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Herbstmond

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07.10.2002
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Herbstmond

Der Tag hatte angefangen, wie jeder andere Tag auch und wie jeder Tag anfangen würde. Es gab schon lange keinen Grund mehr, sich auf einen neuen Tag zu freuen. Der Wecker riss sie immer um 6.30 Uhr aus dem Schlaf, sie ging immer zuerst in die Küche und stellte die Kaffeemaschine an, danach ging sie ins Badezimmer, putzte sich die Zähne, duschte, um sich dann, nach dem Schminken, anzuziehen. Die Schminke war ihr wichtig, so wichtig, wie Kleidung, ohne die man nicht nur physisch nackt und angreifbar war. Ihre erste Zigarette rauchte sie an jedem Morgen, bei der ersten Tasse Kaffee. Essen konnte sie morgens nichts, das hatte sie noch nie gekonnt, schon als Kind wollte man ihr das angewöhnen, doch als man bemerkte, dass ihr davon übel wurde, ließ man es. Manchmal stellte sie das Radio an, das auf ihrer Fensterbank stand, aber eben nur manchmal. Am liebsten war es ihr, wenn es still war um sie, wenn das Fenster geschlossen war und kein Lärm von außen zu ihr eindringen konnte. Die 20 Watt Birne war gerade Licht genug, sie mochte es lieber dunkel, deshalb mochte sie auch den Spätherbst, besonders dann, wenn es nicht mehr so richtig hell werden wollte und sie den Weg zur Arbeit im Dunkeln gehen konnte und auch am Abend wieder von der selben Dunkelheit empfangen wurde. Die Stunden dazwischen funktionierte sie, so wie sie eben funktionieren musste, saß in grellem Neonlicht an ihrem Schreibtisch und sehnte sich nach dem Abend, dem Weg durch die Dunkelheit. Diese Jahreszeit hatte nur Vorteile für sie, das Leben wurde gedämpfter, stiller. Die Fenster waren nun alle geschlossen, Musik, Gelächter, Gesprächsfetzen, schreiende Kinder, nichts drang mehr nach draußen, sie musste nicht mehr hören, wie all die anderen lebten. Es wurde kälter, sie konnte sich wieder in ihren Rollkragenpullovern verstecken, so wie sie es immer tat, den Rollkragen halb über’s Kinn gezogen, die Haare, so weit es ging, ins Gesicht fallend.

Es regnete an diesem Morgen, also zog sie die Kapuze ihrer Jacke über den Kopf. Das war gut, das war sehr gut. Mit gesenktem Kopf machte sie sich auf den Weg zur U-Bahn, sie würde den Kopf erst wieder erheben, wenn sie an ihrer Arbeitsstätte angelangt war. So war es immer, so würde es immer bleiben, es gab keinen Grund mehr, sich umzusehen, nach den anderen zu schauen. Eigentlich hatte es dafür auch nie einen Grund gegeben, die Blicke auf andere Menschen hatten ihr nichts eingebracht, meist hatte sie nur in ausgelebte und starre Gesichter gesehen, in trostlose Leere, die nichts mehr zu erzählen hatte. Jetzt konnte sie Straßenbeläge besser beschreiben, als Gesichter. Auch in der U-Bahn sah sie kaum auf, während sie stand, sie setzte sich nie, sie stand immer. Manchmal starrte sie aus dem Fenster, sah Kabelstränge in den Schächten vorbeifliegen, manchmal einen abgestellten U-Bahn-Zug auf einem totem Gleis und fühlte an Umsteigebahnhöfen die vorbeieilende Menge, die sich drückte und schob, an ihr vorbei, viel zu dicht. Jetzt waren sie wenigstens alle dick eingemummt, man konnte sie nicht mehr so intensiv riechen, sie hatten alle ihren eigenen Geruch, den sie nicht mochte. Früher hatte sie während der Fahrt immer noch eine Tageszeitung gelesen, sie hatte es aufgegeben, es gab nichts Neues, nichts, was wichtig für sie gewesen wäre. Und Bücher sagten ihr auch nichts mehr, das letzte Buch, das sie gelesen hatte war Calderón’s ‚Das Leben ist ein Traum’. Sie war froh, als sie es zur Seite legen konnte, es hatte sie angestrengt, dieses Buch zu lesen, irgendwann hatte sie während des Lesens nur noch geleiert, den Sinn kaum noch erfasst.

