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Herbstdepression
Ich habe den November noch nie gemocht. Schon als Kind war der Herbst die Jahreszeit, die ich am meisten hasste. Der Nebel kriecht in alle Ecken, manchmal scheint es so, als mache er auch nicht vor den Fenstern meiner Wohnung halt. Schummrig und grau beginnt jeder Tag, der Hals ist rauh von der trockenen Heizungsluft und beim Freikratzen der Autoscheiben verliere ich das Gefühl in meinen Fingerspitzen.
Früher hat mich Sybille im Herbst immer verwöhnt und darauf geachtet, etwas Fröhlichkeit in den Novemberalltag zu bringen. Aber dieses Jahr nicht mehr. Jetzt macht sie es sich mit meinem Geld in meinem Elternhaus vor dem Kamin gemütlich, während ich dank ihres Anwalts in meiner Zweizimmerwohnung trüben Gedanken nachhänge.
"Herbstdepressionen" nennt das mein Therapeut, bei dem ich auch heute wieder einen Termin habe. Er hat mir empfohlen, mehr Farbe in mein Leben zu bringen. Besonders gut seien Rottöne. Und während er seine Therapiemethoden weiter erläutert, bin ich in Gedanken bei Sybille:
Sie liegt auf der weißen Couch, diesem furchtbar unpraktischen Designerstück, das ich damals für sie kaufen musste und liest. Natürlich etwas Anspruchsloses. Ich betrachte ihr Gesicht, das natürlich wie immer perfekt geschminkt ist. Diese Frau ist schon mit Make-Up auf die Welt gekommen. Sie zieht die Auenbrauen hoch und öffnet leicht ihre knalloten Lippen. Das macht sie immer, wenn es spannend wird in ihren Groschenromanen.
Dank mir wird sie diesmal nicht erfahren, wie die Geschichte endet. Mit dem Messer in der Hand trete ich von hinten an sie heran. Als ich ihr mit einer einzigen, schnellen Bewegung die Kehle aufschlitze, spritzt ihr Blut nicht nur auf die Couch, sondern verteilt sich wundervoll über Möbelstücke, Teppich und Wand. Ich lasse Sybille liegen, das Papier des Romans saugt sich voll mit ihrem Lebenssaft. Einige Tropfen beginnen damit, die Wand hinabzulaufen. Ihre Bahnen erinnern mich an den Regen, der noch vor wenigen Tagen mein Wohnzimmerfenster entlangperlte und mir eine willkommene Abwechslung war zum Grau des Nebels. Nur sind diese Tropfen rot. Ob das ein guter Therapieansatz wäre?
Das Räuspern meines Therapeuten lässt mich in die Wirklichkeit zurückkehren. Fragend sieht er mich an. In meinem Gedächtnis versuche ich zu ergründen, was er wohl zuletzt gesagt haben mag. Schließlich gebe ich es auf.
"Ich könnte mir ja ein paar rote Sofakissen kaufen."
"Herr Weiler, haben Sie mir in der letzten Viertelstunde überhaupt zugehört?"
Am liebsten würde ich ihm sein selbstgefälliges Grinsen aus dem Gesicht schlagen. Stattdessen schüttle ich nur betreten den Kopf.
"Herr Weiler, so geht das nicht weiter. Einen derartig schweren Fall hatte ich schon lange nicht mehr. Ihren Angaben nach leiden Sie ja schon seit Ihrer Kindheit an diesen jahreszeitbedingten Stimmungsschwankungen. Wollen wir es nicht doch mit einer Hypnosetherapie versuchen? Ich bin mir sicher, dass eine Erfahrung aus ihrer Kindheit oder sogar aus einem früheren Leben für ihre Depressionen verantwortlich ist."
Ich verkrampfe mich leicht, ziehe mich weiter in den weichen Sessel zurück, in dem ich Woche für Woche Platz nehme. Darauf also will er hinaus. Der Gedanke daran, jemandem unter Hypnose hilflos ausgeliefert zu sein schafft es tatsächlich, meine Stimmung noch weiter zu verschlechtern. Eine Stimme, die unmöglich meine eigene sein kann, murmelt: "Na gut. Wenn Sie meinen, dass es hilft."
Eine halbe Stunde später löst sich die Welt, wie ich sie kannte, auf.
