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Herr Brunner geht spazieren
Es war einer dieser typischen Diensttage, wegen denen er die Diensttage hasste. Die Woche hatte eigentlich gerade erst begonnen und schon schien es nicht mehr möglich zu sein, das Arbeitspensum bis zum Freitagabend zu schaffen. Man musste anfangen, Prioritäten zu setzen. Wenn er es zum Beispiel irgendwie hinbekommen würde, den Lunch mit den Beratern von Behrendt & Partner am Donnerstag zu umgehen, könnte er da schon über Mittag die Präsentation für Montag vorbereiten und würde es dann vielleicht am Freitag sogar halbwegs pünktlich zum Grillen bei Meiers schaffen. Obwohl, da wollte er eigentlich sowieso nicht hin. Er kannte den Verlauf des Abends ja eh schon: Hubert würde ununterbrochen mit seiner neuesten Neuerwerbung prahlen, einem Auto wahrscheinlich, und Regula und Gitte würden sich in die Küche zurückziehen, nur um nach ein paar Gläsern Prosecco kichernd wieder herauszukommen und zu verkünden, dass sie sich schon ewig nicht mehr so amüsiert hätten. Am Schluss würden Hubert und er alleine mit einem sündhaft teuren, aber trotzdem schlechten Cognac auf der ungemütlichen Terrasse sitzen und über die kommenden Entwicklungen an der Börse spekulieren – das einzige Thema, für das sie sich beide erwärmen konnten. Dann doch lieber höflicher Small Talk mit Dr. Behrend am Donnerstag und Arbeiten bis Freitagnacht – am besten sorgte er dafür, dass er erst heimkam, wenn Regula schon schlief, denn wenn sie angetrunken war, überkam sie oft eine irrationale Lust, mit ihm zu schlafen – und das konnte er nach so einer Woche wirklich nicht gebrauchen.
Auch wenn er gerne auf das fettige Grillfleisch und Regulas peinliche Wollust am Freitagabend verzichtete, jetzt war erst Dienstag, einer dieser typischen Dienstage, und er musste etwas essen. Müde sah er auf die runde Uhr an der grauen Wand und entschied, dass es zwar noch etwas früh für eine verdiente Pause war, aber dass er trotzdem mal hier raus musste. Umständlich klaubte er sein Jacket von seinem ledernen Bürosessel, schlüpfte noch umständlicher hinein und machte sich auf den Weg zum Ristorante Conti am Ufer des Zürichsees – wie jeden Dienstag.
Doch an diesem Dienstag war etwas anders. Herr Brunner merkte es erst spät, weil er an die Präsentation und an Freitagabend dachte, aber noch während dieser Überlegungen sah er ihn. Er hockte auf dem Asphalt. Genauer gesagt auf dem asphaltierten Platz vor dem Züricher Opernhaus, also genau gegenüber vom Conti. Da hatte doch noch nie einer gehockt. Und schon gar nicht Urs Zimmermann. Bevor er sich abwenden und wie gewohnt auf die holzvertäfelte Eingangstür des Conti zusteuern konnte, hatte Urs Zimmermann ihn schon entdeckt. Er sprang aus der Hocke direkt in den Stand, warf dabei beinahe eines seiner gerahmten Bilder um, die er auf der wildgemusterten Decke mitten vorm Opernhaus mit Hilfe von Ziegelsteinen aufgebahrt hatte und rief: “Der Brunner! Das gibt´s doch nicht! Wie lange ist das her?“ Herr Brunner wusste es genau, er hatte Urs Zimmermann zuletzt auf dem Klassentreffen vor drei Jahren gesehen, da hatte er auch schon etwas ungepflegt gewirkt und Herrn Brunner hatte darauf verzichtet, mit ihm zu sprechen. Dass aus dem nichts geworden war, das sah er auch so, das konnte ja jeder sehen, mit bloßem Auge. „Ewig!“ sagte er stattdessen, „Was für eine Überraschung, schön dich zu sehen!“ rief er weiter und zwang sich zu einem Lächeln, das wie echte Wiedersehensfreude aussehen sollte. Es gelang nicht. „Ach komm, Brunner, tu nicht so, du hast schon beim Klassentreffen nicht mit mir reden wollen. Aber egal, hey guck mal, ich male jetzt!