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- 01.11.2004
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Heroes
Zwischen sechzig und achtzig. Zahnlos. Und freute sich über ihr Pistazieneis.
Wir waren an einem Strand, neben dem es eine Höhle gab, die ein rundes Loch in der Decke hatte.
Deswegen war die Höhle eine Attraktion.
Man konnte entweder schwimmen um zu der Höhle zu gelangen, oder per Ausflugsboot. Wir schwammen. Die meisten anderen nahmen die Boote.
Es waren viele Boote und sehr viele Meiste.
Mit denen standen wir schließlich in der Höhle, staunten kurz und wollten wieder weg. Aber es kamen immer mehr Boote und noch mehr Menschen. Wir sollten warten, bis zwischen den Fahrrinnen und der Felswand wieder genug Platz wäre, um sicher raus schwimmen zu können.
“Wie die Evakuierung nach der Apokalypse, und das hier ist der einzige Zufluchtsort”, meinte die eine der beiden Chayas, die Tänzerin, mit denen ich unterwegs war.
“Ne eher mittelmäßige Apokalypse”, sagte ich.
“Wieso mittelmäßig?”, fragte die andere Chaya, die Schwimmerin.
“Sind viel zu viele übrig”, antwortete ich.
“Das ist arrogant”, sagten beide unisono. Das konnten sie gut. Unisono. Und ich mochte sie auch dafür.
Kennen gelernt hatten wir uns vor zwei Jahren bei der Hamburger Tafel.
Die beiden waren gerade frisch aus dem Gefängnis gekommen.
Die Schwimmerin saß wegen Alkohol am Steuer, Fahren ohne Führerschein, Meineids und dilettantischem Drogenschmuggel.
Die Tänzerin hätte eigentlich nur ein halbes Jahr wegen Steuerhinterziehung absitzen müssen, aber da sie die beste Freundin der Schwimmerin war und die Schwimmerin in der Summe fast drei Jahre aufgebrummt bekam, entführte sie, um Stierkampf ein für alle mal verbieten zu lassen, mit ein paar Gleichgesinnten einen portugiesischen Stierkämpfer, der grade auf Promotour für einen Kinofilm über das Leben von Manolito in Hamburg unterwegs war, und drohte zum Schein, in einem martialischen Youtubeclip, den Torero mit Mistgabeln aufzuspießen.
Auch, um ihre Haftlängen in etwa anzugleichen.
Die Aktion glitt etwas aus dem Ruder und am Ende hatte der Stierkämpfer mehrere gebrochene Rippen, Depressionen und ein geplatztes Trommelfell. Daher bekam die Tänzerin fast ein Jahr mehr als einkalkuliert, und die Schwimmerin stellte noch irgendetwas an, was sie mir nie erzählen wollte, aber es reichte genau, um in der Haftstrafenlänge wieder gleichzuziehen.
Tatsächlich lagen ihre Entlassungstage am Ende um nur eine gute Woche auseinander. Und ihre Freundschaft war nochmal vertieft worden.
“Für keine, für keine andre Frau / ging ich lieber in den Bau”, summte die Tänzerin bei jeder Gelegenheit und die Schwimmerin fing sofort an, dazu zu tanzen und kicherte sich dabei in die Faust.
Ich hatte zu dem Zeitpunkt mal wieder keine Wohnung. Aber Freunde die mich noch auf ihrer Couch aushielten, und, vor allem, bei denen ich mich auf ihrer Couch aushielt.
Weil wir uns auf Anhieb irgendwie mochten, sie noch mehr soffen und kifften als ich, hingen wir fast täglich miteinander rum, spielten Karten, besorgten und gegenseitig irgendwelche Scheißjobs und beschlossen irgendwann, als wir halbwegs genug Geld zusammen hatten, es zu riskieren gemeinsam Urlaub zu machen. An einer Küste, irgendwo im Süden.
Ich war seit Jahren nicht mehr am oder im Meer gewesen -in einer Hafenstadt geboren- und vermisste es sehr.
Das Ryanairpreisroulette entschied sich für Portugal als unser Reiseziel. Das kannte ich schon etwas, das was ich kannte mochte ich und es war das Land der freundlichsten Kellner.
