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- 01.09.2005
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Hereinspaziert, Hereinspaziert!
Aus den Käfigen drangen die schwindsüchtigen Laute der gefangenen Tiere. Die qualvollen Jahre als Sklaven der Manege hatten sie ihrer Würde und ihrer Kraft beraubt. Gleich neben dem Bauwagen mit der kritzelig bunten Aufschrift „Dierecktor“ über der Tür stierte mich ein ergrauter Löwe durch seine Gitterstäbe an. Ich atmete tief ein. Die kalte Nachtluft kitzelte in meinen Lungen und versorgte mein Blut mit frischem Sauerstoff. Wieder begann ich zu zweifeln. War ich verrückt, wie Anna es so oft behauptet hatte, bevor wir schließlich geschieden worden waren? Hatten diese Leute niemandem etwas getan und waren bloß eine Ablenkung für mich, eine Obsession, die meine Vernunft langsam zersetzte, so dass ich leichter mit dem Verlust meines Sohnes fertig werden konnte?
Dann sah ich Tim vor mir, wie er aus Lego die unterirdische Festung geheimnisvoller Erdwesen baute, Wesen, deren Existenz seinem eigenen jungen Verstand entsprungen war. Tim hatte gemalt und gebastelt, er hatte seinen Actionfiguren neue Namen und Hintergrundgeschichten gegeben, zu einfallsreich, als dass die von Marktforschung und Bilanzanalyse trockengelegte Fantasie der eigentlichen Hersteller jemals darauf hätte kommen können.
Tim hatte erschaffen ... Einige befreundete Eltern hielten Anna und mich für unangemessen streng, weil wir ihm keine Playstation kauften, und sie lachten spöttisch, wenn wir beteuerten, dass Tim so ein verdammtes Ding gar nicht haben wollte. Ich sah das „Dierecktor“- Schild davonschwimmen, als meine Augen sich einmal mehr mit Tränen füllten bei dem Gedanken, zu was für einem großartigen Menschen ich meinen Sohn hätte heranwachsen sehen können.
Es waren seit Jahren keine Tränen der Trauer mehr gewesen, die in meinen Augen ätzten. Stattdessen brannte flüssige, salzige Wut unter meinen Lidern, jede einsame schlaflose Nacht der letzten fünf Jahre, so heiß und gnadenlos, dass ich mir keine Sorgen machen brauchte, dass das Feuer meines selbstquälerischen Zorns jemals wieder erlöschen könnte.
Der Löwe erhob sich, unbeholfen, gebrechlich, stotternd. Sein Fell war kotverschmiert. Er war ein Mahnmal für alle Lebewesen, die es jemals gewagt hatten, sich mit der Dornenkrone der Schöpfung anzulegen. Doch der Löwe knurrte, und als ich in seine Augen sah, war da plötzlich nichts Mitleiderregendes mehr. Es schien, als hatte mein Zorn von den Toten auferstehen lassen, was in den Jahren als trauriger Clown in ihm gestorben war. Hass machte uns zu Waffenbrüdern. Ich wuchtete meine Faust gegen die Bauwagentür und vergewaltigte damit die Stille der Nacht so berechnend wie einst die Gestapo.
Ich habe da ein paar Fragen, Herr Dierecktor. Und beten sie, dass sie die richtigen Antworten kennen.
Ein Hüpfball mit Beinen öffnete die Tür. Der Dierecktor trug eine schmutzig rosafarbene Ganzkörperunterhose, von der ich bis zu diesem Moment geglaubt hatte, sie würde außerhalb von Western mit Bud Spencer und Terence Hill gar nicht existieren. Er räusperte sich und spuckte vor meine Füße. Erstaunt und sichtbar beeindruckt musterte er kurz seinen Auswurf. Dann sah er zu mir hoch und sprach, seine Stimme frei von jeder Einschüchterung durch den knappen halben Meter, den ich ihn an Größe überragte: „Mann, um die Uhrzeit, ihr habt wohl’n Knall. Es ist alles gemeldet, alles unterzeichnet, alles legal und supipupi. Ich weiß, sie machen nur ihren Job, aber es steht mir allmählich hier, dauernd euch Typen vom Ordnungsamt auf der Matte stehen zu haben. In jeder Scheißstadt das Gleiche! Wir sind Schausteller, und nur, weil wir uns nicht ausdrücklich dafür schämen, sondern ...“
„Ich bin nicht vom Ordnungsamt.“
„Was?“ Der Hüpfball-Dierecktor streckte sich zu mir empor und wiederholte seine Frage: „Entschuldigung, was?“
Meine Stimme war in Jahren der Einsamkeit verkümmert, so wie alles verkümmert, was man nicht regelmäßig benutzt. Jetzt räusperte ich mich.
„Ich bin nicht vom Ordnungsamt. Ich will mit ihnen über die verschwundenen Kinder reden.“
Der Dierecktor kratzte seine schorfige Glatze und sagte: „Ich glaube, ich verstehe sie nicht“, in einem Ton, der das Gegenteil behauptete.