“ Er machte eine ausladende Geste in Richtung Wildblumendecke. „Impressionismus, inspiriert von Monet, aber doch ganz mein eigener Stil. Es läuft ziemlich gut an, gestern stand ich am Bahnhof und habe einen Sonnenuntergang an einen Japaner verkauft.“ Er strahlte über das ganze Gesicht und schaute Herrn Brunner erwartungsvoll an. Doch der hatte vor allem eine Frage: „Am Bahnhof? Und jetzt vorm Opernhaus? Hast du denn die notwendige amtliche Erlaubnis zur Ausübung einer gewerblichen Tätigkeit im öffentlichen Raum?“ fragte er spitz und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Haha, Brunner, ganz der Alte – so warst du schon in der Schule, immer auf Recht und Ordnung aus und nie vom Weg abweichen!“ war die amüsierte Antwort von Urs Zimmermann. Eine amtliche Erlaubnis hatte er natürlich nicht. Aber bislang immer Glück gehabt. Herr Brunner zupfte unterdessen nervös an seinen Manschettenknöpfen – die Richtung, die das Gespräch nahm, gefiel ihm nicht. „Und was machst du, die gleiche Beamtenlaufbahn wie Herr Papa eingeschlagen? Oder stößt du dir in der freien Wirtschaft die Hörner ab?“ lachte Urs Zimmermann. „Es sind die Hörner. Also, äh, die Wirtschaft. Ich bin als Unternehmensberater tätig. In einer großen Gesellschaft. Also Beratungsgesellschaft. Ich müsste dann auch mal wieder …“ Herr Brunner räusperte sich, nahm seinen Schirm – denn es konnte gut sein, dass es noch regnen würde, es regnete meistens dienstags – und wandte sich zum Gehen.
„Aber Brunner, du hast ja meine Bilder noch gar nicht angesehen! Guck mal das hier“, sagte Urs Zimmermann und reichte ihm ein Bild mit einer üppigen grünen Landschaft und grasenden Pferden. „Das ist mein Neustes. Es macht mir wahnsinnig Spaß, das mit dem Malen. Endlich tue ich etwas, das mich wirklich ausfüllt. Ich hab mich ja auch lange selbst betrogen nach der Matura, weil ich dachte ich müsse was draus machen und studieren. Dann habe ich zig Jobs gemacht, aber alle waren stupide und darauf ausgelegt, dass irgendjemand, der mir vollkommen egal war, seinen Gewinn maximieren konnte.“ Urs Zimmermann legte das Bild zurück und machte sich nun an der Wildblumendecke zu schaffen, strich sie glatt und fixierte sie mit seinen komischen Ziegelsteinen. „Aber vor ein paar Jahren, da hab ich mir gesagt, damit ist jetzt Schluss, ich mache jetzt nur noch das, was mir gut tut. Was meinen eigenen Gewinn maximiert, sozusagen“ sagte er und grinste Herrn Brunner über seine Lesebrille, die ihm schief auf der Nase saß, an.
„Aha“, erwiderte Herr Brunner. „Dein mobiler Kunsthandel wirft also Gewinn ab?“ und konnte sich ein Grinsen ebenfalls nicht verkneifen. „Ich meine nicht den wirtschaftlichen Gewinn, du Kapitalist. Ich meine den Gewinn an Zufriedenheit, an Selbstbestimmung, an Freiheit, falls du davon schon mal was gehört hast.“ Herr Brunner umklammerte den Mahagoni-Griff seines Regenschirms noch fester, es würde gewiss gleich regnen. „Und jetzt entschuldige mich bitte, da hinten kommt eine Kundin, das seh ich auf hundert Meter Entfernung, dass die sich für Kunst interessiert.“ Er dachte plötzlich an Regula, die mochte auch Kunst, aber hatte es aufgegeben, ihn in Ausstellungen zu schleppen, in denen er nur in sein Blackberry starrte. „Also, Brunner, mach´s gut und nimm mal den Stock aus dem Arsch. Vielleicht kommst du dann ja auch auf den Trichter, worauf es wirklich ankommt im Leben“. Er zwinkerte ihm zu, Herr Brunner schaffte es gerade noch, die Hand zu einem stummen Gruß zu heben.
Als er die schwere Tür zum Conti öffnete und ihm die typische Mischung aus murmelnden Tischgesprächen über die Geschäfte von morgen und dem süßen Zigarrenduft der dekadenten Abendgesellschaft von gestern entgegenschlug, dachte er: „Ich gehe am Donnerstag nicht zum Lunch. Und am Freitag nicht zum Grillen. Stattdessen gehe ich sparzieren. Einfach so.“