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- 08.07.2003
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Herbstwinde
Einsam geht sie den langen, breiten Kiesweg entlang, der sich hier am Flussufer weit erstreckt. Unter ihren Schuhen knacken die weißen und grauen Muscheln, die von dem trüben und kalten Wasser hier her gespült worden sind. Ihr blickt streift das Vorbeiziehen der Strömung, der Fluss liegt braun und düster vor ihr. Weit und breit sind keine Menschen zu sehen. Sie war schon öfters hier, damit sie einen klaren Kopf findet und sich frei machen kann von ihren alltäglichen Sorgen.
Sie geht weiter und sieht die Bäume, die jetzt allmählich anfangen ihre ersten Blätter zu verlieren. Noch vor nicht all zu langer Zeit schaute sie sich genau diesen Baum an. Damals hatte er gerade all die neuen grünen Blätter bekommen, ein neues Leben und nun ist alles wieder vorbei, die Zweige hängen stumpf hinab, gelbes Laub erstreckt sich über den gesamten, hoch gewachsenen Baum und mit jedem Windstoß fällt ein weiteres Blatt zu Boden. Gerade jetzt sieht sie ein kleines gelbes, kantiges Blatt sanft und leise auf den Boden zu schweben. Sie läuft hin und fängt das Blatt auf. Doch wovor möchte sie es eigentlich beschützen?
Mit dem Blatt in der Hand schlendert sie den langen Weg weiter in Richtung Norden. Der Wind peitscht ihr ins Gesicht und wirbelt ihr langes, braunes Haar umher. Einige lockige Strähnen legen sich auf ihre Stirn und verdecken halb ihre Sicht nach vorne. Doch sie stört sich nicht daran und geht einfach weiter. In Gedanken versunken starrt sie einfach in die Ferne. Ihr Blick streift das trübe Wasser, die schwarzen Bäume und den weißen Mond, der sich gerade genau über ihr befindet und ihren Weg ein wenig beleuchtet. Und in ihrer Hand liegt immer noch das kleine Blatt, an dem sie sich immer mehr festklammert.
Hier auf einem großen schweren Stein, der fast so groß ist wie ein Stuhl lässt sie sich nieder und versucht Ruhe zu finden. Endlich dem Chaos in ihrem Kopf zu entgehen. Sie schaut auf die kleinen Wellen und Strudel im Fluss und hofft dass sie das Rauschen des Wassers etwas beruhigt, sie auf andere Gedanken bringt. Doch jedes mal wenn sie sich auf das Braun des Wassers konzentriert kommen da wieder diese Bilder in den Kopf, Bilder vor denen sie einfach nicht fliehen kann. Sie zerren an ihrem Inneren, zerreißen sie, machen sie krank, verursachen einen dermaßen seelischen Schmerz, dass sie sich körperlich hin und her wiegt um dem Schmerz zu entgehen. Sie öffnet ihre Lippen und ihr Mund setzt an zu einem qualvollen Schrei, der aber im gleichen Moment erstickt, als sie dicke Tränen über ihre Wangen rollen spürt. Wie soll sie sich nur frei machen, von all diesen schrecklichen Erlebnissen? - Diese Frage stellt sie sich den ganzen Tag. Wann wird sie endlich vergessen können, was sie gesehen hat, was sie erlebt hat, was ihr widerfahren ist?
Plötzlich steht sie auf, legt das kleine Blatt auf die sanften Wogen des Flusses und geht heim.