„Ich habe ein bisschen recherchiert. Überall, wo ihr Zirkus in den vergangenen Jahren auftauchte, ist mindestens ein Kind verschwunden. Dann habe ich noch ein bisschen weiter recherchiert und herausgefunden, dass es schon immer so gewesen ist, in den gesamten zweihundert Jahren, die sich die Geschichte ihres Scheißvereins zurückverfolgen lässt. Mitsamt der drei Monate, die sie für gewöhnlich pro Jahr wie vom Erdboden verschluckt sind. Wo immer sie in der Zeit seien mögen.“
Dierecktor grinste: „Auslandaufenthalte. Äh ...“, er wedelte mit der rechten Hand und verschränkte seine zu kurzen Arme vor seiner zu fetten Brust, „Was wollen Sie?“
„Vor ungefähr fünf Jahren gastierten sie in einem Ort namens Borlach. Mit ihren Zelten verschwand mein Sohn, Tim Waldtke, spurlos und ohne irgendwelche Hinweise auf ein Gewaltverbrechen. Es hat zwei Jahre gedauert, bis mir beim tausendmalsten Durchgehen der Fakten auffiel-“
Wieder wedelte Dierecktor, diesmal mit der anderen Hand: „Ja,ja, ich weiß, der Zirkus war da, als ihr Sohn verschwand, und da wir Schausteller ohnehin alle pervers, arbeitsscheu und drogensüchtig sind, haben wir ihn natürlich entführt.“
„Ja.“ In meiner Jackentasche streichelten meine Finger den Revolver, den mein Bruder Lothar, das tiefschwarze Schaf, über das man sich bei Familientreffen lieber ausschwieg, mir während seines Wochenendfreigangs besorgt hatte.
„Er war nicht der Erste. Was machen sie mit den Kindern?“
Eine hustende Alkoholstimme keifte aus dem Wohnwagen: „Verdammt, Hendrik, wer ist denn da? Hau ihm auf die Fresse und dann komm ins Bett, Zuckerschnütchen!“
„Halt’s Maul, Fotze!“, schrie Hendrik, ohne sich umzudrehen, so dass ich für einen Moment nicht wusste, ob er mich oder die Stimme aus dem Off meinte. „Ich red’ hier draußen Geschäft, also sei ein liebes Mädchen und fette einfach weiter den Tennisschläger ein, damit wir gleich loslegen können.“
Dann wandte der Romeo aus dem Musical ‚Shakespeare on Crack’ sich wieder mir zu: „Hören sie, Kumpel, das mit ihrem Kind tut mir leid, aber wissen sie, das Leben ist nun mal kein Ponyhof, sondern ein Pferdestall, bis unters Dach voll mit Scheiße. Es ist auch verdammt unangenehm, wenn man für die meisten der sogenannten scheiß ehrbaren Bürger, aber für sich selbst unsichtbar „Schuldig“ auf der Stirn tätowiert hat, sobald in irgendeinem Pissdorf die Scheiße durch den Ventilator fliegt.“
Hendriks exzessiver Einsatz von Wörtern, die man seinen Kindern madig macht, obwohl man sie selbst andauernd benutzt, ließ mich an Schweizer Psychologen und anale Phasen denken. Deshalb lachte ich, und es muss für den Dierecktor so ausgesehen haben, als würde ich es sauwitzig finden, ohne weiteren Kommentar den Lauf eines Revolvers im Fettgewebe seines Bauches zu versenken.
„Oh!“ Nachdem er die entsprechende Form für diesen Laut angenommen hatte, verharrte Hendriks Mund darin. „Oh! Oh! Meine ... Oh!“
Das Rosa des albernen Hosenanzugs verdunkelte sich im Schritt.
„Oh!“
„Hören Sie auf mit dem Scheiß. Beim nächsten ‚Oh’ schieße ich Ihnen ins Knie.“
„ ...“
„Was machen Sie mit den Kindern?“
„Junger Mann, Sie verstehen nicht-“
„Glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass ich zuviel durchgemacht habe, als dass es mir nicht scheißegal sein könnte, Sie abzuknallen? Und glauben Sie mir auch, dass ich ein bisschen nachgeforscht habe, wo man so alles hinschießen kann, ohne sofort zu töten, aber um absolut unmenschliche Schmerzen zu verursachen?“
Ein gewaltiger Furz entfuhr des Dierecktors Därmen. Dem Odeur zu Folge hatte die Ballastabgabe nicht ausschließlich gasförmig stattgefunden.
„Sie stinken.“
War es krank, derart in Sadismus zu schwelgen? Dass ich so etwas wie Spaß am Quälen dieses fetten Miststücks empfand? Hatte ich es mir nicht in den Jahren des Leidens verdient, mich wie ein Monster zu benehmen?
„Was machen sie mit den Kindern?“
Hendrik kratzte sich am Hintern, schnüffelte an seinen Fingern und zog ein Gesicht, verblüfft eher als angeekelt.
„Kommen Sie mit“, sagte er, und das tat ich.
Er führte mich in ein Zelt, das von außen die Größe eines dieser Unterstände hatte, die auf Weihnachtsmärkten stupide im Kreis laufende Ponys vor Regen schützen, während die Tiere Wind, verwöhnten Kindern und jeden Lebenswillen abtötender Monotonie schutzlos ausgeliefert bleiben. Von Innen wirkte es so unglaublich viel größer, dass mir als Begründung nur der Whiskey einfiel, mit dem ich mir Mut für meinen Zirkusbesuch angetrunken hatte.
Zwar war der Boden mit Sand ausgestreut, aber es roch nicht nach irgendeinem Tier, das hier drinnen seine qualvollen Kapriolen zu drehen hatte oder in seinen Ausscheidungen dahinvegetierte. In der Mitte befand sich ein Loch im Boden, groß genug für einen erwachsenen Mann, um hineinzukriechen.
