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Herr Dill

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01.02.2019
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Herr Dill

Nachdem Herr Dill meistens gegen vier Uhr wach wurde, um die Toilette aufzusuchen, war ihm höchstens noch eine Stunde im Bett vergönnt, bevor ihn das hin und herwälzen, das finden einer vielleicht doch noch bequemlichen Position, aus dem Bett vertrieb. Es wiederholte sich Morgen für Morgen, selbst an seinen arbeitsfreien Tagen. Selbst wenn er es vermied, allzu spät noch etwas zu trinken, weckte ihn seine Blase immer um die gleiche Zeit.
In seinem Alter ärgerte ihn dies aber nicht mehr, überhaupt ließ er sich Ärger durch seine durchwegs ausdruckslose Mimik nur selten anmerken. Man müsse sich mit vielen Unannehmlichkeiten des Lebens eben arrangieren, sagte er immer.
Schweren Schrittes ging er die Treppen hinunter, um sich in die Küche zu begeben. Sie war gesäumt von Familien Fotos mit ihren Kindern, die so perfekt arrangiert waren, das sie beinahe unglaubhaft wirkten. So selten wie diese zu Besuch waren hätte man ihr Gesicht auch vermutlich vergessen, wären ihre Bilder hier nicht angebracht. Es war schon ein sehr in die Jahre gekommenes Haus, weshalb jede Stufe bei Herr Dill´s schleppenden Schritten erheblich knarrte und krächzte. Natürlich hätte man dies mit einem Anruf erledigen können, aber Herr und Frau Dill konnten das schrille Quietschen der Treppen recht gut ausblenden.Obwohl Fr. Dill jedes Mal durch das Geräusch der Treppen geweckt wurde, und eine Grimasse zog, konnte sie dennoch einige wenige stunden weiter im Bett verweilen, bevor sie auf musste, um ihrer Arbeit in der Zulassungsbehörde nachzugehen.
Er ging zielstrebig zur Kaffeemaschine und setzte einen frischen auf. Mit halb geöffneten Augen schob er, mit fast schon mechanischer Präzision, den Toast in den Toaster und stellte Butter und Marmelade auf den mit braunen Fliesen bedeckten Küchentresen. Seine Handlungen gingen ihm so leicht von der Hand, das seine Gedanken nicht nachkamen vor Schlaftrunkenheit.
Eins, zwei, drei, vier, fünf. Er warf die Tabletten, die alle möglichen Formen, Farben und Nummern aufwiesen, auf einmal in den Mund und trank sie mit einem Glas Wasser und Klobigen schlücken, hastig runter, und setzte einen erleichternden Seufzer nach. Er hasste seine Medizin, aber den Anweisungen der Ärzte sollte man vertrauen, denn immerhin lebte er noch, was für ihn ein Zeichen war, das es ihm zumindest nicht schlecht tut. Es war zwanzig nach sechs und er wusste, das seine Zeitung schon draußen bereit liegen würde.
Er sperrte seine Graue mit drei Schlössern versehene Tür auf, griff, ohne der Außenwelt auch nur wirklich eines Blickes zu würdigen, blind nach der Zeitung, aber er griff ins Leere. Er tastete die Stelle weiters ab an der seine Zeitung normalerweise zu liegen hatte. Herr Dill war irritiert und sah noch mal nach um sich zu vergewissern, das er sich nicht täuschte. Tatsächlich! Nach all den Jahren zuverlässigster Lieferungen, fehlte heute seine Zeitung. Verwirrte Blicke seiner noch vom Schlaf verkrusteten Augen streiften die dumpfen Fassaden der Nachbarhäuser. Während er überlegte, ob er vielleicht eine Zeitung seiner Nachbarn stehlen sollte. Doch diese Idee verwarf er sofort wieder. Seiner Meinung nach gab es für Diebstahl keine Rechtfertigung, nicht einmal Armut. Denn wer fit genug zum Stehlen ist, kann auch Arbeiten. Überhaupt sollte man jeden Verbrecher einige Jahre ins Gefängnis werfen, am besten noch in ein Arbeitslager, dann würde diejenige Person es schon begreifen. Schließlich ging er ja auch fünf Tage die Woche seiner Arbeit nach, um seinen Beitrag zu leisten. Ihm wurde auch nie etwas geschenkt.