Ihre Arbeit machte sie sorgfältig, versuchte, nicht aufzufallen, war freundlich, galt als beliebt, weil nett und hilfsbereit. Man konnte sich ihr anvertrauen, das wusste man und tat es. Sie schluckte die Freuden und Leiden der anderen ohne je von sich erzählt zu haben, was niemanden störte, denn eigentlich wollten sie alle ja nichts hören, sie wollten nur erzählen. Was hätte sie auch erzählen können? Nichts. Ihr Leben war an ihr vorbeigeflogen, wie die Kabelstränge in den U-Bahn-Schächten, und die Zeit verging immer schneller, ein Tag, ein Monat, ein Jahr. Es war lange her, dass sie geliebt hatte, gelebt hatte, sich auf die Tage freute und auf die Nächte. Ausgeliebt, ausgeweint, ausgetrauert, ausgelebt, so fühlte sie sich. Auch dieser Tag verging und die lang ersehnte Dunkelheit schob die letzten hellen Fetzen am Himmel wie einen Vorhang zur Seite. Und wieder flogen die Kabelstränge an ihr vorbei, und wieder ging sie die feucht glänzenden Straßen entlang, vorbei an den Fenstern, die geschlossen waren, hinter denen man lebte, vielleicht lebte.

An diesem Abend legte sie eine Schallplatte auf, eine alte Schallplatte. Marianne Faithful sang ‚The Ballade of Lucy Jordan’, sie mochte dieses Lied, sie mochte diese Stimme, die vom Leben gezeichnet war und der man anhörte, dass sie ihre Unbeschwertheit schon lange verloren hatte. Und irgendwie war dieses Lied, ihr Lied, denn nichts würde sich ändern, nichts würde passieren und die Mittelmäßigkeit aus ihrem Leben pusten, wie eine Seifenblase.

Eisige Kälte umhüllte sie, als sie auf den Balkon ging und ihr war, als würde die Dunkelheit ihren Vorhang öffnen, der Herbstmond die Bühne beleuchten und sie mit tosendem Applaus empfangen.

 

Servus deja-vu !

Es ist kurz vor Mitternacht, sitze in einem warmen Shirt in Gesellschaft einer Tasse Kaffee am PC und kann von hier, aus dem Fenster auf die Straße sehen. Die Dunkelheit ist da, der Herbstmond und die Stille des Raumes, im Hintergrund leise Xavier Naidoo, er singt "Abschied nehmen" ein wunderschönes Lied das mich sehr berührt. Und dazu diese Geschichte - wow - wie maßgeschneidert in diesem Moment.
Vielleicht mit ein Grund, dass ich mich bereits in den ersten Zeilen darin verloren habe. Ich möchte dir ohne viele weitere Worte nur meine ehrliche Begeisterung mitteilen und die Wirkung noch ein wenig erhalten suchen.

Lieben Gruß - schnee.eule

 

Hallo schnee.eule!

Vielen Dank für deine Antwort auf meinen Beitrag. Dass meine Geschichte eine solche Stimmung bei dir erzeugen konnte freut mich sehr. Wenn ich nur einen von tausend Lesern so erreichen kann, dann ist das ein Grund für mich, weiterzuschreiben. :)

Lieben Gruß zurück ... Déjà-vu

 

bonjour tristesse! dein text macht traurig, aber es ist keine hoffnungslose traurigkeit. du schaffst den spagat, eine "zufriedene traurigkeit" darzustellen. die höhle im dunkeln, und die passende ruhe schaffen den rahmen dafür. schön gemacht! besonders gefallen mir folgende stellen:

Die 20 Watt Birne war gerade Licht genug,
- kann ich sehr gut nachempfinden. viel schöner, angenehmer (auf für die augen), wärmer als neonlicht

Jetzt konnte sie Straßenbeläge besser beschreiben, als Gesichter.
- das sagt mehr als tausend worte

. Sie schluckte die Freuden und Leiden der anderen ohne je von sich erzählt zu haben,
- sie schluckt und würgt fast daran

Ausgeliebt, ausgeweint, ausgetrauert, ausgelebt, so fühlte sie sich.
- sehr klar, eindeutig und traurig.

liebe grüße. ernst

 

Hallo Ernst Clemens!