„Was ist das?“, fragte ich den Dierecktor.
„Eine Tür“, antwortete er.
„Tacheles, Fettsack. Kein blödes Gerede. Was ist da drin?“
„Es ist ein Eingang. Wir nehmen ihn mit uns, wo immer wir hingehen. Wir geben denen am anderen Ende, was sie begehren und was es in ihrer Welt nicht gibt. Sie belohnen uns dafür. Sie müssen sich das vorstellen wie ein interdimensionales Import-/Exportverhältnis.“
Ich hielt die Waffe auf den Dierecktor gerichtet und trat näher an den Rand des Lochs. Das Zelt war nur von einigen schwachen Scheinwerfern beleuchtet, aber ich zweifelte daran, dass ich aufgrund der unzulänglichen Sichtverhältnisse keinen Boden erkennen konnte.
„Was ist da unten?“ fragte ich noch einmal und schlug vor: „Leichen?“
„Es gibt’s kein da unten“, sagte der Dierecktor. „Es ist ... woanders.“
Dann stürmte der Clown herein. Ich riss den Revolver herum, um auf ihn zu schießen, doch der Dierecktor machte einen Satz nach vorne, griff meinen Arm und biss mir ins Handgelenk. Ich schrie und weiß nicht mehr genau, ob ich die Waffe vor Schreck oder Schmerzen fallen ließ.
Zum Wiederaufheben war es zu spät. Die langen Beine des Clowns hatten die Distanz vom Eingang zu mir in nur vier Schritten zurückgelegt. Ich schätzte ihn auf ungefähr zwei Meter und zwanzig. Sein Kreuz maß unwesentlich weniger als seine Länge. Unter seiner Schminke blitzte mich das stumpfe Gesicht eines Jahrmarktboxers an: Eng zusammenstehende Augen und eine platte Nase, deren Flügel sich von einem Mundwinkel zum anderen zu erstrecken schienen.
Er griff mich am Hals und hob mich hoch. Meine Füße verloren den Kontakt mit dem Boden und ich bekam keine Luft.
„Beppo!“, jubilierte der Dierecktor. „Beppo, verdammt, wo hast du gesteckt, wieso hat das so lange gedauert?“
Beppo antwortete. Ein Geruch drang aus seinem Mund in meine Nase, der mich an die Fliegen über einem Katzenkadaver erinnerte, den ich als Kind mal am Straßenrand entdeckt hatte. Was er sagte, waren zumindest in meinen Ohren keine Worte. Es klang, als hätte er keine Zunge und stattdessen einen Tischtennisball im Mund.
Der Dierecktor hatte offenbar keine Probleme, den gurgelnden Schmatzlauten einen Sinn zu entnehmen: „Ach, das hat sie gesagt, ja?“ Leise zu sich selbst fügte er hinzu: „Fotze.“
Meine Arme waren frei, und da Beppo abgelenkt war, nutzte ich die Gelegenheit, ihm einen Kinnhaken zu verpassen. Jedenfalls versuchte ich es. Der Landeanflug meiner Faust auf dem Clownsgesicht wurde abrupt unterbrochen – von einer dritten Hand, die unter Beppos schmutzigweißem Kostüm mit den rosa Büscheln so selbstverständlich hervorkam wie ein Tempo aus der Hosentasche. Eine vierte Hand griff vorsorglich nach meinen anderen Arm.
Beppo drehte langsam seinen Kopf und sah mir grinsend in die Augen. Sichtbar genoss er die Verwirrung, die sich darin spiegelte. Seiner spöttischer Blick sagte: „Du denkst jetzt wahrscheinlich ‚Scheiße, von allen Tagen meines bisherigen Lebens war keiner so was von nicht meiner wie der heutige.’“ Er grinste noch breiter. Seine Zahnreihen waren ein gelb schwarzes Gebirge mit vielen weiten Tälern.
„Sohn“, der Dierecktor bückte sich nach meiner Waffe und inspizierte sie neugierig, während er weiter mit mir redete, „es ist eine Schweinewelt, aber Geschäft ist nun mal Geschäft. Vielleicht hast du gestern zum Frühstück eine Salami gegessen, die aus dem Lieblingsschwein von Mary Poppins gemacht wurde. Wir haben uns ein bisschen was dazuverdient, indem wir, na ja ...“, er deutete auf das Loch im Boden, „so ist nun mal die Natur. Die Welt. Schieb’s auf die Gesellschaft.“
Es folgte das nasale Quaken eines schwulen Froschs. Beppo glotzte den Dierecktor unsicher an, dann, als er verstanden hatte, dass es sich bei dem Laut um ein ehrlich amüsiertes Lachen handelte, fiel er mit ein. Es klang, als hätte er Beavis und Butthead gefressen.
