, in dem er sich selbst fand und wieder verlor, fand und wieder verlor. Alles in ihm drängte nach außen, wie Magma unter einem harten Stein, der nun glühte und schmolz, glühte und schmolz. Dann, plötzlich, explodierte er, wie ein aktiver Vulkan, der Lava spie. Und ich war sein Himmel, in dem sich das flüssige Feuer ergoss, wild, unkontrolliert und frei, so frei. Schließlich entzog er sich mir, abrupt, betrachtete in völliger Erschöpfung und Zufriedenheit das Nachbeben in meinem Körper. Jetzt war ich der Vulkan.“
Mit einunddreißig starb Julian bei einem Autounfall. Er war auf dem Weg zur Arbeit, neben ihm saß ein Kollege. Sie gerieten in einen Stau, hielten an. Ein Sattelschlepper kam angebraust, der Fahrer war kurz vorm Sekundenschlaf und hielt die stehenden Wagen für fahrende. Er fuhr ungebremst auf Julians Wagen auf und presste ihn zusammen. Julian und sein Kollege waren so im Innern des Wagens eingequetscht, dass die Rettungskräfte den Wagen mit ihnen darin abschleppten und sie erst in der Werkstatt aus dem Auto schnitten. Immerhin: Sie waren beide auf der Stelle tot gewesen. Als ich von Julians Tod erfuhr, hatte ich ihn schon über ein Jahr nicht mehr gesehen.
Um 10:30 Uhr steht eigentlich die Dokumentation an. Aber in der Regel müssen um diese Zeit die ersten Bewohner auf Toilette. Da das weniger Arbeit macht, als die Kleidung zu wechseln, wenn sie sich einnässen, verschiebe ich die Dokumentation oft lieber auf später und helfe den Bewohnern aufs Klo.
Ungefähr ein Jahr nach seiner Ankunft helfe ich Herrn Sander das erste Mal auf die Toilette. Ich wundere mich, dass es vorher noch nie passiert ist. Aber am Anfang konnte er es noch alleine und nach seinem Sturz hat er es entweder selbst irgendwie geschafft oder sich von jemand anderem helfen lassen. Fast kommt es mir so vor, als wollte er unbedingt vermeiden, von mir Unterstützung bekommen zu müssen.
„Ich entschuldige mich für die Unannehmlichkeiten“, ist dann auch das erste, was er sagt.
„Aber Herr Sander“, sage ich sogleich beschwichtigend. „Da ist doch nichts dabei. Und außerdem ist es mein Job.“
Er lächelt mich verlegen an. Er schämt sich. Ich fahre ihn mit dem Rollstuhl, auf den er immer noch angewiesen ist, in sein Zimmer und in die behindertengerechte Toilette. Er schafft es mit meiner Hilfe, sich von den Rollstuhllehnen abzustützen und die Halterung neben dem Klo zu ergreifen. Er hält sich krampfhaft daran fest, während ich ihm die Hose aufmache und diese mitsamt der Unterhose runterziehe. Dann setzt er sich auf die Klobrille und stöhnt erschöpft auf.
„Soll ich bei Ihnen bleiben?“, frage ich höflich.
„Mir wäre es lieber, sie warteten vor der Tür!“
„Kein Problem, Herr Sander. Wenn etwas ist, sagen Sie Bescheid. Ich lehne die Tür nur an.“
Er nickt und schaut mich dankend an. Ich bin gerührt zu sehen, wie wichtig es ihm ist, vor mir seine Würde zu bewahren. Ich bin gerührt, weil ich in diesen Situationen schon ganz andere Sachen erlebt habe. Die meisten Männer, denen ein Leben lang Respekt erwiesen wurde, reagieren empört auf diese vermeintliche Erniedrigung. Sie üben mit ihrer Hilflosigkeit Macht aus. Herr Sanders nicht.
„Sie können kommen“, ruft er nach einer Weile aus der Toilette. Als ich diese wieder betrete, sitzt er angezogen und stolz in seinem Rollstuhl. Ich bin versucht, ihn zu fragen, ob er auch wirklich sauber ist, aber ich bringe es nicht übers Herz.