Vielen Dank für deinen Beitrag und die Bemerkungen, die du zu verschiedenen Textabschnitten gemacht hast. Es freut mich natürlich sehr, dass ich eine weitere positive Kritik erhalten habe.

Lieben Gruß an dich ... Déjà-vu

 

Hallo Déjà-vu!

Wirklich eine schöne Kurzgeschichte. Sehr stimmungsvoll und angenehm ausführlich. Kann mich meinen Vorrednern eigentlich nur noch anschließen.

Eine Stelle ist mir aufgefallen:

nichts drang mehr nach draußen
Müsste es nicht "von draußen" bzw. "nach drinnen" heißen?

Viele Grüße - Michael :)

 

Hallo Michael!

Auch für deine Antwort möchte ich mich bedanken. Deine Frage ist nicht schlecht - ich bin ein bisschen ratlos. Ich habe das wohl deshalb so geschrieben, weil ich vermitteln wollte, dass die Protagonistin sich von der Außenwelt abgekapselt hat und somit von '(dr)außen' nichts mehr an sich heranlässt und die Geräusche, die sie nicht mehr hören kann und will, kommen ja von draußen. Hm ... ich muss mich da mal schlau machen. Es kann durchaus sein, dass es falsch formuliert ist.

Lieben Gruß ... Déjà-vu

 

Hallo nochmal!

Ich zitiere der Deutlichkeit wegen mal den ganzen Satz:

Die Fenster waren nun alle geschlossen, Musik, Gelächter, Gesprächsfetzen, schreiende Kinder, nichts drang mehr nach draußen.
Kennt man den Rest der Geschichte nicht, hat man den Eindruck, dass das Gelächter, die Gesprächsfetzen, etc. von drinnen kommen und eben jetzt nicht mehr draußen zu hören sind, verstehst du?

Aber mach dich ruhig mal schlau; ich verstehe zumindest, wie du den Satz gemeint hast.

Vorschlag: "...nichts drang mehr von draußen in ihr ein."

Grüße - Michael :)

 

Hallo Déjà-vu.

Es wurde eigentlich schon alles gesagt; Du hast eine wunderschöne, stimmungsvolle Geschichte geschrieben... Die gar nicht viele Worte braucht, um zu wirken... Kompliment! :thumbsup:

Griasle,
stephy

 

Hallo Michael!

So, nun hab ich's geändert ... ich hoffe, dass es jetzt korrekt formuliert ist. :)

Hallo Stephy!

Dankeschön für deine Antwort.

Euch beiden einen Gruß ... Déjà-vu

 

Hi DV( tschuldigung, dass ich deinen Namen abkürze, ich finde diese frz. Zeichen nie auf meiner Tast.)

eine traurige Person, deine Protagonisten. Du hast sie wirklich gut beschrieben. Deine Geschichte, erhöht meine Melancholie an diesem grauen Tag. Wenn eine Geschichte das schafft, ist sie für mich gut.

Wenn ich solche Geschichten wie diese lese, die solche Stimmungsbilder zeichnen, würde ich immer gerne noch mehr von den Protagonisten lesen. Wie verhalten sie sich im Umfeld von anderen Menschen, was ist in ihrer Vergangenheit passiert etc. Dies soll keine Kritik sein. Es ist nur mein Gedankengang. Ich meine, dann müsste man ja gleich einen Roman schreiben.


Dein letzter Satz hat mich nachdenklich gemacht. der Mond empfängt sie mit tosendem Beifall.
Ich muss darüber noch grübeln.

LG

Jan

 

Hallo Jan,

ich hoffe, ich darf dich so anreden? So richtig kenne ich mich mit den Gepflogenheiten hier noch nicht aus, aber ich tu's jetzt einfach mal, da du deine Kritik ja so unterzeichnet hast.

Ich habe mich sehr über deine Kritik gefreut und möchte dir ein bisschen helfen, den Schlußsatz zu verstehen. In der Geschichte wird ja ein spezieller Song erwähnt (The Ballade of Lucy Jordan), der mich, neben einer allgemeinen herbstlichen Stimmung, zu dieser Geschichte inspiriert hat. In diesem Lied wird von einer Frau erzählt, die keinen Sinn mehr im Leben sieht und in der Schlußzeile dementsprechend handelt, nämlich ihrem Leben ein Ende bereitet und sich in dieser letzten Sekunde vor großem Publikum sieht (so ungefähr habe ich den Text verstanden). Einen solchen Schluß wollte ich aber vermeiden und das Ende gewissermaßen offen lassen und da fiel mir dann einfach dieser letzte Satz ein.