„I'm high / I'm fly / YEAH / YEah/ Yeah...“
Ich guckte der alten Frau bestimmt eine viertel Stunde dabei zu, wie sie nach und nach ihr Eis weg schleckte. Und manchmal verschwamm ihr faltiges Gesicht mit den Linien der Felsschichten hinter sich, wenn sie kurz bewegungslos dasaß, ihrem Genuss Raum in sich gab oder vielleicht Angst hatte, dass es bald wieder vorbei sein würde und ihr eisloses Leben wieder begann. In der abgewetzten Plastiktasche neben ihr waren bestimmt kein Badeanzug, keine Sonnencrème und kein Sommerbuch von Pessoa. Wobei, bei dem Buch war ich mir nicht ganz so sicher.
Sie passte auf eine gute Art überhaupt nicht zu dem Trubel um sich herum, in dem Alles zusammen rauschte, auseinander rauschte, zusammen rauschte und verschwand. Sie war Landschaft. Sie war da.
Die beiden Chayas kamen vom Strand zurück. In eines ihrer Gespräche vertieft, irgendetwas Ernstes gab es immer, und von dem wenigsten davon hatte ich eine Ahnung.
Die Tänzerin war die offenere der beiden. Zumindest mir gegenüber. Fütterte mein Ego ständig mit für mich annehmbaren Komplimenten, nannte mich ein oberflächliches Arschloch und mochte zwei, drei meiner Gedichte. Es war die reine Herzlichkeit.
Was die Schwimmerin von mir hielt, konnte ich ums verrecken nicht sagen. Subtilität gehörte nicht zu meinen Stärken. Meine Provokationen prallten einfach an ihr ab, und ich hatte keine Lust, die Dosis ständig zu verschärfen. Aus purem Selbstschutz vermied ich es, mich völlig in sie zu verlieben und war mir sehr dankbar dafür. Sie mir vielleicht auch. So ein ernstes Beziehungsding passte nicht in ihre recht schrägen Pläne. Wobei der, aus simplen Kieselsteinen und Quarzen mal ein Juwelierimperium aufzubauen, noch zu den harmloseren gehörte. Allerdings konnte man ihr ein gewisses Talent als Strandarschphotographin nicht absprechen.
Sie hatte ihren Hund geheiratet und das musste als feste Bindung reichen. Auch über dessen kürzliches Ableben hinaus.
Eventuell glaubte sie mir meine Traurigkeit. Und meine Wut. Und sie schien sehr genau zuzuhören, wenn ich mal etwas sagte, was mir ernst oder sogar heilig war, eine Haltung einforderte.
Einmal, als sie mir ausnahmsweise gestattete meinen Kopf in ihren Schoß zu legen, wir waren beide sehr betrunken, noch betrunkener als sonst, nüchtern funktionierte irgendwie nie was bei mir, erklärte ich ihr kurzerhand, was meine Idee für unser, beziehungsweise mein Liebesding mit ihr war. Sieben Jahre würde ich an uns glauben -als Kind mochte ich das Märchen vom Bärenhäuter- in der Zeit könne sie tun und lassen, was sie wolle, aber dann müsse sie sich von ihrem Hund scheiden lassen und ich würde sie heiraten. Wie immer hörte sie genau zu und schwieg. Nein, sagte sie nicht. Anderthalb Jahre waren seitdem schon rum. Ich hasste Hoffnung, aber ich hoffte. Und wir hatten eine Gemeinsamkeit: Wir liebten beide „Heroes“ von David Bowie.
„Bongzimmer / weil ich jeden Scheiß vergesse / weil ich kiffe / muss ich endlich aufhören zu kiffen / doch ich habe es vergessen / weil ich zu viel kiffe...“
Alles blendet. Und die Welle rollt ran. Felsklippen beschmieren ihr Okkerorangebraun mit Nachmittagslicht. Und die Wellen rollen an. Sonnenstrahlenschläge auf''s auseinander spritzende Wasser. Bass. Bassgischt. Möwenweiß zerschneidet Blau. Zersegelt Himmel in sanften Linien. Himmel. Bass. Himmelbassblau. Die Hitze. Mein Sprung ins Kühle. Das Meer. Den Ozean. Kurzdusche gegen jeden Dreck. Durchwirbelung. Wellenerwischung. Durchschuss zum Strand. Alles ist Leben. Kein Fehler Tod.