„Herr Sander!“, sage ich in einem Tonfall der Bewunderung. Er strahlt stolz über das ganze Gesicht.
Ich fahre ihn an sein Bett und helfe ihm hinein. Zeit für die Siesta. Als ich ihn zugedeckt habe und gehen will, ergreift er meine Hand.
„Wissen Sie“, sagt er, und schaut mich eindringlich an, „als ich in den Sechzigern meine Frau kennengelernt habe, das war auf einem Schwoof in Wannsee, da hatte ich tagsüber irgendwas Falsches gegessen und plötzlich war mir speiübel. Ich schaffte es gerade noch vor den Eingang des Gasthofes, dann musste ich mich übergeben, richtig übergeben. Meine zukünftige Frau fand mich draußen so vor, völlig blass und mit Erbrochenem auf dem Hemd. Sie ist kurz reingegangen und kam mit einer Schüssel warmem Wasser und einem Waschlappen wieder. Sie hat mir dann den Mund und das Hemd gewaschen. Das klingt vielleicht albern, aber in dem Moment wusste ich, was Liebe ist. Verstehen Sie?“
Ich schaue ihn an und setze mich auf den Stuhl neben seinem Bett.
„Möchten Sie, dass ich noch ein bisschen bleibe?“
Er nickt und drückt meine Hand.
So sitze ich da, zehn, zwanzig Minuten. Als er eingeschlafen ist, fallen mir die halb offene Schublade seines Nachttisches und das Fotoalbum darin auf. Ich versuche den Impuls zu unterdrücken, aber dann gebe ich doch nach. Ich öffne die Lade und hole das Fotoalbum hervor. Ich finde darin Fotos aus den verschiedenen Phasen von Herrn Sanders’ Leben: Hochzeitsfotos, Fotos von Urlauben, Fotos von seinem Sohn als Baby, Fotos von feierlichen Anlässen, usw. Ein Foto sticht mir besonders ins Auge: es ist eine Schwarzweiß-Aufnahme von Herrn Sander auf einer alten Brücke. Ich vermute, dass es in Venedig ist. Er schaut nach unten auf den Boden, trägt eine schwarze Sonnenbrille und hat das Jackett lässig über die Schulter geworfen. Sein weißes Hemd ist oben offen, eine Strähne hängt von seinem vollen, dunklen Haupthaar herunter und fällt ihm in die Stirn.
Herr Sanders war ein umwerfend gut aussehender Mann, denke ich, und stecke das Foto ein.
„Buon giorno“, sagt Herr Sander mit deutschem Akzent.
„Scusi tanto“, sage ich sogleich, verschreckt und verschüchtert. Herr Sander fixiert mich mit seinen Augen. Er trägt eine dunkelblaue Hose, dazu ein weißes Hemd, der Kragen ist offen. Sein Blick durchdringt mich, wie ein schleichender Panther bewegt er sich auf mich zu. Ich bin erstarrt, in mir spüre ich eine schöne Angst und ein wohliges Kribbeln. Als er ganz nah bei mir ist, hebt er die Hand und fasst mir sachte ans Kinn. Er will, dass ich ihn angucke. Ich schaue zu ihm hoch und schlage unbewusst die Augen auf. Durch das Fenster weht ein schwacher Lufthauch in das heiße Zimmer. Ein schwülwarmer Tag. Aus der Ferne hört man den Glockenschlag vom Campanile di San Marco. Ich vernehme das Geräusch von aufgeschreckten Tauben, die sich mit einem hastigen Flügelschlag fortbewegen. Auch ich verspüre einen Fluchtinstinkt, bleibe aber wie angewurzelt stehen.
