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Herr Müller - Kurzer Einblick
Herr Müller
Die Kälte, die aus dem Betonboden herauf kroch und sich in seinem Körper ausbreitete, betäubte ihn fast. Da es hier unten keine Sitzgelegenheiten gab, setzte er sich direkt auf den Boden. Er hätte auch stehen können, doch der frostige Gegenspieler hatte ihm die ganze Kraft aus den Beinen genommen.
Es gab hier keine Fenster und auch kein elektrisches Licht, - die Dunkelheit war undurchdringlich, nicht einmal seine Hände vorm Gesicht konnte er erkennen, als wären sie überhaupt nicht da.
Mit einem hoffnungsvollen Blick schaute er dort hin, wo die Treppe sein musste. Er war sich dessen nicht mehr sicher, weil er, bevor er allein gelassen wurde, einige Male um sich selbst gedreht wurde.
Er wusste, sie würde zurück kommen und ihn wieder nach oben holen. Er vertraute ihr, denn sie war seine Mutter…
* * *
Herr Müller wachte wie immer um acht Uhr morgens auf. Er verließ mit einem Unwillen, der nur Kindern eigen ist, das warme Bett. Streckte seine Gliedmaßen bis zu einem lauten Knacksen und schlenderte zum Badezimmer, wo er seinen Körper ungern mit einer kalten Dusche konfrontierte.
Anschließend, schon in der Küche, kochte er sich einen starken Kaffee.
Während der Kaffee kochte, studierte Herr Müller eingehend die Zeitung, die er jeden Morgen bekam. Bevor er sich jedoch in den mit verschiedensten Neuigkeiten aus aller Welt gespickten Zeilen völlig verlor, roch er an den erst vor einigen Stunden bedruckten Blättern. Seine Augen hielt er dabei geschlossen. Was für ein Duft! Frische Tinte vermischte sich mit der unbeschreiblichen Morgenluft, die am Papier haften blieb. Das Aroma des Kaffees kam hinzu und ließ Herr Müller an die Unbeschwertheit seiner jungen Tage denken.
An diesem Morgen wurde Herr Müller nämlich fünfundvierzig Jahre alt, was ihn aber nicht zum Grübeln stimmte, im Gegenteil er fühlte sich immer noch jung und voller Kraft, und diese Erkenntnis war für ihn wichtiger, als irgendwelche Zahlen.
Die Zeitung bot nichts Neues. Er legte sie zur Seite und goss sich den fertig gekochten Kaffee ein.
Mit der dampfenden Tasse ging er auf die breite Terrasse hinaus und lächelte unwillkürlich. Die angenehme morgige Frische konnte auch keine andere Reaktion hervorrufen. Dazu kamen noch das glückliche Vogelgezwitscher und die schöne Aussicht auf seinen Garten, den er seit Jahren fanatisch verschönerte.
Herr Müller schlurfte an dem Kaffee und spazierte in seinem Reich umher, warf noch einen kurzen Blick in den Himmel, der einen sonnigeren Tag versprach, als es der gestrige war, und ging wieder rein.
Er spülte die Tasse aus und stellte sie zum Abtrocknen hin. Nach dem Zähneputzen machte er es sich im Wohnzimmer in einem Sessel bequem. In seinen Händen hielt er ein Kinderbuch.
Herr Müller liebte Kinderbücher, sie waren voller Naivität und Moral. Die Bösen bekamen ihre verdiente Straffe und die Guten klärten als unbefleckte Sieger jede Situation auf.
Das Ganze war so blauäugig dargestellt, dass er Tränen in den Augen bekam: Wie gerne würde er in so einer Welt leben!
Im Buch blätterte Herr Müller genau zwei Stunden lang. Danach ging er in den Keller runter, um das Fleisch für das Mittagessen zu holen.
Der Keller bestand aus drei Räumen: Vorratskammer, Unterhaltungsraum/Fitnessraum und ein Raum für eigene Vorlieben. Diese Bezeichnung fiel Herr Müller jedes Mal ein, wenn er das geräumige Zimmer betrat.
Die Tür aus Metall ließ sich ohne Schwierigkeiten öffnen, das Licht ging automatisch an. Der Raum hatte keine Fenster und ähnelte sehr einem Operationssaal, nur noch das Equipment fehlte.
Als erstes überprüfte er den Thermostat, der sofort rechts vom Türrahmen an der Wand klebte. Der Apparat zeigte eine Temperatur von Null Grad an. Herr Müller drehte ihn auf minus acht Grad runter.
Die einzigen Möbel, die hier standen waren ein Hocker, ein Schrank und ein Tisch. Wie die Tür ebenfalls aus Metall, glich er einem menschlichen Körper. Die Arme waren zu den Seiten gespreizt, sowie die Beine voneinander, so als mache es einen Engel im Schnee. Der Tisch besaß dazu noch allerhand Gurte aus Leder, die an der harten Oberfläche festgemacht wurden, und zwar an folgenden Stellen: Hals, Brust, Taille, Ober- und Unterschenkel, Fuß- sowie Handknöchel, Ober- und Unterarm.
In den Gurten lag ein nackter Mann.
Der Mann konnte nichts sagen, weil sein Mund zugeklebt war. Er muhte nur etwas Unverständliches und rollte mit den Augen, als er einen Menschen sah.
