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Herbstfarben
Es war ein schöner Spätherbstnachmittag. Die Sonne schien von einem strahlendblauen Himmel und ließ die Bäume des Stadtwaldes in sämtlichen Gelb-, Rot-, Orange- und Brauntönen leuchten. Außer mir waren noch viele andere Menschen an diesem Nachmittag im Stadtpark unterwegs, engumschlungene Pärchen, Mütter mit Kinderwagen, alte Leute mit ihren Hunden. Alle schienen sie, bevor der Winter sich endgültig anmeldete, die letzten warmen Sonnenstrahlen und dieses farbliche Naturschauspiel noch einmal genießen zu wollen. Ich nahm jedoch nichts wahr von all den Schönheiten. Ich hörte weder die lachenden Kinderstimmen, noch bemerkte ich, wie die Eichhörnchen fröhlich von Baum zu Baum hüpften. Ich bewegte mich einfach nur mechanisch vorwärts und hielt meinen Blick starr nach unten gerichtet. Das einzige, was ich vor meinen Augen sah, war dieses eine Wort, das seit ungefähr zwei Stunden mit scharlachroten Buchstaben in meinem Gehirn eingebrannt war – Brustkrebs. Diese endgültige, alles verändernde Diagnose. Noch immer klang die Stimme meiner Frauenärztin in meinen Ohren, wie sie mit sorgfältig ausgewählten Worten versucht hatte, mir das Ergebnis der Gewebeprobeuntersuchung so schonend wie möglich beizubringen.
„Es tut mir so leid, Frau Herzog, aber die Untersuchung hat leider ergeben, dass die Geschwulst bösartig ist, sie müssen sich so schnell wie möglich operieren lassen.“
Dabei hatte alles ganz harmlos angefangen. Ich hatte vor ungefähr drei Wochen beim Duschen einen Knoten in meiner rechten Brust entdeckt und mir zunächst nicht viele Gedanken darüber gemacht. Schließlich war ich doch erst siebenundzwanzig und auch Alex, mein Mann, hatte versucht, mich zu beruhigen. „Mach dir mal keine Sorgen Steffi“, hatte er gesagt, „das ist bestimmt nur eine harmlose Gewebeablagerung.“ Und trotzdem hatte mir die Sache keine Ruhe gelassen. Um mir Gewissheit zu verschaffen, hatte ich mir einen Termin bei meiner Frauenärztin besorgt. Dort waren dann die notwendigen Routineuntersuchungen wie Mammografie, Ultraschall und schließlich die Gewebeprobeentnahme erfolgt. Auf das Ergebnis musste ich eine Woche warten und immer noch war ich eigentlich ziemlich sicher gewesen, dass es bestimmt nur eine Lappalie war. Warum sollte es ausgerechnet mich erwischt haben. In meiner ganzen Familie hatte noch niemand diese Krankheit gehabt. Ich hatte auch gar nicht die Zeit, mir so furchtbar viel den Kopf darüber zu zerbrechen, da meine zwei kleinen Söhne mich ständig auf Trapp hielten. Umso niederschmetternder war deshalb am Vormittag die Diagnose gewesen.
Wie sollte es nun weitergehen? Würde ich mich mit nur einer Brust noch als Frau fühlen können? Wäre ich überhaupt noch attraktiv genug für Alex? Was wäre, wenn es schon zu spät gewesen war und mein Körper bereits voller Metastasen? Was würde dann aus meinen Kindern werden, sie waren doch erst fünf und sieben Jahre alt und brauchten ihre Mutter noch eine lange Zeit. Tausend Fragen stürzten auf mich ein und verlangten nach einer Antwort.
Ich setzte mich auf eine Bank und ließ meinen Gefühlen freien Lauf. Endlich konnte ich weinen. Tränenbäche liefen mir die Wangen hinunter und immer wieder schluchzte ich verzweifelt auf.
Plötzlich spürte ich jemanden neben mir. Eine Hand begann zärtlich über meine langen blonden Haare zu streicheln. Zaghaft wandte ich mich nach rechts und erkannte durch den Tränenschleier schemenhaft eine Person, die mir nun ein Taschentuch reichte. Ich nahm das Tuch, wischte mir über die Augen und erblickte eine alte Frau mit silbernen Kringellöckchen und grau-blauen Augen, die mich mitleidsvoll anschaute.