Lieben Gruß zurück
Karin (das ist dann einfacher und ohne frz. Zeichen):)

 

Salut Déjà-vu,

ach, ich bin froh, dass ich diese Geschichte endlich gelesen habe. Ich wollte es gestern schon tun, Herbstmond hat für mich gleich nach Melancholie geklungen - aber ich hatte Angst, dass es mir nicht gefallen könnte. Hm. Also, ich habe mich ein wenig in deiner Protagonistin wiedererkannt. Nicht ein wenig, sehr stark sogar. Ganz so isoliert bin ich nun zwar nicht von meinen Mitmenschen, aber einige ihrer Handlungen (das sich-verstecken in dicken Sachen, ihr Empfinden auf von Menschenmassen überfüllten Bahnhöfen, die Vorliebe für Dunkelheit allgemein) sehe/empfinde/mache ich auch so. Hm, mir fallen keine langen Haare ins Gesicht... Ich würde die Protagonistin gerne kennenlernen - solche Typen von Menschen (von Frauen...) finde ich sehr faszinierend und möchte ihr Geheimnis ergründen. Ist denn am "Zustand" der Protagonistin nur das langweilige eintönige Leben schuld? Oder ist noch mehr passiert, das ihre Abkapselung ausgelöst hat?

Eine wundervolle Geschichte von der ich noch viel viel mehr lesen wollen würde. Den von PeterPan angesprochenen Roman würde ich sofort kaufen.

Liebe Grüße,
Mario

 

Hallo Déjà-vu,
zunächst habe ich "Herbstmond" versucht online zu lesen, doch das war mir zu anstrengend und da mich der erste Absatz Deiner Geschichte bereits in Bann zog, habe ich sie ausgedruckt und es mir, zusammen mit einer Tasse Kaffee, Kerzenlicht und "Conferrin with the moon" von William Ackerman, gemütlich geamcht.
Eine tolle Geschichte. Du hast die Traurigkeit der Protagonistin wundervoll eingefangen.
Als sie "The Ballade of Lucy Jordan" auflegte bedrückte mich die Vorstellung was weiter passieren würde.
Ich dachte: "Lass sie nicht springen!". Der Schluss Deiner Geschichte gefällt mir sehr. Eigentlich ist klar wie es weiter geht, doch da Du es nicht beschrieben hast bleibt ein kleiner Funke Hoffnung.

Die Geschichte könnte viele Fortsetzungen haben, vielleicht diese:
("... und irgendwie hatte sie das Gefühl als würde sie der Herbstmond, dick und rund, anlächeln und sie lächelte zurück.
Nachdem sie an disem Abend tief und fest eingeschlafen war kniff der Herbstmond einmal ganz kurz ein Auge zu und schaute zu einem anderen Balkon.")

Karin, eine tolle Geschichte. Ich hoffe es gibt noch viel von Dir hier zu lesen.

Liebe Grüße,
Jürgen

 

Hallo Deja Vu,
ich habe lange gesucht, ein, zwei Worte zu finden, diese wunderbare Geschichte zusammen zu fassen. (Ich mache das einfach gerne für den Eindruck, der bleibt).Beim dritten Mal lesen und mit den Zeilen des Schlusses, ist es mir eingefallen: zufriedene Traurigkeit.
Er überträgt sich sehr viel beim Lesen, einfach toll!
Viele Grüße wondering

 

Hallo Wondering,

könnte man auch sagen "glückliche Melancholie"?

Gruß,
Mario

 

Hallo Mario, Jürgen und wondering!

Tja, nun sitze ich fast ein bisschen erschlagen hier, denn mit soviel positiver Kritik hatte ich nicht mehr gerechnet. Ihr habt mir eine sehr große Freude damit gemacht - dankeschön dafür. Jetzt wird's natürlich schwierig, bei meinem nächsten 'Werk' nicht einzubrechen. Andererseits hätte ich keinen größeren Motivationsschub erhalten können. Meinen Rollkragen über die Nase gezogen, werde ich mein Bestes versuchen.

Liebe Grüße
Karin :)

 

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