Herr Blume oder 64.5°
“Wo ist denn dieser verflixte...? … Ach, da ist er ja.” Moritz Blume hatte den halben Keks, der ihm unter den Tisch gefallen war, soeben ertastet und hob ihn nun mit einem erleichterten Lächeln wieder auf den Tisch, wo er seinen Platz am Rande des Tellers fand. Wenige Sekunden später befand sich die Hand des Fünfunddreissigeinhalbjährigen wieder unter dem Tisch, diesmal bewaffnet mit einem kleinen Staubsauger, der die Krümelchen routiniert und gierig einsaugte.
Herr Blume trank die letzten Schlucke seines Tees mit Hochgenuss – er hatte ihn auf die Sekunde genau gebrüht und gerade in diesem Moment hatte er die ideale Temperatur, nämlich 64.5 Grad – dann räumte er Tasse, Untertasse und das Löffelchen in die Spülmaschine und hängte pflichtbewusst den Handstaubsauger an den dafür vorgesehenen Haken.
Mit einem zufriedenen Seufzen ging er aus der Küche, um es sich im bequemen Ohrensessel bei seinem Sonntagskrimi bequem zu machen, eine Dreiviertelstunde zu lesen und sich danach schlafenzulegen.
Herr Blume sass schon im Anzug am Frühstückstisch, trank seinen Kaffee und blickte auf die Armbanduhr.
„Der Postbote ist mal wieder zu spät“, dachte er und stellte sich mit der Tasse in der Hand vor den Spiegel neben der Tür. Ihm entgegen blickte ein ratloses, bärtiges Gesicht, unentschlossen, welche der drei nahezu identischen Krawatten, die zur Auswahl um seine Schultern hingen, er denn heute wählen sollte. Er schloss die Augen, nahm irgendeine und begann sie seufzend zu binden.
„Wie kann ein Bart nur so schnell wachsen, ich dachte, ich hätte mich gestern noch rasiert.“
Er ging zum Badezimmer, befreite sich vom ungeliebten Gesichtsbewuchs, würgte sein tägliches Fellknäuel hoch, nahm sich Aktenkoffer und Hut von der Garderobe und eilte zur Tür hinaus.
In der Tierhandlung begrüsste man ihn mit dem gewohnten, belustigten Kopfschütteln.
„Ey, Blume! Machste wieder einen auf Banker?“, lachte sein Arbeitskollege. Herr Blume fand das überhaupt nicht lustig, öffnete seinen Spind und zog schweigend den Arbeitsoverall an. Gleich würde die tägliche Plackerei beginnen. Missmutig öffnete er die Tür mit der Nummer 333 und verschwand in grellem Licht.
Zwei Stunden später klopfte sein Chef an die Scheibe. „Hey! Was machen Sie da drin? So lange kann es doch nicht dauern, ein Flusspferd zu putzen?“
Herr Blume war gerade beim letzten Zehennagel angelangt und legte den übergrossen Nagelklipser weg. Er trat an die Scheibe.
„Was ist los, Herr Grossenauer?“
„Sie sind entlassen! Fristlos.“
„Oh... Und mit welcher Begründung?“
„Sie haben wertvolle Leguanwimpern geklaut. Mehrfach. Ausserdem können unsere Katzen Sie offensichtlich nicht leiden.“
Herr Blume verteidigte sich nicht. Niedergeschlagen zog er sich um und verliess das Gebäude.
Am Abend konnte er nicht einschlafen. Gedankenverloren blickte er zum Fenster hinaus in einen vom Vollmond beleuchteten Hinterhof. Moritz Blume fühlte sich nicht wohl. Er fröstelte trotz der lauen Sommernacht. Gleichzeitig rannen ihm grosse Schweissperlen über die Stirn. Er hatte diesen Job nie gemocht, aber er brauchte ihn. Er verstand sich auch ausserordentlich gut mit allen Tieren. Ausser mit Katzen. Ja, die Viecher waren echt widerlich. Aber sie mochten ihn genauso wenig. Sobald er sich ihren Käfigen nur näherte, stellten sich die Haare auf ihren Rücken auf und sie fauchten ihn an.
Plötzlich schreckte ihn ein Gedanke auf. Er wühlte in seinem Nachttischchen, bis er fand, was er suchte; ein kleines, schwarzes Fläschchen mit purpurrotem Inhalt. Blume trank einen Schluck und wartete einen Moment. Es half nicht.
„Verflucht!“, dachte er, zog hastig seinen Anzug an und rannte zur Tierhandlung. Er musste die Zutaten kriegen!
Auf dem Weg spürte er bereits die Veränderung. Das Blut kochte ihm in den Adern, seine Augenbrauen waren buschiger als sonst und sein Bart hatte schon wieder zu wachsen begonnen. In der Tierhandlung angekommen, öffnete er seinen ehemaligen Spind, der, wie er erleichtert feststellte, noch nicht ausgeräumt worden war und griff mit zitternden Händen nach einem unscheinbaren Kistchen mit der Aufschrift „Notfall.“ Es gelang ihm unter Krämpfen, es zu öffnen, aber verwenden konnte er die Wimpern, Zehennägel und Pinguinfedern nicht mehr. Der Schmerz hatte sich vervielfacht. Das Kistchen fiel ihm aus den Händen. Herr Blumes Knie knickten ein und er wand sich schreiend am Boden.
„Wo bin ich?“
Nackt, verwirrt und bärtig schaute sich Herr Blume um. Es war hell draussen und er befand sich an einem Ort der totalen Verwüstung. Das war wohl die Tierhandlung. Oder zumindest war sie es gewesen. Alles war durcheinander, zerstört, nein, eher zerfetzt worden. Unter dem Meer aus Putzmitteln, kaputten Bürostühlen, Katzenfutter und Fensterteilen fand Blume sein Notfallkistchen und rannte auf die Strasse.
„Wow, dieser Mut! Unglaublich. Sie sind engagiert!“
„Wie bitte?“ Herr Blume blieb verwirrt mitten auf dem Fussgängerstreifen stehen.
„Oh, verzeihen Sie. Ich bin Agent und gerade auf der Suche nach dem perfekten Bartmodel. Sie entsprechen genau dem Geschmack meiner Kunden. Ich gebe Ihnen meine Karte. Mit Ihrem Vollbart können Sie Millionen verdienen. Was meinen Sie?“
V.S September 2012
Schreibseminar "Texte zu Bildern”