Herr Müller musterte den sich windenden Körper mit einem abschätzenden Blick, kam dann näher und legte seine Hand auf den rechten Schenkel des Mannes. Er betastete leicht den angespannten Muskel unter der Haut und nickte zufrieden. Mit einem Filzstift malte er gepunktete Linien auf die Haut des von ihm ausgesuchten Bereichs.
Der Mann winselte leise und versuchte sich zu befreien, doch die Gurte ließen ihm dazu nicht die geringste Chance.
Herr Müller näherte sich leichtfüßig dem Schrank und holte daraus eine große Schüssel und Gummihandschuhe, welche die Ärzte benutzen, heraus. Hinzu kam eine Schürze, die seinen Körper von Fuß bis Hals bedeckte.
Danach öffnete er die untere Schublade im Schrank und bewaffnete sich mit einem Messer. Das Schneidewerkzeug besaß eine lange, dünne Klinge, die das Licht der einsamen Glühbirne reflektierte und ihn auf dem Gesicht des Gefangenen für einen kurzen Moment spielen ließ.
Die Augen des Mannes weiteten sich bei dem Anblick des Messers, und er strampelte auf dem Tisch wie ein Fisch im Netz.
Die Schüssel kam unter den Tisch und die Handschuhe auf die Hände.
Tränen zeigten sich in den Augen des Mannes, doch Herr Müller schenkte ihm keine Beachtung, er konzentrierte sich auf dem ersten Schnitt.
Das scharfe Messer drang seitlich in das Fleisch ein, als ob es kein Hindernis wäre, sondern ein Trugbild. Ein Blutstropfen zeigte sich und bildete eine rote Linie nach unten. Die dünne Klinge zog sich nach oben und kam dann geräuschlos aus der blutenden Wunde wieder raus.
Blutadern zeigten sich auf dem Gesicht des Opfers, der vorm unnatürlichen Schmerz schreien wollte, doch es wurde ihm durch den Einsatz des Klebestreifens genommen. Er errötete, Schweiß bedeckte augenblicklich seinen ganzen Körper.
Genauso ein langer Schnitt von der Kniescheibe und fast bis zu den Länden wurde auf der Innenseite des Schenkels vollführt. Als nächstes entstanden zwei kürzere Schnitte – über und unter den ersten zwei, um sie miteinander zu verbinden, dabei verschwand die Messerschneide völlig in den neu entstandenen Wunden.
Das Bein des Mannes zitterte während der ganzen Aktion. Sein Körper eine einzige angespannte Feder, die die Belastung nicht mehr zu ertragen schien und bald zu reißen drohte.
Als dies vollendet war, hob Herr Müller das Stück Fleisch von dem großen Ganzen ab. Es ließ sich aber nicht sofort lösen, einige Sehnen und Muskeln wurden noch nicht ganz durchtrennt, sodass das Messer noch einmal ran musste.
Nach ein paar kleinen Extraschnitten, hielt Herr Müller zufrieden in seinen Händen ein ovales Stück.
Er legte es in die Wanne, in die etwas Blut von der hässlichen Wunde geflossen war.
Danach holte er einen Eimer mit Salz und streute es auf die beschädigte Stelle am Bein.
Der Mann reagierte nicht mehr – er war ohnmächtig geworden.
Herr Müller schälte die Haut in aller Ruhe vom abgeschnittenen Stück und pfiff gutgelaunt ein Lied aus seiner Kindheit, das ihm seine Mutter vorgesungen hatte. Es war wunderschön gewesen. Er konnte sich zwar nicht an die Worte erinnern, die Melodie aber reichte ihm völlig aus.
Und allmählich wurde es frostig.
Eine Stunde später, saß Herr Müller am Küchentisch und wartete auf sein Mittagessen.
Die Kartoffeln waren schon fertig, doch das Fleisch im Backoffen brauchte noch etwas mehr Zeit.
Er hatte es in vier Stücke geteilt Salz, roten Pfeffer, Petersilie und Dillspitzen dazu gegeben. Voila, fertig war das Gourmetgericht, dessen Duft sich im ganzen Haus verteilte.
Herr Müller leckte sich die Lippen ab. Das wird köstlich.
Der gestellte Wecker trällerte schrill. Herr Müller sprang von seinem Stuhl auf und öffnete den Backoffen. Holte das dämpfende Fleisch raus und legte es auf den vorbereiteten Teller. Er schnitt ein kleines Stück davon ab und kostete es. Mh, perfekt!
Zwei Kartoffeln aus dem Topf legte er sich dazu und das Mal konnte beginnen.
Nach dem Essen machte Herr Müller sofort den Abwasch. Den Rest stellte er in den Kühlschrank für Morgen.
Er dachte noch daran, dass es ein gelungener Geburtstag war, obwohl er keinen Besuch bekam und folgendermaßen auch keine Geschenke.
Den Abend verbrachte Herr Müller mit Gartenarbeit. Von Zeit zu Zeit entlockte es ihm ein Lächeln.
* * *
Seine Mutter kam nicht.
Der kleine Junge lag auf dem kalten Betonboden. Er zitterte nicht mehr.
Die Kälte in seinen Gliedern wich einem anderen Gefühl, das viel schlimmer war und tief in das Bewusstsein reichte. Es war das Gefühl der Einsamkeit, der Verlassenheit.
Es machte ihn traurig zu wissen, dass nicht einmal seine Mutter sich für ihn interessierte. Er wollte weinen, um Hilfe rufen, seine Mutter um Gnade bitten. Aber er tat nichts.
Er lag einfach nur da und wartete.