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Herbsttag
Herbsttag
Ein sonniger Tag, Licht fiel durch die bunten Blätter der Kastanienbäume, sie schauten über das Wasser, dessen Ufer gesäumt war von Bäumen die noch bunter waren. Bei genauer Betrachtung fiel einem auf, dass diese Bäume in Farben strahlten, die zu beschreiben ein Ding der völligen Unmöglichkeit war, da jedes einzelne Blatt anders gefärbt war, der Baum im ganzen betrachtet, aber nur einen Farbton hatte, der zu den anderen Bäumen starke Kontraste zeigte. So ließ sich dieses Bild der vom Herbst gezeichneten Bäume in zwei verschiedenen Ebenen betrachten: Die Blätter der einzelnen Bäume und die einzelnen Bäume untereinander. Aber in diesem Moment achtete wohl kaum jemand von ihnen darauf.
Nur etwa fünf Stunden vorher hatten sie noch einen heftigen Streit. Warum, konnte im nachhinein keiner so genau sagen, es waren wiedereinmal Kleinigkeiten gewesen, mit denen beide unterschiedlich umgingen. Sie ließ seine Fehler meist durchgehen und versuchte sie zu ignorieren, bis sich alles anstaute und sie wegen einer „Kleinigkeit“ ausrastete. Er dagegen regte sich über alles auf, was sie falsch machte und brachte es, egal in welcher Situation sofort zur Sprache, weshalb sie an diesem Nachmittag besonders stritten. Sie regte sich darüber auf, dass er immer Zahnpasta am Waschbeckenrand kleben ließ und er, weil sie sich immer über „diese Kleinigkeiten“ aufregte.
Nun saßen sie also am Seeufer, sie blickte über das dunkelgrüne Wasser, über dem leichte Nebelschwaden hingen. Die Sonne ging langsam unter und warf orangenes Licht auf den leicht gewellten See. Es wurde kalt. Zum Glück hatte sie die ganze Zeit ihre Jacke an. Sie redeten nicht.
Ein kleines Motorboot rauschte vorbei und fuhr direkt durch den rotgelben Lichtstreifen. Rotgelb, so wie die Bäume, deren Farben nun nicht mehr zu erkennen waren. Es war zu dunkel geworden. Keiner sagte ein Wort.
Sein Kopf lag auf ihrer Schulter und sie hatte den Arm um ihn gelegt. Ihr Vater, der leidenschaftlich und beruflich Jäger war, hatte sie neulich eine altertümliche Pistole aus dem neunzehnten Jahrhundert von der Reparatur abholen lassen. Ein schweres Ding mit langem Lauf, eines der kostbarsten Stücke seiner Sammlung, über die er präzise Buch zu führen pflegte. Er hatte einmal ein Angebot von einem Museum bekommen, das ihm für ein seltenes Gewehr aus dem zweiten Weltkrieg eine Menge Geld anbot. Doch er lehnte dankend ab, in seinem Arbeitszimmer, dessen Wände aus Vitrinen voller Waffen bestanden, sei es besser aufgehoben. Seine Entspannung war es, in diesem Zimmer herumzuschreiten, von einem gläsernen Schrank zum anderen oder auch einmal eines der Stücke herauszunehmen und zu fantasieren, wer wohl damit geschossen hatte oder damit erschossen wurde.
Schweigend saßen sie da.
Weiter draußen fuhr noch mal ein Boot vorbei. Man konnte gerade noch eine kleine wehende Fahne erkennen, die am Bug befestigt war. Schwarz Rot Gold. Deutschland. Sie dachte an ihren Vater. Hätte er einen Krieg miterlebt, wäre er patriotisch für sein Vaterland gestorben. Fast wie die ehemalige Putzfrau, die ihre Mutter jahrelang beschäftigt hatte. Sie kam aus der Türkei. Vielleicht. Jedenfalls trug sie ein Kopftuch und das nicht nur, weil sie Putzfrau war. Irgendwelche Skinheads schlugen sie zusammen und ließen sie liegen. Am nächsten Morgen war sie tot. Erfroren oder verblutet, es hätte beides sein können, aber das wurde nicht mehr untersucht. Sie wurde dann auf einem jüdischen Friedhof beerdigt, weil kein katholischer oder evangelischer sie wollte und die Überführung in ihr Heimatland für die Familie zu teuer gewesen wäre. Ihre Mutter hatte jetzt eine andere Putzfrau, die war zwar teurer, aber deutsch. Hatte ihr Vater so gewollt.
Die Sonne war nun fast untergegangen. Nur noch ein winziger gelber Rand schaute über den Horizont, wie wenn sie sagen wollte: vergesst mich nicht, falls ich morgen doch nicht wieder komme.
Der Streit war irgendwie ausgeartet. Zuerst hatten sie nur diskutiert, dann geschrien und sich beschimpft. Aber sie warfen sich keine Dinge an den Kopf die sie nicht wirklich ernst meinten. Sie wollte diese Dinge sagen und sie meinten sie auch so. Der Unterschied war, dass sie sich im Affekt trauten, die Wahrheit zu sagen. Irgendwann lief er weg. An den See. Sie lief hinterher. Am See stritten sie weiter und er versuchte ruhiger zu werden, doch sie hörte nicht auf, ihn anzuschreien. Bis er sie schlug. Er schlug sie nicht wirklich, er wollte, dass sie zur Besinnung kam und er wusste nicht was er noch sagen sollte. Er schlug sie ins Gesicht und zuckte zurück, weil er sich vor sich selbst erschrocken hatte. Sie verstummte und sah ihn an. Er konnte diesen Blick nicht deuten und sah Tränen in ihren Augen und ihm fiel auf, dass diese schon die ganze Zeit da gewesen waren. Eine davon löste sich nun rann ihre Backe hinunter, die gerötet war, wo seine Hand hingetroffen hatte. Sie sah ihn nicht mehr an und schaute zu Boden. Es tat ihm ja leid. Irgendwo tat ihm alles leid und er versuchte sich ihr zu nähern. Sie spürte in ihrer Jackentasche etwas Kaltes und zog es hervor. Es war die polierte reparierte Pistole ihres Vaters. Sie hielt sie ihm entgegen. Sie funktioniert nicht, sie ist nicht geladen. Deshalb drückte sie ab. Ein lauter Knall ließ sie zusammenfahren und Blut strömte aus seinem Hals in und auf seine beige Wildlederjacke, die ihm ihr Vater geschenkt hatte. Sie wollte ihn festhalten, doch er fiel zu Boden. Sie setzte sich neben ihn und legte seinen Kopf auf ihre Schulter, mit dem linken Arm hielt sie ihn fest. Sie weinte nicht.