Herr Sander schlägt mit seiner rechten Hand eine Schneise in meine Bluse, greift in den leichten Büstenhalter und ertastet meinen schweren Busen. Er nimmt die linke Hand zu Hilfe und öffnet mit sinnlicher Langsamkeit die Knöpfe meines Kleides. Er zieht mich aus, geduldig und gierig zugleich, er hilft mir aus dem Kleid, entledigt mich meiner Unterwäsche und führt mich zum großen Spiegel vor dem Doppelbett. Er positioniert mich so, dass ich ihn und mich im Spiegel beobachten kann. Ich bin fast vollständig entkleidet, trage nur noch die schwarzen Stiefeletten und die halbtransparente Damenstrumpfhose. Herr Sander lächelt mich über den Spiegel an, seine rechte Hand umfasst wieder meinen Busen. So stehen wir da, ich fast nackt, er noch angekleidet. Seine linke Hand hält meinen rechten Oberarm, übt einen leichten Druck aus, der sagt: Du kannst gehen, aber ich wünsche mir, dass du bleibst. Seine rechte Hand lässt von meinem Busen ab, erkundet begierig den Rest meines Körpers. Wir betrachten uns beide im Spiegel, als wären wir Fremde, die Fremden beim Liebesspiel zuschauen.
Irgendwann, nach einer gefühlten Ewigkeit, dreht Herr Sander mich wieder zu sich hin, schaut mir in die Augen und küsst mich. Dann wirft er mich aufs Bett und ich verliere mich augenblicklich in der Intensität der Gefühle.
Als ich aus dem Höhepunkt erwache, liege ich alleine in meinem Bett, das Foto von Herrn Sander in meiner linken Hand.
Bei Herrn Sander war das alles anders. Wenn ich um 13 Uhr gehen konnte, war ich betrübt, weil ich Herrn Sander allein ließ. In den vorherigen Heimen war häufig einer der Pfleger krank oder hat gekündigt, so dass ich nicht selten eine Doppelschicht machen musste. Im Dreilindenhof sind Doppelschichten grundsätzlich verboten. Ich muss dann nach Hause gehen.
Als Herr Sander Bewohner war, fühlte ich mich um 13 Uhr wie ein Heranwachsender, der frühzeitig eine Party verlassen muss, weil die Eltern es so wollen. Ich wollte nicht gehen. Ich wollte bei Herrn Sander bleiben. Gleichzeitig verstand ich nicht, was mich an ihm so faszinierte. Hatte ich einen Vaterkomplex? War ich verliebt, fühlte ich mich bei ihm geborgen? Wollte ich an sein Erbe? War ich in sein jüngeres Ich verliebt? Warum beschäftigte er mich so?
Julian hatte ausgefallene Ideen. Auch experimentierte er gerne mit verschiedenen Stoffen. Schwarzes, glänzendes Leder erotisierte ihn ganz besonders. Dafür stürzte er sich auch in Unkosten. Er kaufte mir von seinem Ersparten einen Jumpsuit aus Leder mit Wetlook-Effekt. Dazu schwarze, hochhackige Stiefel, deren Schaft bis zum Oberschenkel reichte. Am liebsten mochte er es, wenn ich ganz nackt unter dem Jumpsuit war und ihm beschrieb, wie es sich anfühlte. Wie die harten Nippel meiner dicken Brüste von innen gegen den Stoff rieben, wie ich feucht wurde, wie mein Körper zu glühen begann, wie mir schwindlig wurde und wie ich mich dabei nach ihm verzehrte. Wieder und wieder wollte er bis ins Detail hören, wie mein Bewusstsein sich veränderte und wie ich auf seine Anwesenheit reagierte. Oft ging es darum, den eigentlichen Sex möglichst lange heraus zu zögern, ihn vielleicht sogar gar nicht zu vollziehen. Diese Spannung bis ins Unerträgliche auszudehnen, das war es, was ihn am meisten faszinierte. Der eigentliche Geschlechtsverkehr dauerte dann, wenn er überhaupt passierte, nicht sehr lange. Er öffnete hastig, nahezu wild, den Reißverschluss meines Jumpsuits und drang dann überstürzt in mich ein. Die ganze aufgestaute Energie entlud sich in einem kurzen Moment und erschöpft fiel er dann zu Boden oder auf das Bett.