Wir hatten den Ort gewechselt. An die ruhigeren Buchten. Nördlich von Sagres. Und ein ganzes Haus für uns allein mit Swimmingpool, Tischtennisplatte und windgeschützter Veranda.
Soviel Platz hatte ich seit Jahren nicht mehr für mich gehabt. Alles was ich besaß, war in einer Sechskubikmeterlagerbox verstaut und jeden Monat, wenn ich mit Ach und Krach die Miete dafür überwies, wurde ich mir sicherer, dass ich den ganzen Scheiß am liebsten anzünden würde.
Nichts davon brauchte ich wirklich. Um ein paar Photos hätte es mir leid getan. Und meine Bücher. Aber gerade die verfluchte ich am meisten, wenn ich mal wieder mit irgendwelchen Sichmeinererbarmenden Kiste um Kiste aus oder in einen fahrstuhlosen vierten oder fünften Stock trug. Weil mal wieder eine Beziehung in sich zusammen gekracht war. Eine Neue mich in eine andere Stadt, ein anderes Land lockte. Ich spontan einem Arschlochchef kündigte, was ich noch viel öfter hätte tun sollen. Ich war viel zu treu, ließ mir immer wieder viel zu viel gefallen und glaubte immer noch an den sterntalerhaften Moment im Leben. Glaube gegen die beschissene Willkür die es natürlich immer noch gab und gibt auf dem ganz schmalen Grat zum Vorganznachunten. Nimm das wenige oder nimm nichts. Deine Wahl.
„In einem schwarzen Photoalbum mit nem silbernen Knopf / bewahr ich alle diese Bilder im Kopf...“
Wir hatten einen herrlichen Tag am Strand verbracht, waren Dünen runter gesprungen und gerollt bis die Schamlippen der Chayas und meine Vorhaut vom Sand blutig geraspelt waren, hatten uns durchschleudern lassen von den Wellen, waren durch die Brandung getaucht bis zu Atemlosigkeit, hatten uns, halberfroren, schattenlos und völlig blödsinnig trocken und verbrennen lassen von der Sonne und schließlich ihren Untergang auf einem winzigen Klippenvorsprung, auf dem wir zu dritt gerade noch so Platz hatten, gefeiert. Stumm. Jeder für sich. Alle Portweinfarben durch. Bis nichts mehr da war. Keine Portwein. Und keine Farben.
„Das ist das Traurigste überhaupt“, sagte ich.
„Was denn, was ist das traurigste überhaupt?“, fragte die Tänzerin und guckte mich wie immer sehr direkt an, mit ihren großen, schönen Radostbokelaugen.
„Hm,...wenn die Vornachtnacht alles verschluckt. Alle Farben, alles Leben raus saugt, alles grau wird, noch nicht schwarz genug ist, um irgendwelche Lichter wieder leuchten zu lassen. Von Bojen, Sternen oder Fischerbooten. Der Tag umgebracht wird. Egal wie majestätisch er sich versucht zu verabschieden. Alles wird eine verwabernde, übergangslose, sterbende Masse...hm... das macht mich eben manchmal furchtbar melancholisch. Weil ich weiß, dass es genau so sein wird, wenn ich mal gehen muss, und...es so war bevor ich da war, wir alle da waren..und..und wieder weg sind...“
„Komm Peggo,“ unterbrach mich die Schwimmerin, und es klang fast liebevoll, „Du wirst besoffen. Lass mal nach hause kraxeln, solange Du noch halbwegs nen Fuß vor den anderen kriegst.“
„Pah, und das ausgerechnet von Dir: Nach hause...uns...“, äffte ich sie nach, „ich hasse Dich.“
„Arschloch“, zischte sie, und ich wusste, dass ich's verkackt hatte für diesen Abend. Bei beiden.
