Herr O.
An einem frühen Donnerstagmorgen stand Herr O. wie jeden Tag auf, kleidete und rasierte sich und nahm den Fünf-Uhr-Zug in die Redaktion. Seit Wochen beherrschten nur zwei Themen die Stadt.
Zum einen war da der Streik der Genossen oben in den Schulz-Laugenwerken. Außerdem gab es noch den sogenannten Taschentuch-Frauenmörder, der stets ein schwarzes Schnupftuch an seinem grausigen Werk hinterließ. Um ihn war es aber die letzte Zeit über ruhig geblieben.
Also machte sich Herr O. auf um wieder ein möglichst abscheuliches Portrait über die Streikbrecher zu schreiben. Wohlgemerkt waren das kalte Experten, die extra aus dem Norden herangebracht worden waren.
Gegen Acht erreichte er den Menschenzug, der mit seinen roten Fahnen langsam auf eine beachtliche Größe angewachsen war. Nach einem kurzen Plausch mit seinen Freunden vom Komitee, wusste er, dass für den Tag eine Entscheidung, entweder auf dem Papier oder auf der Straße erwartet wurde. Und in der Tat kam es um Mittag herum zu immer mehr Bewegung vor den Toren der Fabrik. Zu den Häuptern der Streikbrecher wurde er nicht vorgelassen, aber er kam mit einer Gruppe von Ehefrauen und Müttern der Genossen in ein interessantes Gespräch. Sie standen etwas Abseits im Schutz eines baufälligen Reihenhauses und waren natürlich alle sehr besorgt. Doch sie waren auch alle leidenschaftlich für die Sache. Er beschloss die sehr rohen und mitunter auch inhaltlich fehlerhaften Zitate die er gesammelt hatte sinnvoll und zweckdienlich zu drapieren und auf der morgigen dritten Seite zu präsentieren. Doch er würde nur anordnen und nie frei erfinden. Was seine Arbeit anbelangte, war er sehr gewissenhaft.
Fast beiläufig erfuhr er, dass die Kollegen vom Neuen Kurier in der neuen Ausgabe, wieder alten Hinweisen über den Taschentuch-Fall nachgehen werden würden. Das belustigte ihn.
Als der oberste Verwalter, ein nahezu perfekt runder Mann, dessen Kopf und Rumpf nahtlos miteinander verbunden zu seien schienen, dann hochrot aus der kleinen Verhandlungshütte stürmte, war die Entscheidung, auf welchem Wege eine Einigung fallen werde, getroffen. Sie kamen auf den werkseigenen, offenen Transportwagen und mit langen Knüppeln in den Händen.
Obwohl sie recht wenige waren, gewannen sie schnell die Überhand. Herr O. stand immer noch bei den Frauen und beobachtete das Geschehen aufmerksam. Erst als schon fast alles vorbei war bemerkte er die kleine, braunhaarige Tochter eines Vorarbeiters neben ihm schluchzen.
Höflich wie er war, reichte er ihr das schwarze Tuch.