Die Macht, die ich in diesen Momenten über ihn besaß, faszinierte mich. Ich bekam das Gefühl, dass ich während dieses Liebesspiels alles von ihm verlangen konnte: Geld, Eigentum, einen Mord gar. Dass ich es mit meinem jungen Körper vermochte, einem so gestandenen Mann, wie Julian es mit achtundzwanzig Jahren schon war, seiner Willenskraft zu berauben, ihn mir hörig zu machen, das berauschte mich maßlos. Er war mir ausgeliefert und das wiederum gab mir ein Gefühl unendlicher Stärke.
Als ich einen Monat lang Spätschicht habe, passiert es. Ich komme gegen 14 Uhr in den Dreilindenhof und bei der Übergabe wird es ganz sachlich formuliert.
„Herr Sander ist ins Uni-Klinikum eingeliefert worden. Verdacht auf Schlaganfall. Er ist heut morgen aufgewacht und hat über Taubheitsgefühle im linken Arm und in den Beinen geklagt. Die Frau Kröger hat zunächst vermutet, er hätte über Nacht nur ungünstig im Bett gelegen, aber ausgerechnet Frau Nguyen war aufgefallen, dass er etwas lallte und hat sofort darauf gedrängt, einen Notarzt zu rufen. Ich möchte die Gelegenheit nochmal nutzen, Sie alle an das Protokoll bei Schlaganfällen zu erinnern. Typische Symptome sind..“
Ich sitze da wie versteinert. Herr Sander. Mir fällt plötzlich ein, dass ich ihm noch einen langsamen Walzer schulde, einen sehr langsamen. Mir fällt, ein, dass ich sein Foto noch zuhause habe und dass ich es noch zurücklegen muss. Mir fällt das Lächeln des Herrn Sander ein, die Güte und Wärme, die es ausstrahlt. Ausstrahlte.
Ich habe schon viele Menschen mit Schlaganfall gesehen. Ich kenne das Davor und das Danach. Ich sitze also da und hoffe und bete inständig, dass es falscher Alarm war. Plötzlich bin ich so von dieser Nachricht ergriffen, dass ich mich unter dem Vorwand, ich müsse auf die Toilette, entschuldige und mich dann tatsächlich auf dem Klo verschanze. Mir kommen die Tränen und ich muss mir die geballte Faust in den Mund stecken, um nicht laut los zu schluchzen. Wieder wundere ich mich über meine Ergriffenheit. Warum Herr Sander? Was ruft er in mir hervor?
Nach einem längeren Aufenthalt in einer Reha-Klinik kommt Herr Sander tatsächlich zu uns zurück. Zuerst wirkt er wie immer, aber dann fällt mir auf, dass sein Blick sich verändert hat. Früher war da diese Klarheit, jetzt ist da ein nebliger Dunst auf der Iris. Als er mich anschaut, glaube ich, dass er mich erkennt, aber es mag auch einstudiert und reflexartig sein. Er schenkt jedem diesen Blick, selbst Pflegern und Bewohnern, von denen ich weiß, dass er sie nicht kennt. Er sagt keinen Ton, sein Sohn, der auch da ist, meint zu mir, dass sein Vater gemerkt habe, dass er schnell ins Lallen kommt und aus Scham darüber lieber gar nichts sagt. Immerhin, erklärt sein Sohn weiter, die Mobilität sei noch recht gut erhalten, er kann stehen, ein bisschen gehen und die Arme sind wieder beweglich.
Tagelang schleiche ich um ihn herum, beobachte ihn aus der Ferne, gebe Aufgaben, die eine Nähe zu ihm erfordern, aus fadenscheinigen und vorgeschobenen Gründen an Kolleginnen und Kollegen ab. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. Manchmal habe ich das Gefühl, dass da noch etwas ist. Die Art, wie er mich ansieht, lang und eindringlich, lässt mich glauben, dass er doch noch weiß, wer ich bin, dass er mich erkennt, wiedererkennt.