Alles, wirklich alles, konnte man zu den Chayas sagen, aber nicht, dass man sie hasste. Das mussten sie sich als Kinder mal geschworen haben. Gegen die Schläge, den Missbrauch, die Sprachlosigkeitsgeschreiwalzer. Alles ok. Weg geheult, weg gekifft, weg gesoffen, weg getanzt. Aber bei Hass, bei Hass, da gab es keinen Spielraum.
Es blieb unser einziger Streit in dieser Zeit und war am nächsten Tag auch schon wieder erledigt. Wir wussten, unser kaputter Alltag lauerte um die Ecke und die nächste Fluchtmöglichkeit lag in weiter, undefinierbarer Ferne.
„oh simple thing / where have you gone / I'm getting old / and I need something to relay on...“
„Was ist los mit Dir, Peggo?“, fragte die Tänzerin.
Ich saß auf der Barterrasse eines Campingplatzes auf den wir mittlerweile gewechselt hatten, war versunken in Musikgedankenerinnerungen und hatte mir gerade überlegt, was uns ausmachte, uns drei. Heldenhaftes taten wir gar nicht. Außer es nicht zu sein. Für nichts und niemanden. Für nichts und niemand. Außer, wir wollten es.
„Machst nen Gesicht wie in Lissabon.“
„Na herzlichen Dank“, sagte ich, „das war auch richtig schön.“
„Was war denn da los, Du hast gar nichts mehr erzählt? Oder haste heimlich mit der Pegge darüber gesprochen?“
„Mit der? Die fragt mich doch eh nichts.“
„Jetzt fang nicht wieder damit an, das nervt stabil“, stöhnte sie. Aber es war komplizenhaft.
Lisboa.
Wir waren bei einem kleinen, unscheinbaren, aber sehr leckeren Inder essen gewesen, hatten vier Flaschen vom Hauswein getrunken, und danach durch die Alfama geschlendert. Richtung einer Bar im Bairro Alto, die die beiden ein paar Tage zuvor für sich entdeckt hatten und von der die Schwimmerin überzeugt war, sie würde mir gefallen.
Mir gefallen. Habenseite, dachte ich.
Die beiden liefen voraus und ich trottete hinterher. Rotweinselig. Glücklich in dieser Stadt zu sein, die einen immer wieder so großzügig mit sich selbst beschenkte, wenn man einfach nur, ziellos, ihren Wegen, Straßen, Treppen, Rolltreppen, Gassen, Baustellenverengungen, Fahrstühlen und Elevadores folgte. Den Düften, einem speziellen Gestank, den Lichtern, Geräuschen, Liedern, Möwenmanövern, Pissrinnsalen, versteckten Bewegungen. Dem Blick eines im Unterhemd auf seiner Balkonbrüstung gelehnten nächtlichen Rauchers. Zwischen Balkonen voll Wäscheleinen, Fahrrädern, Pflanzentöpfen, Ronaldoaufstellern, Para-vendê-Schildern, Fernseherflackern, Sperrmüll und Hängematten.
Für meinen Geschmack gingen sie etwas zu schnell, Blasevolltempo, und blieben nur stehen um Handypics zu machen, wenn sie wieder Streetart von Vhils entdeckt hatten.
Die Schwimmerin drehte sich manchmal nach mir um, um zu gucken ob ich noch mitkam. Oder weil sie spürte, dass ich ihr auf den Arsch starrte.
Urinstinkt. Sie spüren es immer. Hunderte Meter weit. Es war faszinierend.
Sie hatte wieder ihre weiße, hauchdünne Leinenhose an, was ich ihr insgeheim schon tausendmal verboten hatte, weil es mich verrückt machte und sie das wissen musste, was ihr vielleicht völlig egal war. Oder noch schlimmer, genau das Gegenteil. Mit allem konnte ich umgehen. Bikini, Minirock, Nacktbaden. Aber nicht mit dieser beschissenen simplen, weißen Stoffhose und ihrem prächtigen Arsch darin. Die machte mich fertig.
