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Herr Bööööning
"Die folgenden Ereignisse begaben sich zu einer Zeit, in der Drachen noch in Höhlen lebten, Elfen die Wälder bewachten, Menschen und Tiere dieselbe Sprache sprachen und Könige über ein Reich herrschten das so groß war, wie es heute kein Land der Erde ist."
Großen Augen schauten ihn an und er hatte den Eindruck, als ob er sie bereits in seinem Bann hatte. Im Bann der Märchen. Während seines Studiums hatte er gelernt, dass man die Aufmerksamkeit von Kindern von Anfang an auf sich lenken sollte, um eine Vertrauensbasis zu schaffen. Er wollte ihnen dass Gefühl vermitteln, dass er sie verstehen würde, ihre kindliche Art, ihre Auffassungsgabe, ihre Sichtweise, ihre Vorstellung von der Welt. Sie sollten sich ihm anvertrauen können mit der Gewissheit, dass er nur das Beste für sie will.
"Herr Böööning,wann war denn das mit den Drachen und so?", wollte ein Mädchen aus der Klasse wissen und winkelte dabei den angehoben Arm an. Sich zu melden und dann zu sprechen hatten sie schon gelernt.
"Wann das war?", wiederholte Clemens etwas verwundert die Frage. "Na, zu einer Zeit die ganz ganz lange her ist."
"Welches Jahr war denn das?", fragte ein anderes Kind das sich vorab nicht gemeldet hatte. Auf dem Namensschild stand Torge. Torge. Ein Lehrerkollege hatte Clemens auf Torge hingewiesen, er sei ein wenig anders als die anderen Kinder. Irgendwie aufgeweckter, neugieriger. Er lerne auch ziemlich schnell. Man überlegte bereits, ihn eine Klasse höher zu stufen.
"Das war zu einer Zeit, in der die Menschen noch keine Jahre zählten. Das war damals nicht so wichtig." "Gut gekontert", dachte sich Clemens und wollte sein Märchen weiter erzählen.
"Also, in einer ganz ganz weit entfernten Zeit begab es sich, dass ein Drache die Prinzessin des Landes entführte und bei sich in der Höhle gefangen hielt."
"Herr Böööning." Es war wieder Torge. "Können sie die Sprache, die Menschen und Tiere sprechen?"
"Die ist verloren gegangen, das weiß kein Mensch mehr, wie die geht." Mit der Antwort war Torge weniger zufrieden. Zufrieden sieht anders aus.
"Nun gut, die Prinzessin war also in der Höhle gefangen und..."
"Herr Böööning". Die Stimme kannte Clemens noch nicht. Auf dem Namensschild stand Mathilda. "Jaa, Mathilda?"
"Leben die Elfen denn noch in den Wäldern? Ich möchte gerne mal eine Elfe sehen."
Äh,ja,also mit den Elfen ist das so: die möchten gar nicht, dass man sie sieht. Also halten sie sich versteckt, wenn Menschen sich ihnen nähern."
"Und woher weiß man dann, dass es sie gibt?" Da war sie schon wieder. Torges Stimme.
"Also, Torge. Erstmal hebst du bitte deine Hand wenn du was zu sagen hast, so wie alle anderen Kinder auch."
Torge schaute seinen Lehrer versteinert an.
" Und was haltet ihr davon, wenn ihr mir eure Fragen stellt, nachdem ich euch die Geschichte zu ende erzählt habe. Ihr möchtet doch das Märchen hören, oder?"
Eine klassische "Ja" oder "Nein" Frage, die die Kinder sicherlich mit Ja beantworten würden. Nein zu sagen fällt nämlich schwerer. Und Torges Frage hatten die Kleinen auch schon wieder vergessen. Nur Torge nicht.
"Herr Böööning?" meldete sich wieder ein Kind zu Wort. "Jaaaa, Mustafa?"