Der Dierecktor beruhigte sich wieder, inspizierte mit einem Augen blinzelnd den Lauf meines Revolvers und sagte: „Für ihren Mut schulde ich Ihnen eine Chance, Herr, äh, Bronson? Eastwood? Schtalone?“ Sein Gesicht verzog sich unter Krämpfen, verursacht vom Bemühen, einen erneuten Lachanfall zu unterdrücken. „Vielleicht finden Sie Ihren Sohn ja wieder. Grüßen Sie ihn von mir. Schmeiß ihn rein, Beppo.“
Die Ausführung des Befehls kostete den Clown dieselbe Kraftanstrengung wie das Öffnen einer Coladose. Zu groß war seine physische Überlegenheit. Ich hatte keine Chance gegen die Dicke seiner Muskelstränge und die Überzahl seiner Extremitäten. Meine reflexartig ausgestreckten Arme bremsten meinen Fall. Ich blieb stecken, ein Kreuz, das jemand in einen Gully geworfen hatte. Ein Sog erfasste meine Beine und ließ keinen Zweifel daran, dass er noch mit derselben Kraft versuchen würde, mich in das Dunkel zu ziehen, wenn meine Arme längst kapitulierten.
Gerade als ich mich fragte, wo zum Teufel Gott Platz haben sollte in einer Welt, in der Geschichten wie meine so ausgingen, trat Beppo mit seinen übergroßen Clownsschuhen nach meiner Hand. Ich fand die Kraft, seinen Fuß abzufangen und war kaum überrascht zu spüren, dass er den typischen, absurd gewaltigen Schuh der Manegenfaxenmacher auch tatsächlich ganz auszufüllen schien.
Beppos Quieken und Schreien war das eines Kindes, das mit dem Fahrrad gestürzt war. Offenbar hatte er durch seinen unüberlegten Einsatz seine Achillesferse in meine Hände gelegt. Mit verzweifelter Kraft bog ich den gewaltigen Fuß in allerlei Richtungen und versuchte Griffe anzuwenden, an die ich mich verschwommen aus einem Hap-Ki-Do-Kurs an der Volkshochschule erinnern konnte.
Aber das war gar nicht nötig. Beppo stolperte so panisch zurück, als würde er in Flammen stehen. Er fiel über die gewaltigen Säulen seiner eigenen Beine. Mit dem Hinterkopf schlug gegen einen der hölzernen Stützpfeiler des Zeltes, aus dem ein füllerdicker Nagel ragte, über den ein einsamer, blassblauer Jonglierring aufgehängt war. Der Ringträger pfählte Beppos Schädel und ließ beim Heraustreten den linken Augapfel aus der Höhle springen wie einen Kastenteufel.
„Beppo!“, schrie der Dierecktor, ließ zu meinem Entzücken die Waffe fallen und warf sich neben den Clown, durch dessen weißes Make-up sich jetzt rotschwarze Schlieren zogen. Alle sechs Gliedmaßen zuckten in den letzten Konvulsionen eines Körpers, dessen Schaltzentrale sich allzu plötzlich aus dem Leben verabschiedet hatte.
Der Stahl des Revolvers in meiner Faust, das Gejammer des Dierecktors und das spastische, seelenlose Zucken des toten Clownskörpers, dem sein Zustand erst langsam dämmerte, ließen mich daran denken, dass Gott vielleicht doch kein allzu übler Typ war. Ein Arschloch manchmal, wie wir alle – aber eben nicht vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche.
Dann wurde mir klar, dass ich dem Sog nicht länger widerstehen konnte. An der Oberfläche, der Welt des Dierecktors und Beppos, des vierarmigen Clowns, waren nunmehr nur noch meine Finger, die verkrampft versuchten, meinen Körper vor dem Fall in die bodenlose Schwärze zu bewahren. Als die Kraft schließlich aus ihnen wich und ich in den Abgrund stürzte, war das letzte, was ich sah, das von Wuttränen zusätzlich entstellte fette Bulldoggengesicht Hendriks, der mir hinterher schrie: „Ich hoffe, sie schneiden dir die Eier ab du Mistsaaaaaaaaaaau!“ Dann verlor ich das Bewusstsein, und ich glaube, ich habe dabei gelächelt.
Ich kam zu mir in einem Raum, in dem sich Schweiß, Urin und Scheiße zum unverwechselbaren Pesthauch der Angst vermengten. Junge Angst ... Verstreut herumliegende Kinderkleidung bildete einen dichten Teppich. Allerlei Getier gab den Stofffetzen Leben, so dass es aussah, als würden sich Pullover, T-Shirts und Hosen durcheinander bewegen wie Schlangen in einer Grube. Auf einem Tisch an der Wand lag eine große Schere mit wellenförmigen Schneideblättern, an denen Blut klebte, genau wie an vielen der in drei oder mehr Teile zerlegten Kleidungsstücke. Jemand hatte den Trägern ihre Sachen vom Leib geschnitten. Sie ausgepackt wie Geschenkpakete.
Ich kam auf die Beine. Der Raum war schwach von einer flackernden Deckenbeleuchtung erhellt, die ausreichte, mich viel zu viel erkennen zu lassen. Plötzlich war ich sicher, hinter mir das schiefzahnige Grinsen Beppos zu spüren und ich fuhr herum, in einem Gedankenblitz dem Himmel dafür dankend, dass der Revolver noch immer Schutz verheißend in meiner Hand lag. Wer immer mir hier im Halblicht zu nahe treten wollte, würde erkennen müssen, dass auch ich ein Herr über Leben und Tod war. Smith and Wesson sei Dank.
