- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 9
Herr Herzog jagt das Glück
Die Weihnachtsfeier der Firma fand dieses Jahr im Thai Restaurant statt und Jochen Herzog war angenehm überrascht worden. Das Hühnchen in Kokoscreme war lecker, sein Erzfeind Bergmeier hatte eine sentimentale Rede gehalten, die peinlich wie ein Politikerwitz im Raum hing und die Getränke waren kühl und kostenlos. Es war ein rundum gelungener Abend und als die zarte, freundliche Bedienung jedem Gast am Ende des Gelages einen Glückskeks überreichte, hatte Jochen ihn ganz gegen seine Gewohnheit mit heiterer Miene entgegen genommen und geöffnet. Normalerweise hätte er ihn weggeschmissen oder der korpulenten Sekretärin geschenkt, aber irgendwie schien es ein besonderer Abend zu sein. Unter Gelächter wurden die Botschaften der Kekse vorgelesen: „Ihnen widerfährt Gutes“, „Hüten Sie sie sich vor falschen Freunden“ und das unvergessliche „Hände weg vom Geld anderer Leute“, das eine verlegene Kollegin aus der Buchhaltung vorlas.
„Na, Jochen, was hast du?“, hatte einer gerufen und so hatte auch er seine Prophezeiung preisgegeben. Sie war simpel: „Bald werden Sie großes Glück erleben!“
„Na, nichts wie hin, Lottoscheine kaufen!“, hatten die Kollegen gescherzt und sich dann dem Nächsten zugewandt. Jochen hatte den Zettel in die Tasche gesteckt und als er ihn später am Abend zu Hause wieder fand, konnte er ihn einfach nicht wegwerfen. Vielleicht steckte ja ein Körnchen Wahrheit darin? Man hörte schließlich manchmal die seltsamsten Sachen!
Als er am nächsten Tag am Zeitungsladen vorbeikam, führten ihn seine Füße wie ferngesteuert hinein und ehe er sich versah, hatte er zwei Lottoscheine erworben. Man wusste ja nie.
Eine seltsame Aufregung hatte von ihm Besitz ergriffen und der Gedanke an einen Gewinn spukte ihm während er folgenden Tage ständig im Hinterkopf herum. Obwohl er leicht enttäuscht war, als er bei der Mittwochsziehung leer ausging, gab er doch die Hoffnung nicht auf. Nicht umsonst hatte er diese Botschaft erhalten. Wenn er nur regelmäßig Lotto spielte, würde der Gewinn nicht lange auf sich warten lassen. Und wenn es nur ein paar hundert Euro wären, dachte er, genug, um sich endlich den heißersehnten Plasma Fernseher zu kaufen. Siebenhundert Euro hatte er bereits angespart und wenn er den Rest vielleicht gewinnen würde … Voller Vorfreude beschloss er, zum Media Markt zu gehen und schon einmal ein bisschen vorzufühlen. In allen Läden der Innenstadt war über Nacht Weihnachten explodiert und funkelnde Lichter wetteiferten mit Sonderangeboten, Glühweingeruch und Weihnachtsliedern um die Aufmerksamkeit aller Sinne.
Ein als russischer Kosake angezogener Mann stand im Nieselregen und sang schwermütige Weihnachtslieder. Die Menschenmenge bewegte sich wie ein riesiger Organismus auf die hellerleuchteten Pforten des überdachten Einkaufszentrums zu und Jochen ließ sich mittreiben. Kurz hinter der Eingangstür stockte die Menge und er konnte aufgeregte Kommentare hören.
„Was ist das denn?“
„Die Leute kommen auf Ideen!"
„Mir schenkt auch keiner was!“
Interessiert arbeitete er sich nach vorn und sah überrascht auf einen schön geschmückten Weihnachtsbaum, an dem kleine Wunschzettel hingen. Die Kirche rief dazu auf, den weniger Begüterten an diesem Weihnachtsfest einen Herzenswunsch zu erfüllen.
„Sind das Hartz-IV-Leute?“, fragte einer neugierig.
„Keine Ahnung“, entgegnete eine Frau schnippisch. „Ich find’s unverschämt. Mein Mann ist auch arbeitslos, aber uns schenkt keiner was!“
„Haben Sie gesehen, was die verlangen?“, ereiferte sich eine andere. “Ein neues Set Handtücher! Ich benutze meine Handtücher seit fast zwanzig Jahren und sie reichen völlig aus!“ Erbost ging sie weiter.
Neugierig drehte Jochen einen der Zettel um. „Ich hätte gern eine neue Kaffeemaschine. Frau, 45 Jahre“, las er laut vor. „Ich auch!“, meinte er und die Umherstehenden lachten.
Kopfschüttelnd ging er zum "Media Markt". Das war ja wirklich der Gipfel, was diese Leute sich anmaßten. Bekamen doch schon genug vom Staat zugebuttert.
Im "Media Markt" sah er ihn sofort. Es war Liebe auf den ersten Blick. Samsung, 107cm breit, für neunhundertachtzig Euro. Zwar gab es auch noch billigere Geräte, die er sofort hätte kaufen können, aber warum sollte er sich mit Zweitklassigem zufrieden geben? Er würde genau an den Platz an der Wand passen, den er dafür freigekämpft hatte. Und endlich den prähistorischen fünfzehn Jahre alten Koloss ersetzen.
Auf dem Heimweg kaufte er zwei weitere Lottoscheine und gewann bereits am Abend zehn Euro! Wenn das kein Zeichen war!
