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Herr Feddersen
Serie Herr Feddersen .... Der Besuch
Eine Charakterstudie
Wie jeden Tag verlässt Feddersen auch an diesem Freitag um 16.30 Uhr sein Büro, im zweiten Stock des Amtsgerichtes in Solingen.
Der Pförtner in der Eingangshalle sagt: „Pünktlich wie immer, Herr Regierungsrat.“
„Stimmt genau“, erwidert Feddersen. „Schönes Wochenende!“
Durch die Drehtür tritt er hinaus auf die belebte Straße. Gewohnheitsmäßig schaut er zum Himmel hoch. Die Wolken hängen tief. Feddersen fasst seinen Stockschirm, den er täglich mit sich führt, fester. Es wird bald regnen, denkt er und schlägt den Weg zum Bahnhof ein.
Mit langen Schritten überquert er den Bahnhofsplatz, auf dem der Bus wartet, mit dem er sonst täglich nach Hause fährt. Doch heute winkt er dem Busfahrer nur freundlich zu und eilt weiter.
<Ich werde Sie am Wochenende besuchen. Sie freuen sich doch? Lilli>. Die Postkarte lag vor zwei Tagen in Feddersens Briefkasten.
Bereits zum dritten Mal schreitet Feddersen die Bahnsteigkante ab. Ein kalter Windstoß fegt über die Gleise. Feddersen schließt den obersten Knopf seines dunklen Wollmantels und drückt den grauen Hut tiefer in die Stirn. Angespannt beobachtet er den Zeiger der Bahnhofsuhr, der sich ruckartig weiter bewegt.
Viel weiß er nicht von der jungen Frau, die in wenigen Minuten mit dem Zug aus München eintreffen wird. Als er Lilli auf einer Urlaubsfahrt mit dem Bus kennengelernt hatte, war es Sommer gewesen. Inzwischen hatte der Herbst das Laub auf den Bäumen bunt gefärbt. Lilli, klein und schlank, ordentlich frisiert und blauäugig, so hatte er sie in Erinnerung. Feddersen hatte sich einen Spreißel in die Hand gerammt und Lilli, die den Vorfall beobachtet hatte, war ihm zu Hilfe geeilt. „Ich kann das, vertrauen Sie mir“, hatte sie gelacht und ihn erfolgreich verarztet. Sie roch gut, auch ihr Lachen gefiel ihm. „Besuchen Sie mich doch einmal in Solingen“, hatte er gesagt und ihr seine Visitenkarte gegeben.
Herbstlaub fliegt durch den zugigen Bahnsteig, ein Blatt heftet sich auf Feddersens blank geputzten Schuh. Feddersen findet ein Taschentuch in der Manteltasche und bückt sich tief hinunter zu dem Ärgernis, das er schnell entfernt. Schon kommt der Zug laut dröhnend angebraust. Eine zierliche Gestalt schwebt ihm entgegen. Lilli! Er erkennt sie sofort wieder.
„Hallo, da bin ich!“, ruft sie schon von Weitem.
Feddersen drückt die zarte Hand und verneigt sich tief. „Sehr erfreut!“
Eine Duftwolke strömt aus Lillis blonden Haaren und verwirrt ihn für Sekunden.
„Ich freue mich sehr, Herr Feddersen“, sagt Lilli, schwenkt ihr Handtäschchen und stöckelt neben Feddersen her, der sie um Längen überragt.
„Hoffentlich gefällt Ihnen das Hotel, das ich für Sie gefunden habe?“, versucht Feddersen seine eigenen Bedenken zu beruhigen. Nur wenige Straßen weiter erreichen sie ein bescheidenes Haus. Über dem Eingang leuchtet eine Reklame.
„Hier ist es“, sagt Feddersen und hält Lilli die Türe auf.
Der Wirt kommt aus der verqualmten Gaststube. Bevor er nach dem Schlüssel greift, reibt er sich die massigen Hände mit einem Stück Stoff trocken. Die Treppe zum oberen Stock ist steil, das kleine Zimmer einfach. Feddersen tritt ans Fenster und schaut auf die Gleise des Rangierbahnhofs hinüber. Nicht gerade schön, denkt er besorgt.
„Einfach, dafür auch nicht teuer!“, bemerkt Lilli verbindlich mit einem Blick auf den Aushang an der Tür. Feddersen nickt erfreut. Sparsamkeit war eine Tugend, die er schätzte.
