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Herr Günzknecht und die bescheuerte Melodie

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14.10.2002
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Herr Günzknecht und die bescheuerte Melodie

"Herr Günzknecht und die bescheuerte Melodie"


An einem kalten Dezembermorgen bekam Karl Günzknecht den Auftrag, eine bescheuerte Melodie zu komponieren. Fürs Fernsehen. Er hatte schon viele Melodien komponiert und verkauft, und darum griffen Firmen immer wieder gerne auf seine Dienste zurück, wenn sie Musik brauchten. Er schrieb Melodien für Rundfunk, Theater und Schallplatten.
Diesmal sollte er Musik für einen Werbespot schreiben. Das hatte er schon oft gemacht. Normalerweise musste man dazu einfach die Melodie eines aktuellen Superhits aus den Charts nehmen und daran gerade einmal so viele Töne verändern, dass einen der Urheber des ursprünglichen Stücks nicht mehr gerichtlich belangen konnte. Daher bedeuteten bescheuerte Melodien immer schnell verdientes Geld. Für den Auftraggeber hatten sie den Vorteil, dass sich beim Publikum sofort der berühmte „Das-kenn‘-ich-doch“-Effekt einstellte und er kein Risiko einging, möglicherweise einige Zuhörer stilistisch zu verschrecken. Die Melodie hatte sich schließlich bereits als massentauglich erwiesen. Hurra! Dieses mal aber war die Sache für Herrn Günzknecht etwas kniffliger.
Musik bedeutet ihm nicht nur sehr viel, er verstand auch etwas davon, was er nicht auf vielen Gebiteten von sich behaupten konnte. Deswegen hatte er die Musik zu seinem Beruf gemacht.
Der Auftraggeber, eine Werbeagentur aus den Niederlanden, arbeitete an einem Fernsehspot für ein neues Mixgetränk. Damit bezeichnete man in der Erfrischungsgetränkebranche ein Getränk, dass sowohl Alkohol, als auch Limonadengrundstoffe, Farbstoffe und Geschmacksverstärker enthielt. Meist wurde es in grellen Aluminiumdosen verkauft, manchmal aber auch in Glasflaschen – je nach Effizienz der Farbstoffe.
Karl Günzknecht fuhr also in seinem alten Ford zu einem Meeting Richtung Westen. Er musste mit den Leuten von der Agentur besprechen, wie genau die Melodie zu klingen hatte und welche Melodien der Auftraggeber bereits im Vorfeld als Schablone ausgeschlossen hatte.
Man sagte ihm also, die Melodie, die er zu komponieren habe, solle auf eine gewisse Art nervtötend, anderseits aber auch ermunternd sein. Darunter konnte er sich vage etwas vorstellen. Viele seiner bisherigen Aufträge waren in diese Richtung gegangen. Er fuhr also wieder nach Hause, kochte einen Kaffee und begann zu komponieren.
Wenn er Musik schrieb, gab es für Karl Günzknecht normalerweise einen Grundsatz: Das was er schrieb, musste ihm selbst gefallen. Um die Substanz eines selbst geschriebenen Stücks auszuloten, pflegte er das Lied aufzunehmen, mit anderen Stücken zusammen in eine Ecke zu legen und auf den Tag zu warten, an dem er das Lied aus einem Haufen Gerümpel zufällig wieder hervorkramte. Die Lieder, die von Bedeutung waren, würden schon ihren Weg finden bzw. ihn schon rechtzeitig herbeirufen. Und tatsächlich, die Lieder die für ein Publikum geeignet waren, riefen immer wieder aus dem Unrat zu ihm herüber.
Wenn er nach Auftrag komponierte konnte er sich eine derart zeitverschwenderische Arbeitsweise natürlich nicht erlauben. Dann komponierte er nach Plan, von morgens um zehn bis abends um sechs.
Dabei gab es jedoch immer wieder Momente, in denen Karl Günzknecht seine Routine verlor, weil ihn eine diffuse Traurigkeit überfiel. Die Vorgaben der Kunden zwangen ihn dazu, seine Kreativität in Bahnen zu lenken, die ihm eigentlich zutiefst zuwider waren – gerade Melodien, die sich wie ein nervtötendes Insekt in seine Gehörgänge bohrten und denen man ihre heuchlerische Lächerlichkeit überdeutlich anhörte, verabscheute er eigentlich aus vollem Herzen.