Grübelnd wanderte Dill in die Küche, um sich Kaffee in seine schwarze Tasse einzuschenken.
Seine spröden Lippen nippten am dampfendem Kaffee, obwohl dieser noch brennend heiß war, zuckte Herr Dill nicht mal mit der Zunge. Denn seine Gedanken kreisten immer noch um den Umstand das sein wichtigstes Morgenritual gestört wurde. Der Blick in die Zeitung.
Neben seiner Arbeit und seiner Frau, deutete er nichts anderem mehr Bedeutung bei, als den Nachrichten. Hier wurde man informiert welche neuen Gesetze man anstrebe, welche Skandale es zu verachten gelte und worauf man als, Herr Dill´s Meinung nach, guter Bürger zu achten habe. Ohne eine strikte vorgelebte Struktur, bräche jede Gesellschaft irgendwann in sich zusammen, war er sich sicher.
Er setzte sich auf den braunen, abgenutzten Küchenhocker und zündete sich eine Zigarette an und nahm ein paar tiefe Lungenzüge. Plötzlich wurde Herr Dill wie bei einer Gänsehaut, von einem schauderndem Gefühl überfallen. Aber es war nicht der Ärger der ihn überkam, wie er es zunächst vermutet hatte . Es war wie ein Gefühl unkontrollierbaren Fallens in ein Loch ohne Boden. Eine gewisse Haltlosigkeit. Nicht das er wirklich in Gefahr gewesen wäre doch, der Gedanke des Ungewissen verzehrte seine Aufmerksamkeit während er in sein einfarbig möbliertes Wohnzimmer starrte. So saß er einige Minuten da, mit den Ellenbogen auf den Küchentisch gestützt und vor sich hin vegetierend.
Da ihm auch jetzt noch nicht einfiel was er mit sich anfangen könne, entschied er aus Ratlosigkeit, sich auf seine Terrasse zu setzen um zu beobachten wie die weiße Sonne den Himmel vom Schwarz befreite.
Noch nie hatte er dies bewusst getan, für ihn spielte es auch mehr oder weniger keine Rolle da es sowieso jeden Morgen und Abend passiere. Es nahm weder Einfluss auf Politik, seinen Tagesablauf oder seinen Lohn, weshalb er solchen Abläufen wenig, bis keine Beachtung schenkte.
Die Betonfarbene Liege wurde zurecht gerückt, so das sie Richtung Sonnenaufgang blickte.
Mit seiner dampfenden Tasse und seinem Bademantel, lag er da und beobachtete mit gedämpfter Stimmung dieses Schauspiel.
Während sein Kopf anfangs noch mit Gedanken gefüllt war wie,
"Na was für eine Zeitverschwendung",
"Die Leute würden mich doch für einen Idioten halten, wenn ich so geistlos auf den Horizont starre" und, "Bald kann ich ja in die Arbeit fahren um zumindest etwas sinnvollem nachgehen".
Dieser Gedanken wurde er nach einiger Zeit müde und starrte jetzt nur noch bedingungslos, aber auch ohne dem ganzen allzu große Bedeutung beizumessen, auf den Horizont.
Die ersten weißen Strahlen der Sonne ragten über die Grauen Berge und streiften seine Augen, und auch langsam hörte man immer mehr Amseln zwitschern und von einem Busch zum nächsten zu fliegen.
"Mhh.." murrte er, "Warum sind diese Viecher denn so aufgebracht" !
Das treiben der Amseln weckte auch weitere Artgenossen auf, welche sich dem Gezwitscher anschlossen. Für Herr Dill verwuchs sich die Geräuschkulisse immer mehr zu einem undurchsichtigem Rauschen, schrillster Frequenzen welches für seine Ohren fast einem Tinnitus gleichkam, und ihn immer mehr reizte.
Als die Sonnenstrahlen auch noch immer mehr Falten seines knitterigen Gesichts ausfüllten, fühlte sich Dill noch mehr belästigt. Aber durch seine jahrelange Gewohnheit, jedwedem lästigem mit Gleichgültigkeit zu begegnen, konnte er nach einiger Zeit auch dies perfekt ausblenden.