Doch nichts war hinter mir außer einer modrigen Wand, in deren Mitte sich eine hölzerne Tür befand, durch die sich selbst Bilbo Beutlin hätte hindurchducken müssen. Ich griff nach der Klinke und ließ erschrocken von ihr ab, als sie sich in meinen Fingern wand wie eine nackte Ratte. Noch einmal berührte ich sie, diesmal langsam und vorsichtig, als würde ich einen von diesen „Der will nur spielen“ Hunden streicheln. Wieder schien ich mit einer Art göttlichem Funken aus meinen Händen eine Existenz in den leblosen Gegenstand zu hauchen. Einige Sekunden hielt ich die Klinke fest und drückte fester zu, dann, als ich sicher war, dass sie mich nicht beißen würde, öffnete ich die Tür.
Der Sog zog mich diesmal nach oben statt in die Tiefe. Ich begriff die Spielregeln dieses Transportmittels und schlug die Tür zu, bevor ich wieder zur wehrlosen Flipperkugel des aggressiven Luftstroms werden konnte. Mit der flachen Hand streichelte ich das morsche Holz der Tür und flüsterte in der Stimme dessen, der sich alleine wähnt: „Es ist also kein One-Way-Ticket. Wir sehen uns wieder, Hendrik. Das freut mich sehr. Ich bin noch lange nicht fert-“
Eine Tür am ungefähr zwanzig Meter entfernten anderen Ende der morbiden Kleiderkammer wurde aufgerissen. Jemand stapfte auf mich zu und motzte: „Verdammt, heute ist Lezern, was macht ihr Schwachköpfe von jenseits denn, niemand hier arbeitet an Lezern ihr verschissenen-“
Der Eindringling blieb stehen und schien mich anzustarren, obwohl ich trotz des Halblichts zu erkennen glaubte, dass er keine Augen hatte. Da er ohne sich umzudrehen vor mir zurückstolperte und dabei schrie „Lieber Merok, es ist eins von den Großen, Torn, Zit, kommt schnell!“, hatte ich keine Zeit, weiter über die physischen Unzulänglichkeiten meines Gegenüber nachzudenken.
Ich hob meine Waffe und ließ sie genauso abrupt wieder sinken, da ich mich gegen einen schnellen Schuss in den augenlosen Kopf entschieden hatte: Zu laut. Stattdessen griff ich nach der geriffelten Schere und stellte angenehm überrascht fest, wie wunderbar sie sich als Wurfmesser zweckentfremden lassen würde. Mein Opfer erkannte, was ich vorhatte, drehte sich um und hastete zur Tür. Kurz davor fiel es zu Boden, die Hand nach der rettenden Türklinke ausgestreckt, so nah und doch Lichtjahre entfernt. Der Griff der Schere ragte aus seinem Nacken wie ein Schlüssel, mit dem man einen trommelnden Spielzeugsoldaten aufzieht. Unter seinem Kinn leuchteten die nicht mehr ganz blanken Schneideblätter der Schere.
Der Augenlose sank auf die Knie und hustete nass, leise und kaum verständlich die so fremd klingenden Namen: „Chonn ... Chitt ... Chchchch ...“ Er fiel vorn über, blieb bewegungslos, atmete aber weiter, einen nassen, rosa Asthmaatem, dem man die grelle Angst vor dem Nichtmehrsein anhören konnte. Mein zweites Opfer in dieser Nacht. Zufriedenheit summte in mir, nicht unähnlich dem Gefühl, dass die Lippen beben lässt, wenn man sich dem Gesicht einer Frau nähert und in ihren Augen erkennt, dass sie den Kuss erwidern wird.
Er war nackt und seine Haut war gelbschwarz und ölig. Als ihn es mit dem Fuß auf den Rücken drehte, leerte sich sein Darm, der große Räumungsverkauf, kurz bevor der Laden endgültig Konkurs anmeldet. Ein Geruch wie Kohlsuppe mit Hering und einer Idee volle Windel verteilte sich im Raum. Ich schluckte Kotze herunter und schützte Mund und Nase mit meinem Sweatshirtärmel, um den Verschiedenen genauer zu studieren.
Seine Anatomie war annähernd menschlich: Ein Rumpf, ein Kopf, zwei Beine, zwei Arme ... Und zwei verkümmerte Stummel über dem Becken, die frei nach Charles Darwin einmal Arme gewesen sein mochten, als es für diese Wesen aufgrund ihrer Umweltbedingungen noch Sinn gemacht hatte, mit vier Händen zupacken zu können. Ich dachte an Beppo und die Artenkreuzungsexperimente Dr. Moureaus in H.G. Wells Roman.
Der Kopf war kahl und nicht augenlos, wie ich zunächst geglaubt hatte. Vielmehr starrte ein einziger Augapfel, fast so groß wie die ganze, gewölbte Stirn, eingefrorenen in einem Ausdruck der Überraschung und des Entsetzens, an die Decke. Aus der Entfernung hatte ich das Auge nicht erkannt, weil es von derselben schmierigen Kohle und Eiter Farbe war wie der Rest des Körpers.
Der Mund, eine kleine, golfballgroße Öffnung, stand offen und präsentierte spitze Zähne. Eine Zunge, dürr und gespalten wie die einer Schlange, baumelte zwischen den Lippen. Ich zog die Schere aus dem Hals des Monsters und ging so aufgerüstet in Richtung der Tür, durch die das unglückliche Mistvieh in mein Leben gestolpert war.