Doch genau diese Art von Melodien wurden immer wieder gebraucht. Und daher musste auch er an diesem abgrundtief scheusslichen Gesamt-Unkunstwerk mitbauen. Er brauchte das Geld und das Geld brauchte ihn.
Wenn es weiter nichts ist, sagte er sich in solchen Situationen immer und überließ seiner rationalen Gehirnhälfte das Ruder, die ihm klarmachte, dass er doch eigentlich froh sein konnte, dass es gerade diese einfachen, durchschaubaren Melodien waren, die seine Auftraggeber von ihm wollten. Es bereitete ihm mit Sicherheit weniger Mühe, als wenn er pausenlos Symphonien hätte komponieren müssen. Ganz abgesehen davon, dass er das auch gar nicht konnte.
Er nahm also seine Kaffeetasse, ein leeres Notenblatt und einen Stift und setzte sich an sein Klavier, um eine weitere bescheuerte Melodie für ein weiteres bescheuertes Mixgetränk zu komponieren. Seine Finger glitten über die Klaviertasten, ohne dass er eine einzige Note spielte. Er konnte sich nicht entscheiden. Er ließ seine Finger frei über die Tastatur laufen, ohne sie zu zu etwas zu drängen, und wie immer spielten sie plötzlich ein paar Töne, die ihm Tage zuvor eingefallen waren.
Er hatte ein paar wirklich schöne Stücke in diesem Jahr komponiert, und diese Stücke waren es natürlich, die ihm immer zuerst einfielen, wenn er am Klavier saß. Er spielte das, was seine Finger spielen wollten. Normalerweise war er danach mit sich selbst zufrieden genug, um sich den bescheuerten Melodien zuzuwenden, von denen er jedes Jahr aufs Neue viele zu schreiben hatte.
Dieses Mal aber stockte er nach dem letzten Lied. Er wurde sich zum Ersten mal der Tatsache bewusst, dass er bescheuerte Melodien nicht nur hasste, sondern sogar Angst vor ihnen hatte. Er wurde sich gewahr, dass jede einzelne seiner bescheuerten Noten tausendfach verstärkt durch kalte Supermarktregale und abscheulich eingerichtete Wohnzimmer schallten, dass er den Rohstoff für eine Maschinerie lieferte, die seine Ideen mit erbarmungsloser Grausamkeit multiplizierte und multiplizierte, bis der Zuhörer vor lauter Gewöhnung keinen Schmerz mehr empfinden konnte. Er erschauderte bei dem Gedanken, dass Leute seinen bescheuerten Melodien lauschten und dabei womöglich noch lächeln konnten.
Karl Günzknecht sank an seinem Klavier zusammen und weinte bittere Tränen der Verzweiflung. Als er schließlich keine Tränen mehr besaß, trank er einen Schluck Kaffee und schaute einige Minuten lang schweigend durch sein Fenster auf die graue Straße hinunter.
Er nahm sein Notenblatt, setzte willkürlich einige Noten darauf und unterschrieb mit seinem Namen. Dann schrieb er die Worte des Werbeslogans unter die einzelnen Töne, so dass man singen konnte, was auch immer dort stand, steckte das Blatt in einen Umschlag und schickte es der Agentur.
Eine Woche später kam ein Brief von der Firma, in der man ihm tiefes Bedauern über seinen geschmacklosen Scherz ausdrückte und ihm gleichzeitig mitteilte, man würde ab sofort wohl auf seine Dienste verzichten müssen. Herr Günzknecht komponierte seit diesem Tag keine einzige bescheuerte Melodie mehr.
Er fühlte sich seitdem deutlich ausgeglichener, sein schlechtes Gewissen blieb ihm jedoch solange er lebte erhalten.

 

Hallo bokkers,

die Geschichte finde ich ganz gut, aber das Ende gefällt mir nicht. Ich dachte, es kommt irgendeine Pointe, z.B. daß er sich rächt mit einer Melodie, die irgendwas bewirkt bei den Leuten, die sie beurteilen. Du hast schöne Wortkombinationen fabriziert, z.B. "heuchlerische Lächerlichkeit" oder "Gesamt-Unkunstwerk".
Einen Fehler habe ich gefunden: "er verstand auch etwas davon, was er nicht auf vielen Gebiteten"

vio

 

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