Eines Abends, ich habe Nachtschicht und es ist insgesamt sehr ruhig, fasse ich mir ein Herz und gehe in sein Zimmer.
Die prägendste Erinnerung dieses Sommers war diese Nacht am Meer. Im Schutze der Dunkelheit verließen wir splitterfasernackt unser Ferienhäuschen und gingen ruhig und ohne Hast zum Strand. Hand in Hand liefen wir ins Wasser, empfanden das kühlende Nass wie ein erquickendes Elixier, das uns Kraft für das bevorstehende Liebesspiel gab. Wir liefen zurück, bis wir nur noch in der Gischt standen. Im fahlen Licht des Mondes fanden sich unsere Lippen, verliehen dem aufkeimenden Verlangen ihren ersten, zarten Ausdruck. Als unsere Zungen sich fanden, waren unsere Körper elektrisiert und erregt. Im Einklang mit den Wellen, die sich im Sand verloren, verschmolzen wir ineinander, unternahmen den Versuch, eins zu werden. Wir warfen uns in den Sand, er drang in mich ein und ich spürte die Verkörperung aller Naturgewalten in mir. Ich war so erfüllt und beglückt, dass alle Gedanken sich erübrigten und ich in einen Zustand des Seins überging, den ich als so pur und rein und klar empfand, wie das Wasser, das uns umgab. Ich fühlte mich wie ein Geschöpf, das sich der Zivilisation entledigt hatte und in einen ursprünglichen, fast animalischen Zustand überging, bestimmt und dominiert von der Lust des Fleisches. Ich wollte ihn, Julian, mit Haut und Haaren, und ich bekam ihn, verleibte ihn mir ein, mit Haut und Haaren.
Zurück im Ferienhäuschen schauten wir uns für den Rest der Nacht verliebt und erschöpft an. Aus dem Wunsch heraus, diesen Moment für immer bewahren zu wollen, holte ich meine Analogkamera und machte ein Foto von Julian auf dem Bett. Er hatte den Kopf in die Hand gestützt und schaute nach unten auf den Boden. Eine Strähne von seinem dunklen, vollen Haupthaar hing herunter und fiel ihm in die Stirn. Das schwache Licht des Zimmer verlieh seinem Gesicht eine Wärme und Güte, die mich bis heute glauben lässt, einen Menschen fotografiert zu haben, der mit sich im Reinen ist.
„Herr Sander“, sage ich kalt und nüchtern, „bitte lassen Sie das.“
Er schaut mich an, aber ich weiß seinen Blick nicht zu deuten. Scham? Angst? Ein Flehen, ein Weinen gar?
Ich richte mich auf, nun doch ein wenig ergriffen von dieser, seiner Unbeherrschtheit. Ich richte meine Kleidung und will gehen. Doch an der Tür drehe ich mich noch einmal zu ihm um. Seine Augen sind immer noch geöffnet, er schaut mich eindringlich an. Ich wende mich wieder der Tür zu, will sie öffnen und kann es nicht. Ich verharre einen Moment in dieser Pose. Dann, instinktiv, schließe ich die angelehnte Tür und gehe zurück zu Herrn Sander. Ich ziehe meinen Schlupfkasack aus, nehme meinen Büstenhalter ab und lege beides über die Stuhllehne. Ich setze mich hin und rücke den Stuhl ein wenig näher ans Bett. Ich nehme die Hand von Herrn Sander und führe sie behutsam an meinen schweren Busen. Sein Gesicht zeigt keine Regung, aber sein Atem wird deutlich ruhiger und gleichmäßiger. So sitze ich da, mit seiner Hand an meiner Brust, vielleicht zehn, fünfzehn Minuten.
Seine Augen fallen zu, sein Kopf neigt sich zur Seite. Er schläft. Leise ziehe ich mich wieder an und verlasse, ohne mich nochmal umzusehen, das Zimmer. Draußen vor der Tür realisiere ich, dass Herr Sander noch ein bisschen leben wird, aber dass ich gerade Abschied genommen habe.