Sex war Tabu zwischen uns dreien. Zumindest in den Konstellationen, in denen ich involviert gewesen wäre.
Meine Gründe kannte ich: Keine.
Die Tänzerin hatte irgendwo einen Peggo, den sie liebte und dem sie absolut treu war. Ich kannte und mochte ihn. Bei vielen Themen hätten wir uns zwar gegenseitig den Schädel eingeschlagen, aber er war loyal. Davon gab es nicht so viele.
Was die Schwimmerin dazu brachte auch nur den leisesten Körperkontakt mit mir zu vermeiden, blieb mir ein Rätsel. Selbst unsere sporadischen Umarmungen, die gefühlt immer von mir ausgingen und wirklich nur Umarmungen unserer Existenz im Leben des jeweils anderen gewesen wären, verendeten letztlich als flüchtige, steife, konventionsgeschuldete Gestenkopien.
„Weißt Du eigentlich, wo wir gerade an einem „Hostel Poeta“ vorbei gehen“, sagte ich zu ihr, “wie ungeheuer gerne ich die angucke...wie Du bist, Dich bewegst und Dich gibst...für Dich.“
Ich hätte es auch dem Baugerüst sagen können, unter dem wir in dem Moment durchliefen. Hätte es zufällig geknarzt, es wäre eine vergleichsweise epische Reaktion gewesen.
Richtig hässlich war ich nicht. Insgesamt betrachtet. Aber irgendetwas an mir schien sie zu ekeln. Meine Größe, mein Alter. Mein Koriander- und Petersilienkonsum. Meine Verachtungen. Ich hatte keine Ahnung. Vielleicht war es aber auch ihre Intuition, die ihr, verklausuliert, oder völlig, klar zuflüsterte, dass, wenn sie erst mal das Überschreiten einer körperlichen Grenze zuließ, ich ihr endgültig hoffnungslos verfallen gewesen wäre. Angefixt. Auf Dauerentzug. Aufgesaugt, von dem schwarzen Loch in meiner in Alkohol badenden Seele, das ich zu zuficken versuchte. Ihm gehörte ich. Und noch etwas von ihm bereits Verschlucktem. Das ich ihm unbedingt noch einmal entreißen wollte. Ich konnte ihr nicht gehören. Noch nicht.
„...und ich war in einem Land/in dem die Dichter sich nicht interessieren für den Reim / sie sagen unsere Gedichte sollen so wie Unterhaltungen sein / und ich denk an Unterhaltungen zwischen mir und Dir / und dann haben sie mir gezeigt wie die Dämonen sich ernähren von unseren Gedanken / und dann habe ich meine Dämonen einfach verhungern lassen...“
Dass ich sie einfach nur furchtbar gerne anguckte, war natürlich völlig untertrieben. Aber ich war zu schüchtern um ihr zu sagen, wie unglaublich, herzzerreißend schön sie war in ihren Bewegungen, ihrer muskulösen Präsenz, ihrer sich selbst genügenden Unnahbarkeit. Wie sehr ich ihr Gesicht liebte, dass von Ernst und Skepsis über völlige Ausdruckslosigkeit zu schlagartigem Lachen und Strahlen wechseln konnte, das eine so ansteckende Freude in sich hatte, wie mich selten eine kriegte. Ihre Gemeinheiten waren intelligent und ihr Leichtsinn klug.
Manchmal hätte ich schreien können um nicht zu ersticken an meiner Begeisterung. Und zu verzweifeln an ihrer unmitteilbaren Einseitigkeit. Aber dann sprach sie wieder von ihrem Hund. Und alles war gut. Das schrieb ich so auch in einer Postkarte an einen Freund. Und musste lachen. Lachen in Lagos.
„Gleich sind wir da,“ sagte die Tänzerin, „noch zwei, drei Treppen.“
„Aha, wo denn?,“ fragte ich. Ich war noch völlig versunken.
„Ob Du studierst!?,“ schrie die Schwimmerin.