Trotzdem machte sich ein Unverständniss in ihm breit. Warum denn alle Vögel so durcheinander schrien, und weshalb genau Morgens die Sonnenstrahlen einem in der Nase kitzeln mussten.
Abrupt verzog sich sein Gesicht zu einer grimmigen Grimasse, um einem Nieser zu entgehen.
Bis vor kurzem war es noch recht eisig gewesen, auch jetzt konnte man beim Ausatmen noch qualmende Rauchfahnen beobachten, die in immer gleichmäßigeren abständen aus Hr. Dill´s Nasenlöchern dampften. Dill´s weißer Bademantel den er noch vor kurzem straff zugebunden hatte, und seine karierten Socken bis fast zu den Knien hinauf gezogen hatte, überkam langsam ein behagliches Gefühl der Wärme. Was ihn dazu veranlasste seinen Bademantel etwas zu lüften.
Immer mehr verlor er seine Gedanken in dem wärmendem Gefühl das ihm die Sonne quasi in den Körper strahlte. Etliche Minuten verstrichen ohne das sich Herr Dill zu rühren wagte, aus Angst dieses wohlige Behaglichkeit zu verlieren.Erst nach einer Zeit fiel ihm auf dass die Vögel immer lauter wurden, und immer mehr dazu kamen.Kurz davor sich wieder in negativen Gedanken zu verlieren, war er sich unsicher. Denn er glaubte ein sich ergänzendes Muster in den Lauten, die er vorher noch als Geschrei betitelt hatte, zu vernehmen. Plötzlich kam es ihm nicht mehr vor wie ein wildes Gewirr aus Hochfrequenten Tönen, die versuchen mit schrillen Tönen den jeweils anderen zu übertrumpfen. Sondern fast wie ein Orchester. Wo jeder Ton, die anderen mit seiner ganz eigenen Frequenz ergänzte, und man aus Detailreichtum nicht vermochte auch nur einer Vogelstimme zu folgen, geschweige denn zu sagen aus wie vielen Stimmen es bestand.
Er verlor sich ganz in diesem Stimmenmeer, so sehr, das er gar nicht merkte wie eine pulsierende Wallung seinen Brustkorb einnahm, welches ihn weiter in Erregung versetzte, während die Sonnenstrahlen immer weiter über den Rasen krochen.
Obwohl Herr Dill nie ein besonderer Natur Fanatiker war, und auch sonst nicht oft unterwegs war, außer geschäftlich, wuchs sein gefallen an dem Zusammenspiel aus strahlender Wärme, Vogelgesang und dem Duft von nassem Gras. Die Sonne wurde immer heller, doch zu seiner Verwunderung blendete sie ihn kein Stück. Seine Augen konnten sie mühelos Fokussieren ohne zusammenkneifen zu müssen.
Hr. Dill war noch nie der Typ Mensch gewesen der seinen Gefühlen nachgegeben hat, geschweige denn ihnen große Bedeutung beigemessen hat. Zu viel Gefühl verderbe einem das Logische Denken, sagte er immer. So wirkte er auf die meisten Menschen mit denen er es zu tun hatte, kalt und berechnend.
Aber an diesem Morgen kamen in ihm Gefühlswallungen hoch, welche er nicht beiseite schieben konnte,
und die er so, wenn überhaupt, nur aus seinen Kindheitstagen kannte. Das langsame bewusst werden dieser Tatsache, hatte für ihn, neben dem berauschendem Gefühl das er durch diesen Sonnenaufgang empfand, auch einen etwas bitteren Beigeschmack, welcher sich durch seine glasigen Augen bemerkbar machte, und seine hellbraunen Augen glänzen ließ. Das immer penetranter werdende Pulsieren löste in ihm weiters unbekannte Emotionen aus und kroch langsam in im hinunter, in seine Bauchgegend.
Es fühlte sich an wie ein kribbeln, wie die vielen Beine zahlloser Ameisen, die wild durch seinen Körper tanzten. Nicht nur auf seiner Haut, sondern direkt in den Eingeweiden, welches das Pulsieren in der Brust auf widersprüchliche Art und Weise ergänzte. Herr Dill kam sich langsam ein wenig lächerlich vor, wie eine Soda Flasche, denn es prickelte mittlerweile überall, im ganzen Körper, was seiner Haut ein Gefühl der Spannung verlieh.