„Aber aber, Kindchen, was kann denn so schlimm sein, dass du an einem so schönen sonnigen Tag solche Tränenströme vergießt?“, fragte sie und entlockte mir ein zaghaftes Lächeln.
Ich wusste auch nicht warum, aber ich fasste vom ersten Augenblick an Vertrauen zu dieser fremden Frau und redete mir all meinen Kummer von der Seele. Dabei wurde mir mit jedem Satz ein bisschen leichter zumute. Sie war ein wunderbarer Zuhörer und unterbrach mich nicht ein einziges Mal.
„Glaubst du an Gott, mein Kind?“, fragte sie mich schließlich.
„Äh, ich weiß nicht, in die Kirche gehe ich jedenfalls nicht“, antwortete ich, „und an einen alten Mann mit weißem Bart, der irgendwo über den Wolken auf einem Thron sitzt und über Gut und Böse richtet, glaube ich auch nicht.“
„Das ist auch nicht Gott“, fuhr sie fort, „Gott ist die unendliche Kraft in deinem Unterbewusstsein, mit der du alles erreichen kannst, was du dir nur wünschst und mit der du jede Krankheit heilen kannst. Du musst diese Kraft nur zu nützen wissen, dann stehen dir im Leben alle Türen offen.“ Ich wurde neugierig.
„Und wie mache ich das?“
„Indem du alles Destruktive und Negative aus deinem Geist verbannst. Lass nur positive Gedanken zu. Wie der Mensch denkt, so ist er.“
„Aber wie soll ich denn in meiner Situation nur positiv denken?“, wollte ich wissen.
„Du musst einfach ganz fest davon überzeugt sein, dass du gesund wirst. Stell dir so oft du kannst vor, wie dein Arzt zu dir sagt: ´Herzlichen Glückwunsch, Sie sind wieder vollkommen gesund´. Du musst dich ganz und gar mit dieser Vorstellung identifizieren, fühle den Händedruck des Arztes, und spüre das Glücksgefühl, das dieser Satz in dir auslösen wird. Wenn du dies immer wiederholst und fest daran glaubst, wirst du die Krankheit überwinden. Die positive Aussage wird in dein Unterbewusstsein absinken und die Kraft in dir wird alles dafür tun, damit dein Wunsch erfüllt wird. Hier, mein Kind, nimm das, es wird dir Glück bringen.“ Sie legte etwas in meine Hand und hielt diese für einen kurzen Augenblick mit den ihren umschlossen. Ich spürte die Wärme ihrer Haut und gleichzeitig kühles Metall, das meine Handinnenfläche berührte. Als sie mich wieder los ließ, öffnete ich meine Faust und erschauderte, da lag ein wunderschöner Ring, dessen Steine im Sonnenlicht funkelten – es war der Verlobungsring meiner Großmutter. Ich wusste es sofort, noch bevor ich ihn zwischen Daumen und Zeigefinger nahm und nach dem eingravierten Namen meines Großvaters und dem Verlobungsdatum suchte.
„Wie kommen Sie zu dem Ring meiner Großmu...“, begann ich, doch der Platz neben mir war leer, die alte Dame war verschwunden. Ich stand auf, schaute nach rechts und links, doch sie war wie vom Erdboden verschluckt und so ließ ich mich wieder auf der Bank nieder.
Meine Großmutter war seit über zehn Jahren tot und hatte mir das Schmuckstück vererbt. Vor ungefähr drei Jahren jedoch, hatte ich es auf unerklärliche Weise verloren, und es war auch nie wieder aufgetaucht. Ich war damals sehr traurig gewesen, da ich immer ein besonders inniges Verhältnis zu meiner Großmutter gehabt und sehr an dem Ring gehangen hatte. Auf einmal wusste ich, warum mir die alte Dame so vertraut vorgekommen war. Diese Augen hatten schon hunderte Male lächelnd auf mich herabgeblickt, und wie oft hatten diese Hände mich schon zärtlich gestreichelt. Ein friedvolles Gefühl durchströmte mich, und ich wusste nun, dass ich die Kraft haben würde, den Krebs zu besiegen und wieder gesund zu werden. Lächelnd steckte ich den Ring an meinen Finger und machte mich auf den Heimweg.
Ich spürte, die warmen Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht und die bunten Herbstfarben der Laubbäume leuchteten bis tief in mein Herz.