Und dann standen wir plötzlich auf dem Platz. Und ich erkannte alles. Die kleine Statur. Den Baum. Die São Cristóvão. Die Gitarrenpunks vorm Portal. Mit ihren unvermeidlichen Hunden. Den Kiosk gegenüber. Die Bäckerei. Und, das Haus Nummer 4. Und wurde fürchterlich traurig. Weil hier etwas begonnen hatte, das schon zu Ende war, noch ehe wir es wussten. Etwas, was überhaupt nichts mit den Chayas zu tun hatte, und es war fast zynisch ausgerechnet mit ihnen hier zu sein, in einem ganz anderen, momentleichten Leben. Während das parallele Leben unverschuldet vor sich hinverkrüppelte in seiner absoluten Einsamkeit und Ohnmacht. Ein Kind tanzte, in einer viel zu großen Zwangsjacke, dem ich versprochen hatte, es so lange zu tragen,...
auf meinem Rücken
in meinen Armen
über dem Kopf
mit meinen Füßen
Schritt für Schritt
für Schritt
über's Gebirge
nach Thailand
…
trage Dich ins Meer
durch den Pazifik
zu der Küste der Kordilleren
und meiner Quelle
dreh mich zur Sonne für Dich
den Sternen
dem Mond
zu jeder Zeit
tags
nachts
und morgens
trage Dich rückwärts
seitwärts
vor und zurück
zum Tanz Deiner Augen
werde Dich tragen
und tragen
und tragen
und so leise brüllen vor Schmerz
dass Du aufwachen wirst
„Seid ihr noch ne halbe Stunde hier?“, fragte ich die Chayas, die völlig verdutzt nickten, und rannte los, hoch in Richtung Schloss. Rannte und rannte und rannte. Bis ich nicht mehr konnte. Aber meine Tränen. Die wussten, warum ich noch nicht alles angezündet hatte.
„Silence is easy / it just becomes me / you dont't even know me /why do you hate me...“
Nachts, als wir zurück im Hostel waren, wir hatten ein Vierbettzimmer, las ich ihnen noch eine Geschichte von mir vor: „Purple Rain“. Wie sie sie fanden, ließ nicht sagen. Sie waren eingeschlafen. Aber plötzlich sagte das Bett unter mir, vor dem ein riesiges, regenbogenfarbiges Thailandstrandlaken hing: „Gut. Das ist besser als so vieles, was ich bisher gehört habe. Und Prince war eine Offenbarung. Hast ne krasse Stimme Digger. Boa noite.“
Freuen konnte ich mich in dieser Nacht nicht mehr darüber. Aber, genau das war's. Das einzige was ich hatte: Meine Stimme. Alles was ich schrieb und las, hatte ich geatmet, geraucht, getrunken, gesehen, geschmeckt, gefühlt, getanzt. Es hatte meine Seele in sich. Hatte Soul. Die Sounds, die mich ausmachten. Davon war ich zutiefst überzeugt.
Mehr konnte ich nicht tun. Außer zu warten, dass es mal einer oder eine entdeckte, für den oder die es mehr war, als nur gut. Einen Wert an sich hatte. Und, über sich selbst hinaus. Viel Spaß beim Verhungern.
Drei Tage blieben uns noch.
„Heute nochmal versuchen, nen Weg runter zu finden? Da zu dieser einen Bucht, wo oben noch die Klosterruinen stehen. Vorher noch Sunset und Deine Gintintomische?“, schlug ich vor.
„Na sicher,“ nickte die Schwimmerin.
„Will ich doch schon die ganze Zeit“, grummelte die Tänzerin, „aber ihr plant ja immer ohne mich.“
Den Sonnenuntergang vertrödelten wir und beschlossen uns direkt auf die Suche nach dem Weg runter zum Strand zu machen.
Eine halbe Stunde liefen wir oberhalb der Bucht auf den Wegen der Rota Vincentina entlang, ohne einen Pfad nach unten zu finden. Zwei, drei Mal hatten wir gedacht ihn bereits entdeckt zu haben, aber jedes Mal, wenn einer von uns probierte, ob wir richtig lagen mit unseren Vermutungen, mussten wir nach kurzer Zeit wieder umkehren, weil die Klippenwand schlagartig gefühlt hundert Metern steil in die Tiefe abfiel. Keine Chance ohne entsprechende Ausrüstung. Und unsere bestand aus einem Paar Flip Flops, einem Paar Badelatschen und einem, immerhin halbwegs stabilen, Paar Palladium Pallabrouse Stoffboots, einem gerauchten Joint und zwei leeren Gintintoflaschen.