Schon am nächsten Tag trieb es ihn wieder in die Stadt, um „seinen“ Fernseher zu besuchen.
Eine Frau nestelte im Einkaufszentrum gerade einen Wunschzettel vom Baum und legte ihn sorgsam in ihre Tasche. Ein paar Leute standen unschlüssig davor und diskutierten immer noch heftig. „Sie sollten die Schmarotzer nicht noch unterstützen“, meinte ein dicker Mann belehrend zu der Frau. „Sehen Sie doch mal, das hier zum Beispiel!“ Erregt griff er sich einen rosa Wunschzettel. „Da wünscht sich einer einen Nintendo DS!“ Fassungslos drehte der Mann den Zettel in der Hand. Man konnte sehen, dass er ihn am liebsten abgerissen hätte.
"Einen was?“, fragte eine alte Frau verwirrt.
„Ich sage Ihnen, mein Sohn ist Zahnarzt und mein Enkel spart auf einen Nintendo DS!“ Der Mann ging aufgebracht weiter. Jochen erhaschte einen Blick auf den Zettel. „Ich möchte gern einen Nintendo DS, Jan, 9 Jahre“, war dort in ungelenker Schrift zu lesen.
Jochen stieß ein empörtes Geräusch aus. Das überstieg ja alles bisher Dagewesene!
Im "Media Markt" begrüßte ihn der Verkäufer wie einen alten Bekannten und unterhielt sich lange und angeregt mit Jochen über das Objekt seiner Begierde. Es gab demnach kaum einen besseren Plasma Fernseher auf dem Markt, zumindest nicht für diesen Preis!
Mechanisch kaufte er sich weitere Lottotickets. Es musste doch nun endlich mal etwas passieren,
wie lange genau war „bald“ denn gültig?
Mit seiner Frau diskutierte er am Abend den unverschämten Wunschzettelbaum und zu seiner grenzenlosen Verärgerung stimmte sie ihm nicht bei.
„Es sind eben ihre Herzenswünsche“, sagte sie achselzuckend. „Dinge, die sich alleine nie leisten könnten!“
„Na, hör mal!“, meinte er empört.
Bei seinem nächsten Ausflug zum "Media Markt" stellte er überrascht fest, dass fast alle Wunschzettel vom Baum verschwunden waren. Es gab eben immer noch genug Leute, die offenbar zu viel Geld hatten. Sein Geld wollte sich aber nun gar nicht vermehren, obwohl er nunmehr schon fast fünfzig Euro für Lottoscheine ausgegeben hatte! Es war ihm leicht unangenehm, weswegen er es seiner Frau gegenüber lieber nicht erwähnte. Stattdessen kaufte er ihr schuldbewusst ein Parfüm, welches denselben Wert hatte und ihm bei „Douglas“ von einer geschwätzigen jungen Frau empfohlen worden war.
Auf dem Heimweg guckte er kurz beim Wunschbaum nach. Nur drei Zettel waren noch zu sehen! Vielleicht hätte er ja auch einen Zettel mit: „Ich wünsche mir einen Plasma TV, Jochen, 52 Jahre“ daran hängen sollen, dachte er grimmig.
Am dreiundzwanzigsten Dezember kaufte er sich in einem Augenblick rauschhafter Wut Lottoscheine für dreißig Euro. Ein einzelner rosa Zettel hing noch an dem Wunschbaum und schien ihn regelrecht auszulachen. Ätsch, schien der Zettel zu sagen, du bekommst auch nicht was du willst. Der Verkäufer bei "Media Markt" hatte etwas von seiner umwerfenden Freundlichkeit verloren, ja fast schien es Jochen, als ob er entsetzt das Weite suchte, als er ihn erblickte. Er stapfte nach Hause, nur um erneut vor dem Fernseher die Ziehung der Lottozahlen mit wachsender Enttäuschung zu verfolgen. So ein verdammter Glückskeks! Wie hatte er, rational denkender Vater zweier erwachsener Kinder, sich nur von solchem Humbug verleiten lassen können!
Am vierundzwanzigsten Dezember stand er nach dem abendlichen Weihnachtsmahl in der Küche und blickte in die dunkle, kalte Nacht hinaus. Seine Frau betrat den Raum, sie roch durchdringend nach „Angel“ Parfüm. Es bereitete ihm jetzt schon Kopfschmerzen, aber er wollte ihr nicht die Freude verderben.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte sie. „Du bist so still.“
„Mir geht’s gut“, erwiderte er.
„Ich dachte nur …“ Sie zögerte ein bisschen. Dann gab sie sich einen Ruck. „Ich wundere mich nur, warum du nicht deinen heißgeliebten Plasma gekauft hast. Du hast doch von nichts anderem geredet in letzter Zeit. Ich dachte, das wird unser Weihnachtsgeschenk?“
„Unser alter macht’s doch auch noch“, sagte er brummig. Seine Frau beschloss, nichts mehr zu dem Thema zu sagen und ging kopfschüttelnd mit einem bunten Teller hinaus.
So entging ihr auch, wie ein Lächeln sich plötzlich in Jochens Gesicht ausbreitete, ein schüchternes, verlorenes Lächeln, wie es nur zu besonderen Gelegenheiten in diesem Gesicht zu finden war. Aber nichtsdestotrotz ein glückliches Lächeln, das sich beim besten Willen nicht mehr unterdrücken ließ, beim Gedanken an den unbekannten Jan, neun Jahre, der jetzt irgendwo ungläubig seinen Nintendo DS auspackte.