„Ich kenne ein hübsches Restaurant, Lilli, Sie werden sicher hungrig sein“, verkündet Feddersen gut gelaunt.
„Ja, Herr Feddersen, gute Idee“, meint Lilli lachend.
Draußen auf der Straße tänzelt Lilli munter plaudernd neben ihm her, und Feddersen lässt es zu, dass sie seinen Arm nimmt und sich unterhakt. Beim Italiener finden sie Plätze in der Ecke. Das Licht ist gedämpft und auf dem Tisch brennt eine Kerze. Feddersen bestellt Wein und eine Flasche Wasser. Als der Kellner den Wein einschenkt, wehrt Feddersen ab.
„Für mich nur Wasser, bitte.“
Lilli schüttelt den Kopf. „Herr Feddersen, wollen Sie nicht mit mir anstoßen?“
„Ich trinke nicht“; sagt Feddersen. Kerzengerade sitzt er auf dem Stuhl, ein hilfloses Lächeln in seinem gutmütigen Gesicht.
„Ich trinke sonst auch nicht, aber wir folgen doch keinen festen Regeln, oder?“
Der Kellner gießt Wein in Feddersens Glas und Lilli hebt ihres, um mit Feddersen anzustoßen.
„Auf uns“, sagt sie.
Feddersen lächelt widerstrebend, er befeuchtet kaum die Lippen.
Während Lilli ein Stück Brot zerkrümelt, bemüht sich Feddersen um die Unterhaltung. Tatsächlich gelingt es ihm, Lilli ein- oder auch zweimal zum Lachen zu bringen. Immer öfter greift Feddersen jetzt zum Glas. Der Wein ist süffig, stellt er fest. <Demnächst werde ich eine Flasche kaufen>, beschließt er insgeheim.
Der Kellner stellt die Lasagne auf den Tisch und füllt ungefragt die Gläser nach.
Feddersen grinst. „Ich heiße übrigens Hans Günther. Wollen wir nicht du sagen?“
Lilli lächelt charmant. „Gerne, Hans Günther!“ und nimmt einen großen Schluck.
Feddersens Wangen haben sich gerötet. Während sie mit dem Besteck hantieren, erzählt er von seinen Reisen nach Griechenland und Rom, von einem Urlaub am Lago Magiore und einem aufregenden Erlebnis in den Bergen. Feddersen redet und redet, immer bemüht seinen Scharfsinn und Humor hervorzukehren und nichts anzusprechen, was mit ihnen beiden zu tun haben könnte. Schließlich ist er müde und schaut auf die Uhr.
„Lilli, weißt du eigentlich wie spät es ist?“, fragt er verwundert.
„Keine Ahnung“, sagt Lilli und betrachtet ihr leeres Glas.
„Halb elf!“ Feddersen schüttelt entsetzt den Kopf. "Wir haben total die Zeit vergessen. Lass uns schnell bezahlen.“
Lilli versteht nicht. „Hast du eine Verabredung heute Nacht?“
„Wie, Verabredung? Natürlich nicht. Aber um elf pflege ich im Bett zu liegen.“
„Und was passiert, wenn du um elf nicht im Bett liegst?“
„Machst du Witze? Oder gehörst du zu den Frauen, die die Nacht zum Tag und den Tag zur Nacht machen? Du hast mir übrigens noch gar nicht erzählt welchen Beruf du ausübst.“
„Hast du mich danach gefragt?“
„Was willst du damit andeuten?“
„Nichts, Hans Günther, gar nichts.“
Draußen auf der Straße laufen sie still nebeneinander her.
Lilli kichert: „Ich habe zu viel getrunken."
Über der Eingangstür des Hotels flackert die Neonreklame und auf dem Rangierbahnhof quieken Ferkel in einem abgestellten Waggon.
„Schweine“, sagt Feddersen.
„Schaurig“, antwortet Lilli.
„Ziemlich kalt heute Nacht“, bemerkt Feddersen und schüttelt sich.
„Gute Nacht Hans Günther. Danke für den netten Abend!“
„Schlaf gut, Lilli. Morgen früh um zehn hole ich dich ab.“
Feddersen läuft quer durch die Stadt nach Hause. Es hat zu regnen angefangen. Er springt über Pfützen und balanciert den aufgespannten Regenschirm über seinem Haupt. Lilli, wie süß sie ist, denkt er. Eigentlich weiß ich so gut wie nichts über sie, fällt ihm ein.
Ob alle Frauen so seltsam sind? So verschwiegen und geheimnisvoll?