„Und, was machen wir jetzt?“, fragte die Schwimmchaya, „Gehen wir einfach zurück?“
„Ne, auf keinen Fall“, meinte ich, „ich will da runter, lass da hinten noch mal probieren, und wenn's dann nicht klappt, dann ok, dann versuchen wir's halt morgen wieder und googeln den Scheiß vorher. Wär das auch für Dich in Ordnung Peggä?“
„Völlig“, sagte die Tanzchaya, “heller wird’s bestimmt nicht. Außerdem haben mich gleich die Mücken aufgefressen. Ich kann nicht mehr.“
Also gingen wir noch ein paar Minuten weiter, bis zu der Stelle, die schon von Weitem mehr nach Weg aussah als alles andere davor.
„Sieht gut aus!“, rief ich den beiden erleichtert nach oben zu, „Da unten hängt tatsächlich auch nen Seil.“
Die ersten Meter kamen wir problemlos voran und das Seil half uns eine ganze Weile, bis es auf einmal zu Ende war. Wir kletterten weiter. Langsamer als vorher, viel langsamer, immer unsicherer. Steine die sich stabil anfühlten, brachen aus der Wand und die Wurzeln verloren wachsender Büsche bröselten uns aus den Händen. Stockdunkel war es geworden und mit unseren Handytaschenlampen machten wir uns nur gegenseitig verrückt, weil sie blendeten und sich unsere gerade an die Dunkelheit gewöhnten Augen ständig umstellen mussten.
Am liebsten hätte ich meine Badelatschen ausgezogen und einfach runter ins schwarze Nichts geworfen. Sie rutschten mir permanent von den Füßen, wenn ich an einem der wenigen haltenden Steinen halb in der Luft hing. Aber der Untergrund war viel zu scharfkantig um ihn barfuß zu beklettern. Die Tänzerin hatte sich ihren Arsch bereits blutig geschrappt.
Mit jedem Zentimeter mehr nach unten wurde ich nüchterner, begann mich zu verfluchen, mich und uns, für diese Schwachsinnsaktion, weil wir wirklich kein Klischee ausgelassen hatten. Wir, die coolen Individualisten. Es war lächerlich. Furchtbar lächerlich. Sandalen, Flip Flops, Vollrausch, Dunkelheit. Für ein bisschen Strand und Vollmondwellenglitzern.
Panik kam.
Ich hatte fast überhaupt keinen Halt mehr. Hielt mich krampfhaft an einem Felsbröckchen fest, das sich Millimeter für Millimeter weiter löste, stand auf einem winzig kleinen Vorsprung, nur mit meinen beiden großen Zehen, die mein Gewicht auch nicht mehr länger aushielten und zu zittern anfingen. Und ihr Zittern schwang sich weiter hoch durch meinen ganzen Körper. Ich kam nicht vor und nicht zurück. Willkommen im Geburtskanal.
Über mir hörte ich die Schwimmerin plötzlich lachen. Und ich liebte ihr Lachen, weil es das Lachen von jemandem war, der schon richtig tief in der Scheiße gesessen hatte. Und sie lachte es noch die ersten paar Meter, bevor sie vollends ins Rutschen kam, an mir vorbei, gegen die Felsvorsprünge schleuderte und dumpf auf einen Findling aufschlug.
Der Sand daneben wäre weich genug gewesen.
Wir hatten es fast geschafft. Vielleicht noch anderthalb Haushöhen. Vier, fünf Stockwerke.
Ein paar Fischer kamen angerannt, deren giftgrün leuchtende Angelrutenendlämpchen uns von oben immer wieder etwas
beruhigt hatten, weil wir wussten, wir waren nicht ganz allein.
Ich guckte noch ein Mal rüber zum Körper der Schwimmerin.
Dann wurde ich ohnmächtig.
* H *