Wenn es in dem Raum mit der zerfetzten Kinderkleidung erbärmlich gestunken hatte, dann gibt es kein Wort und keine Umschreibung in der deutschen Sprache für den Geruch in der riesigen Halle, in die ich nun trat. Hitze, Moder, Kot, Blut, Kotze, Pisse, Fliegen, Asseln, Bakterien, Schimmel und Wundbrand: Der Zirkus Sarani Sisetti exportierte seine kleinen Opfer direkt in die Hölle. Hunderte von Kindern hockten in winzigen Käfigen, alleine oder zu zweit, zu dritt, zu viert, manchmal so eng zusammengepfercht, dass sie keinen Finger rühren konnten, um die Insekten zu verscheuchen, die in ihren Wunden die Krippe für den krabbelnden Nachwuchs herrichteten.
Jeweils sechs Käfige waren bis kurz unter die Decke übereinander gestapelt, die Länge der Reihen schätzte ich auf ungefähr fünfundzwanzig. Ich stand auf einer Plattform und musste eine Treppe hinabsteigen, um auf einen Flur zwischen den Zellen zu gelangen, an dessen Ende sich wiederum eine andere Treppe auf eine andere Plattform mit einer anderen Tür befand. Ich versuchte, die Gefangenen zu ignorieren. Meine Reise hatte mich auch ohne ihren erbärmlichen Zustand bereits einen beträchtlichen Teil meines Verstandes gekostet. Mit jeder neuen beobachteten Widerwärtigkeit wurde mein Wunsch stärker, mich selbst mit einem Schuss in den Kopf in ein stilles, blindes, geruchloses Nichts zu retten. Und ich hätte die Ewigkeit in einem Kessel voll siedendem Öl verdient gehabt, wenn ich diese Kinder so feige im Stich gelassen hätte.
In den meisten Augen spiegelten sich Seelen, die sich in den Irrsinn gerettet hatten. Köpfe schlugen rhythmisch auf Böden und gegen Gitterstäbe, Haare wurden ausgerissen, Zellengenossen bespuckt, geschlagen, getreten, gekratzt. Ein babylonisches Schrei- und Stöhngewirr hallte von den Wänden wieder. Auf Englisch, Französisch, Spanisch, Russisch und in den Klicklauten einiger afrikanischer Sprachen wurde geweint, gefleht, gedroht, nach Müttern gewimmert und, am unheimlichsten von allen, teilweise gelacht. Die Verdammten waren weiß, rot, gelb und schwarz: Alle Nationen, Rassen und Religionen vereint in einem toleranten, multikulturellen Schmelztiegel der Qual.
Ein braunhaariges Mädchen wiegte ein schwarzes Baby in den Armen und summte dabei die Sesamstraßenmelodie. Als ich genauer hinsah, bemerkte ich, dass sich die Lippen des Babys bereits über die Zähne zurückgezogen hatten und die Augenhöhlen tiefe Krater waren. Es verweste. Eine hellbraune Kakerlake kroch aus einem der dunklen Nasenlöcher. Ohne Hinzusehen nahm das Mädchen das Ungeziefer zwischen die Finger, steckte es sich in den Mund und begann mit unbewegtem Gesicht, zu kauen. „Wer nicht fragt lalala ...“
Vielleicht war dies die Hölle, und hinter der Tür vor mir mochte der Teufel auf mich warten. Sollte er. Es würde keine Verhandlungen geben. Ich wusste genug und hatte genug gesehen, und nichts hätte ich mir sehnlicher gewünscht, als behaupten zu können, dass ich genau so schlau wie vorher war. Nein, es gab nichts, was Mephisto mir hätte bieten können außer seinem Kopf auf einem silbernen Tablett. Wenn also hinter der Tür der Teufel auf mich wartete? Dann würde ich ihn bei den Hörnern packen, die Dinger rausreißen und ihm so tief in den Arsch schieben, dass er die Unendlichkeit mit Elfenbeinscheißen verbringen konnte.
Aber was ich betrat, war kein brennender Herrschaftssaal mit einem Thron aus Schädeln, der auf einem Teersee schwamm. Es war eine Art Überwachungsraum, mit einer Schaltanlage voller bunter, leuchtender Knöpfe, die mich an meine Nachtschichten im Krankenhaus während des Zivildienstes erinnerten. Auf den Bildschirmen konnte man verschiedene Ecken der Halle mit den Käfigen einsehen. In der Mitte stand ein Tisch, auf dem eine große Glaspfeife stand.
Einer der Bildschirme stand abseits der Überwachungsmonitore. Auf ihm flimmerte etwas, das dem Verständnis von Unterhaltung in der Welt, die ich hinter mir gelassen hatte, sehr nahe kam. Nein, nicht nahe kam. Es war das Gleiche. Offensichtlich war ich gerade in der Werbepause eingedrungen. Der ... Fernseher zeigte ein Wesen wie das, das ich getötet hatte. Es knabberte lustlos an einem panierten Kinderarm.
Ein zweites Monster kam hinzu.
