Herr Marbert schaut zum Fenster raus
Louise ist 5 Jahre alt und hat Käsekästchen vor sich aufgemalt. Sie wirft das erste Steinchen und hüpft auf einem Bein stehend los. Sie schafft den Weg bis zu ihrem geworfenen Steinchen und schaut nach vorn. Das nächste muss sie noch ein paar Meter vor sich werfen, um zum Ziel zu kommen. Ah, geschafft! Louise richtet sich gerade auf und schaut nach oben. Direkt in Herrn Marbert's Gesicht. Er sitzt am Fenster. Ein Kissen unter seinen aufgestützten Armen. Den Blick stoisch nach draußen gerichtet. Louise schaut ihn an. Schaut er auch Louise an? Er schaut. Louise neigt ihren Kopf ein wenig nach rechts. Sie kann nicht erkennen, wohin er guckt. Hat er gesehen, dass sie eben gerade noch Käsekästchen gespielt und dabei gewonnen hat? Louise neigt den Kopf noch ein wenig mehr nach rechts, findet es aber einfach nicht heraus. Louise kennt Herrn Marbert nicht. Schnell wendet sie sich um und läuft in ihr Haus zurück. Mama macht gleich Abendbrot.
Herr Marbert bleibt am Fenster sitzen. Er schaut Louise nach. Das kleine Kind spielt jeden Nachmittag vor seinem Haus. Mal zeichnet es mit Kreide Käsekästchen auf und springt danach wie wild darin herum. Dann schaut es hoch zu ihm herauf. Jeden Nachmittag. Herr Marbert freut sich darüber sehr. Er weiß nicht, ob ihn Louise sehen kann. Lange schon kann er seine Mundwinkel nicht mehr nach oben bewegen. Lange schon sind sie gelähmt. Nicht von Krankheit, nur vom Leben, vom Gesehenem und Erlebtem. Stoisch schaut er gerade aus, wo Louise hüpft und lacht. Jetzt hat sie den Kopf geneigt, leicht nach rechts. Jetzt sogar ein wenig weiter. Und er freut sich, weil sie guckt und beobachtet, wie er da sitzt und schaut. Louise läuft zu ihrer Mama, wahrscheinlich ist es Abendessenszeit. Hoffentlich kommt sie morgen wieder. Er wird da sein und schauen, wie sie sich freut.
Louise ist die nächsten Tage da und die nächsten Wochen, mal spielt sie mit einer Freundin, mal verstecken, manchmal fangen, mal rennen sie wie wild im Kreis. Sie zählt durch, wer alles da ist. Herr Marbert wird wie immer schauen, stoisch nur und ruhig zugleich. Wo hüpft wohl die Louise, auch wenn er nicht weiß, dass sie Louise heißt. Wird sie heute wohl gewinnen oder wird sie beim Fangen gleich eingekriegt? Er versucht den Kopf zu strecken, auch wenn ihm das jetzt schwer fällt. Eine Platte hält seinen Nacken, ein Streifschuss hat ihn hier erwischt. Herr Marbert kann sich nicht so viel bewegen. Seine Frau legt ihm ein Kissen unter, damit wenigstens seine Arme weich aufliegen. Louise rennt ihrer Freundin Ines hinterher. Zum Glück ist diese nicht so schnell, Louise hat sie, Herr Marbert freut sich sehr! Louise rennt jetzt in die andere Richtung, Ines immer hinterher. Herr Marbert lacht schon innerlich, seine Mundwinkel erlauben ihm nicht mehr. Louise gewinnt und springt mit beiden Beinen in die Höh'. Herr Marbert bewegt den Kopf schwerfällig von rechts nach links und freut sich sehr. Herr Marbert schaut zum Fenster raus. Es ist alles, was ihm bleibt. Er liebt das Leben, liebt Louise, auch wenn er nicht weiß, wie sie heißt. Er hat das Leben immer noch in seiner Hand. Er hat erfahren, zu erleben, wie er knapp mit dem Leben noch davon kam, während alle, die mit ihm draußen lagen, doch ums Leben kamen.
Herr Marbert liebt sein Leben. Seine eingeschränkte Sicht auf eine Straße, in der jeden Tag Louise spielt. Mal alleine, mal mit Freunden. Er murrt nur, wenn Louise fehlt. Er braucht nur noch die Louise. Keine Menschen, keinen Lärm, keine Aktion, kein Getöse, nur wenn Louise fehlt, packt ihn Gram.
Jeden Tag geht Louise an dem Fenster von Herrn Marbert vorbei, sie schaut immer, immer, immer hoch zu diesem Haus empor und sie will, dass Herr Marbert dort sitzt, gestützt auf seinem weichen Kissen und hinausschaut in ihre Straße. Sie zählt ihn immer mit.