Mit diesem Prickeln ging auch ein stetig steigendes Gefühl der Leichtigkeit einher welches dem stämmigem Mann ebenfalls fremdartig erschien. Überwältigt von all diesen Sinneseindrücken die ihn überkamen, glaubte er langsam den Verstand zu verlieren.Denn seine Mundwickel zog es wie mit einer unsichtbaren Kraft immer weiter nach oben und entblößte seine von Kaffee und Zigaretten etwas vergilbten Zähne, zu einem Lächeln, welches von einer nach der anderen Träne überrollt wurde, die über sein Kinn auf den Bademantel tropften.
"Was ist bloß in mich gefahren"?
"Ich habe immer mehr das Gefühl das meine Umgebung nur eine Verlängerung meines Körpers zu sein scheint. Ich weiß nicht mehr ob ich den Vögeln zuhöre oder ich mir selber zuhöre. Ich kann nicht sagen ob ich vor mich hin rede oder ob ich denke. Es fühlt sich an als ob keine Haut, kein Fleisch mich von meiner Umgebung trennt, als ob ich für meinen Rasen atmen würde".
Herr Dill verlor sich immer weiter in solcherlei Gedanken bis er auf einmal verdutzt merkte das er sich von seinem rechten Arm lösen konnte. Nicht physisch, denn er war ja mit ihm verwachsen. Sondern so als ob er ein leicht durchsichtigen milchigen Nebel seiner selbst aus ihm herauslösen konnte.
Der kurze Anflug von Angst und Panik wurde von der Verstand vernebelnden Wärme der Sonne übertrumpft, bis er merkte das er auch den zweiten Arm von sich lösen konnte. Einige Momente verweilte er in dieser bizarren Position, sich uneins darüber ob er denn fortsetzen sollte, ob er denn eine Alternative hatte, und ob dieses Alternative die bessere war im Gegensatz zu diesem wohligem, alles durchdringendem Gefühl. So hob er auch sein rechtes Bein aus seinem Körper. Nach und nach fühlten sich seine noch nicht verlassenen Körperteile wie eine Zwangsjacke an, die ihm den Atem raubten.
Obwohl ihm gerade aufgefallen war das er schon minutenlang keinen Atemzug mehr getan hatte, aber trotzdem nicht nach Luft schnappen musste.
Herr Dill schlüpfte mit einem Mal aus seinem Körper heraus und schwebte nun zwei Meter über seinem alten Kopf. Er schwebte einige Minuten noch über seinem Körper, hin und hergerissen zwischen dem Idyllischem Vogelgezwitscher unter den mittlerweile in bunten Farben getauchten Sonnenstrahlen, und seinem Leben, welches er im begriff war zu verlassen. Seinem blassen Körper den er einst bewohnte. Sein Reihenhaus mit Garten für das er und seine Frau jahrelang viel entbehrt hatten. Dann dachte er auch an seine Gattin, die er zurück ließe. Doch immer mehr wurde ihm klar das ihn die wenigen Momente die er in seinem jetzigem Zustand verbracht hatte, mehr Glück und Freude bescherten als seine Firma, in der er 30 Jahre zuverlässig aber eintönig Tätig war , seine Frau, mit der er 40 Jahre verheiratet war aber doch keine wirkliche Emotionale Beziehung führte, und seinen Kindern, die ihn und seine Frau bestenfalls zu den Feiertagen besuchten. Bilder einschlägiger Momente seines Lebens rauschten durch seinen Kopf als sich plötzlich ein Geräusch hervortat. Es schien seinen Ursprung hinter der Sonne zu haben und klang fast wie ein leises Geflüster, aber es kam nicht wie Schallwellen von einem zum anderen Ort, sondern mehr von einem Innerem zum anderem.
"Können wir gehen"?, fragte ihn die Stimme.
Hr. Dill blickte nur kurz auf sich zurück, und schwebte dann immer weiter Richtung dessen, was er für die Sonne hielt, bis ihn das gleißende Licht letztlich zu verschlucken schien, und seinen leblosen Körper mit einem Kaffee beflecktem Bademantel, einem zur Seite geneigtem Kopf und herunter gelassenem Kiefer, auf der Terrasse, zurückließ.

 

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