„Was ist denn los?“
„Ach, ich weiß nicht, dieses Fleisch schmeckt fade, da macht das Grillen gar keinen Spaß.“
Das Andere tätschelte dem Essenden die Schulter: „Na ja, vielleicht hättest du lieber gleich Karax Kidfun kaufen sollen, den streng kontrollierten Fleischspaß aus biologischem Anbau, der bereits bei der Herstellung in einer feurigen Kolonkmarinade eingelegt wird und somit herrlich scharf gewürzt bereits in die Marktgruben kommt.“
„Du meinst, man kann es kaufen und ohne Nachzuwürzen grillen?“
„Oder braten, oder kochen, oder einfach roh auf eine Scheibe Serk legen, Mettmanns Fleischspaß ist für alles zu haben. Einfach aufreißen ...“,
Eine Tüte mit verschieden großen gehäuteten Leichenteilen wurde geöffnet,
„Zubereiten ...“,
zwei Unterschenkel mit Füßen wurden auf das Grillrost gelegt,
„Genießen und Fun haben!“
Voller Bewunderung schaute das andere Monster dem Besucher zu und sagte:
„Das ist ja Wahnsinn, ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll!“
„Na ja, ich würde sagen, der Flockwein geht heute auf dich!“
Beide warfen den Kopf zurück und lachten, während ein unsichtbarer Chor einen Jingle schmetterte: „Willst du Fleischspaß, da gibt es keine Qual der Wahl, hol dir Karax, denn da schmeckst du das Ori-gi-nal.“
Eine Batterie. Ein Rohstofflager. Ein Schlachthaus. Dieser Ort war-
Jemand betrat den Raum, ächzend und stöhnend, Klagelaute, mit denen er mich unfreiwillig gewarnt hatte. Ich sprang hinter die dem Fernseher zugewandte Couch, die mit einem Zeug bezogen war, auf dem ich stellenweise Muttermale und Finger- oder Fußnägel zu erkennen glaubte. Die Pistole steckte ich in den Hosenbund und umklammerte die Schere, so fest, dass meine Finger sich blassgelb verfärbten. Jetzt, wo nach all dem überwältigenden Schrecken der Gedanke an meinen Sohn und sein Schicksal wieder Platz zum Atmen in meinem Kopf gefunden hatte, wurde mein Rachedurst mit jeder Sekunde primitiver. Es wäre eine Sünde gewesen, diesen Kreaturen den sekundenschnellen Tod durch ein paar Kugeln zu gönnen.
Vorsichtig lugte ich um die Ecke der Couch. Das Ding, das darauf saß, spielte an seinem wie ein Kinder-Happy-Hippo Schokoriegel geformten Penis, und als es die Finger zurücknahm, zog sich ein grünes Sekret zwischen seiner verspielten Hand und seinem Geschlecht dahin wie der Käse auf einer Pizza. Es steckte die Finger in den Mund, lutschte kurz daran als wäre es ein Wassereis, spuckte etwas von dem grünen Zeug in den Raum und versicherte dem Nichts, dass es außer sich im Raum wähnte: „Puh, das war höchste Zeit.“ Es räusperte sich energisch, ohne die Hand vor den Mund zu nehmen, so dass sich ein Sprühregen von Tropfen auf dem Fußboden verteilte, die teilweise davon krabbelten, als sie auf den Boden plätscherten.
„Scheiß Werbung“, raunte das Monster. „Ich will den verdammten Einlauf sehen, verdamohHUH!“ Es sprang auf. Mein um die Ecke guckender Kopf hatte sich auf der Mattscheibe des Fernsehers gespiegelt.
Ich hatte die Überraschung auf meiner Seite und den Schock – schließlich war ich „eins von den Großen“. Und noch etwas führte dazu, dass unser kurzes Handgemenge damit endete, dass ich den Werbehasser bequem im Schwitzkasten hielt, so dass ich ihm bedächtig, als würde ich ein Schiffsmodell in einer Flasche zusammenbauen, die Schere ins Ohr stoßen konnte: Er war schwach. Obwohl so groß wie ich war sein Gegenangriff der eines Vierzehnjährigen. Während die Klinge in seinen Kopf drang, riss er verzweifelt an meinem Unterarm, der sich um seinen Hals gelegt hatte. Zuerst hatte er denke ich versucht zu schreien, wobei er seinem Hals aber nur einen krächzenden Hustlaut entlocken konnte. Dann, als er seine hoffnungslose Unterlegenheit bemerkt hatte, wimmerte er hoch und weinerlich.
Erst als die Klinge auf der anderen Seite seines Kopfes wieder heraustrat, schwieg er. Das Gefühl von Fingern, die verzweifelt über meine Unterarmmuskeln fuhren, in der Hoffnung, sie zu irritieren, zu überbelasten, zu lockern, hörte auf.
Genau so leicht wie die Klinge durch den Schädel gedrungen war konnte ich sie auch wieder herausziehen. Es blutete rosa auf den gefliesten Boden. Aus dem Augenwinkel sah ich jemanden weglaufen. Ich zog meine Pistole und rannte in Richtung der Bewegung, die ich auf dem Flur außerhalb dieses Überwachungsraumes hatte aufflackern sehen. Eins von den Dingern flüchtete vor mir. Lief um sein Leben. Ich schoss ihm in den Oberschenkel und den Arsch. Höher zielen hätte mich um die Antwort auf ein paar Fragen gebracht, die ich noch hatte.
„N ... Nein!“, schrie das Monster und riss die Arme vor den Kopf, so als hätte es mit dieser Geste die Kugel abwehren können wie einen Fußball.
„Was seid ihr?“, fragte ich.
„Andere“, antworte es, so selbstverständlich als hätte es mit „vier“ auf die Frage nach der Wurzel von sechzehn geantwortet.