"Warum hat den Drachen die Prinzessin entföhrt?" Mustafa war neu in der Klasse und lebte erst seit kurzem in Deutschland.
"Das heißt "der Drache" und "entführt", Mustafa. Warum er das getan hat? Weil Drachen sonst nichts zu tun haben. Darum."
"Mein Papa sagt immer, ich bin seine kleine Prinzessin. Wird mich jetzt auch ein Drache entführen?" Traurige und leicht verängstigte Augen schauten Clemens an. " Aber nein, Lea, natürlich nicht. Es gibt überhaupt keine Drachen. Die haben nämlich gelebt, als es Dinosaurier gab. Und die gibt es ja auch nicht mehr.
"Herr Böööning?" "Jaaaaa, Dennis?"
"Mein Papa hat gesagt, dass als es noch Dinosaurier auf der Erde gab, keine Menschen lebten. Dann kann der Drache doch keine Prinzessin entführt haben?"
"Doch, kann er. Weil es in der Geschichte darum geht. Und außerdem heiße ich nicht "Böööning", sondern Bönning."
Clemens versuchte, ruhig und bestimmend zu klingen. Doch die Kleinen machten es ihm nicht einfach. Dabei wollte er ihnen doch nur ein Märchen erzählen und sie in eine andere Welt entführen. Er erinnerte sich daran, wie er sich als Kind darüber gefreut hatte, wenn er ein Märchen erzählt bekam. Damals wollte man als Kind gar nichts über die Umstände oder die Fakten eines Märchens wissen. Wann das ganze passiert ist, welche Sprachen gesprochen wurden, warum wer was getan hat. Das wollte man damals als Kind nicht wissen. Es wurde einem erzählt und man hat es einfach geglaubt.
Er schaute auf die Uhr. Der Unterricht ging nicht mehr lange und das Märchen kam über die Entführung der Prinzessin nicht hinaus. " Jetzt stellt mir bitte keine weiteren Fragen mehr, solange wie ich das Märchen erzähle. Danach könnt ihr mir Löcher in den Bauch Fragen." Und so erzählte Clemens von dem Märchen, in der der Drache die Prinzessin entführte, der König die Hand seiner Tochter dem Prinzen versprach, der sie befreite und alles ein gutes Ende nahm. Clemens schaute in die Runde. Er konnte die Stimmung nicht fassen. Fanden sie die Geschichte jetzt gut, oder schlecht?
"Herr Böööning?" "Ja, Anja?"
"Und wenn die Prinzessin den Prinzen nicht mag, muss sie ihn dann trotzdem heiraten?"
"Ja. Ihr Vater hat so gesagt," kam die Antwort von Mustafa wie aus der Pistole geschossen.
"Nein, natürlich nicht. Wenn sie ihn nicht mag, dann heiratet sie ihn natürlich nicht."
"Ist das alles echt passiert?", kam die Frage von einem anderen Kind.
"Äh, also, na ja. Das weiß keiner so genau. Das ist ja das tolle an Märchen. Du kannst es dir aussuchen."
Und wieder. Zufrieden sieht anders aus.
"Herr Bönning?". Da, ein Kind das seinen Namen richtig ausgesprochen hatte. Nur in dem Ton lag etwas unheilvolles. "Woher weiß man denn jetzt, dass es Elfen gab, wenn die sich doch immer versteckt haben?" Die ganze Klasse schaute ihn an.
Es klingelte. "So, ihr Lieben. Ihr könnt jetzt in die Pause gehen. Wenn es klingelt, seid ihr bitte wieder pünktlich hier. Dann steht Mathe auf dem Plan."
"Nie wieder eine Märchenstunde und Torge sollte ganz bestimmt versetzt werden", sagte sich Clemens, während er am Waschbecken stand und sich hecktisch die Hände wusch. Er blickte in den Spiegel und was er sah, gefiel ihm nicht. Zufrieden sieht anders aus.