„Was habt ihr mit dem Zirkus zu tun?“
„Mein Volk unternimmt bereits seit Jahrtausenden Reisen über alle Grenzen hinweg. Die, die du „Zirkus“ nennst, gehören zu den wenigen Eingeweihten deiner Welt. Die meisten von euch sind es nicht wert und würden es nicht verstehen, dass wir anders sind aber deshalb nicht gleich schlecht. Sie würden uns hassen. Ihr habt noch nicht einmal gelernt, die Andersartigkeit innerhalb eurer Selbst zu tolerieren. Ihr verhaltet euch zu uns wie ein Einzeller zu einem Bottack.“
Auch ohne Kenntnis der verwendeten Bioterminologie war es nicht schwer zu erraten, dass es sich bei dem letzten um eine Beleidigung gehandelt hatte.
„Und bei euren Reisen habt ihr irgendwann rausbekommen, dass ihr gerne kleine Kinder fresst, ja?“
Das Monster wand sich, zischte und peitschte dabei mit seiner Schlangenzunge: „Wassss hast du jetzt vor?“
„Ich töte dich. Und deine Brut. Egal wie viele. Egal wie lange es dauert.“
Es schrie: “Esst ihr keine anderen Lebewesen? Was würdest du sagen, wenn eine von diesen Arten beschließt, euch auszulöschen? Haben sie das Recht dazu? Haben sie? Eine Art, die die natürliche Ordnung der Dinge euch zum Untertan gemacht hat?“
Ich zielte auf sein Auge.
„Schön. Bring mich um. Und dann? Wie geht’s weiter? Tötest du uns alle? Eine ganze Welt? Mit dieser einen archaischen Waffe, die du da auf mich richtest?“
„Nein.“
Es atmete erleichtert aus.
Ich sagte: „Ich werde wiederkommen.“
„Und dann?“
„Bring ich mehr Munition mit.“
Für seine Antworten bekam er einen gnädigen Schuss. Das Auge platzte und aus dem Hinterkopf schoss eine Fontäne des rosa Blutes. Dann ging ich zurück in die Schaltzentrale und suchte nach dem Knopf, mit dem sich die Käfige öffnen ließen.
Sie krochen aus ihren Gefängnissen, stürmten auf mich zu und zerrissen mir beinah die Hose. Fast jedes Kind wollte sich an mich klammern, mich anfassen, mir Danke sagen (wobei die meisten nur grunzten wie Ferkel oder heulten wie getretene Welpen) oder auf meinen Arm genommen werden. Ein asiatisches Mädchen musste ich erschießen, weil seine gepeinigte Seele den Körper in eine unkontrollierte Beißmaschine verwandelt hatte, die mir mit den Zähnen ein golfballgroßes Stück Fleisch aus dem Unterschenkel riss und dann, nachdem ich sie bereits mehrere Male ins Gesicht getreten hatte, ständig zu neuen Attacken ansetzte. Es brach mir das Herz und ich schaffte es nicht, mir einzureden, dass ich gehandelt hatte wie ein Jäger, der einen tollwütigen Fuchs von seiner kranken Raserei erlöst. Ich schwor bei meinem mit größter Wahrscheinlichkeit als Mahlzeit geendeten Sohn, dass es das endgültig letzte Opfer dieses menschenverachtenden – wie hatte der Dierecktor es genannt? - Import/Export-Verhältnisses gewesen sein sollte.
Ich ging auf die Tür zu, die zurück in unsere Welt führte. Zumindest hoffte ich, dass sie das tun würde. Die Kinder stampften in meinem Rücken wie einst die Elefanten unter Hannibal. Aber in dieser Geschichte, Gott war mein Zeuge, würde kein Schnee, kein Eis und keine Gletscherspalte Rom den Arsch retten.
Mein verletztes Bein zog ich hinter mir her wie einen Schwanz. Ein Mädchen mit Augen, unergründlich wie Bergseen und viel zu groß für ihr scheues Gesicht, umklammerte mit ihrer Hand meinen Zeigefinger. Ich stoppte, sah zu ihr runter und nahm sie auf den Arm. Sie lächelte und kniff mir in die Nase.
„Magst du in den Zirkus gehen, Kleine?“
Das Lächeln erstarb auf der Stelle und sie schüttelte heftig den Kopf.
„Nein? Nein, ich eigentlich auch nicht. Ich hasse den scheiß Zirkus. Hast du Angst davor, hinzugehen?“
Nicken.
„Auch wenn ich dabei bin?“
Jetzt war ihr Gesicht geprägt von der Konzentration und Nachdenklichkeit einer Mathematikstudentin bei der Abschlussprüfung. Zaghaft aber unaufhaltsam kehrte das Lächeln auf ihre Lippen zurück.
Sie schüttelte den Kopf.
„Wäre ja auch noch schöner“, sagte ich und lächelte zurück.
Ich schlurfte weiter und auch mein Mob der Minderjährigen setzte sich wieder in Bewegung.
„Ich habe einen Freund beim Zirkus, weißt du.“
Lächeln.
Während ich die Treppe hoch schlurfte, sah ich den Dierecktor in seinem vollgeschissenen Hosenanzug vor mir. Der Gedanke an Fressen und Gefressen werden hatte mich auf eine tolle Idee gebracht.
„Ja Kleine, auch wenn wir’s nicht mögen, wir gehen in den Zirkus, und ich verspreche dir, wir werden eine Menge Spaß haben.
Wir gehen einen Löwen füttern.“