Die Kälte kriecht langsam in meine Stiefel, während ich die Atemstöße meines Pferdes betrachte, die sich als weiße Wolken in der Novemberluft abzeichnen. Das Schwert an meiner Seite ist blutverkrustet, meine Knochen sind müde von der letzten Schlacht und der Flucht. Warum musste sich mir dieser Offizier auch in den Weg stellen?
Bis heute hatte es mir eigentlich ganz gut in gefallen in Gallien. Als Söldner im Dienste Roms konnte ich meinen Vorlieben nachgehen, ohne gleich schief angesehen oder gar als sadistischer Verbrecher beschimpft zu werden. Der Feldzug brachte zwar auch viele Entbehrungen mit sich, doch damit konnte ich leben, solange es für mich genug zu Töten gab.
Außerdem hatte ich Menschen kennengelernt, die mein Hobby zu teilen schienen: Gerne erinnere ich mich an den Tag, als ich das erste Mal die Schreie aus den Zelten der mitgereisten Priester des relativ neuen, christlichen Glaubens hörte. Die Bekehrung der Stammespriester zum "wahren Glauben" war genau nach meinem Geschmack und bald verband mich eine enge Freundschaft mit Bruder Titus, der mir die Verwendung der raffinierten Folterinstrumente näher brachte.
Alles war perfekt, bis vor drei Tagen. Der neue Kommandant war der Ansicht, dass einige Gefangene seinem Triumphzug in Rom interessanter gestalten würden. Aber ich mache keine Gefangenen. Und niemand sollte so dumm sein, sich zwischen mich und meine Beute zu stellen. Nun war der Offizier tot und ich auf der Flucht vor meinen ehemaligen Kampfgefährten, die meinen Kopf für eine Belohnung wollten.
Der Klang der Hufschläge meines Pferdes verändert sich. Langsam finde ich zurück in die Gegenwart und stelle fest, dass ich mich auf einer steinernen Brücke befinde. Nasses Laub bedeckt den Boden und vom Fluss her ziehen dichte Nebelschwaden herauf. Ich ziehe meinen roten Mantel etwas enger um meine Schultern. Ich hasse den November.
Am Ende der Brücke kann ich eine Gestalt entdecken. Auf einen Stab gestützt humpelt ein Bettler den Straßenrand entlang. Ich kann dieses Pack nicht ausstehen. Als ich auf gleicher Höhe mit ihm bin, wagt dieses Subjekt es tatsächlich, mich am Stiefel zu berühren und um Almosen zu bitten. Angewidert sehe ich auf seine dreckverkrusteten Hände hinab. An der rechten felt ihm ein Fingernagel, ich kann das rote Fleisch sehen, er muss ihn sich erst vor Kurzem ausgerissen haben. Ein Blick in sein Gesicht entlockt mir ein Lächeln. Seine Augen sind so trüb wie der Nebel, der Mistkerl kann nicht einmal sehen, wen er da angesprochen hat.
Ich beschließe, barmherzig zu sein und ihn von seinem Leiden zu erlösen. Während ich mein Schwert aus der Scheide ziehe, brammelt der Alte unverständlich vor sich hin. Mit einem gekonnten Schlag will ich ihm den Kopf abtrennen, da geht der Trottel plötzlich in die Knie, so dass ich ihm stattdessen die Schädeldecke wegsprenge und seine Hirnmasse sich mit dem Blättermatsch am Boden vermischt. Ich steige ab und schleppe den nun verstummten Bettler zurück zur Brücke, wo ich ihn absetze und mit dem Rücken an das steinerne Geländer lehne.
Wie er so vor mir sitzt mit offenem Schädel kommt mir eine Idee. Mit dem Schwert schneide ich ein Stück meines roten Mantels ab und stopfe es dahin, wo früher einmal das Hirn des Alten saß. Soll er doch wenigstens noch ein wenig als Lichtquelle dienen, dann hatte sein erbärmliches Dasein wenigstens einen Sinn. Das Feuer zu entfachen ist eine meiner leichtesten Übungen. Und schließlich beginnen auch die trüben Augen wieder zu leuchten.
Nur schwer kann ich mich abwenden von dieser heimeligen Szene, doch ich muss weiter. Vielleicht kann ich im nächsten Kloster einen Unterschlupf für die Nacht finden. Wenn ich ihnen erzähle, dass ich mit einem Bettler meinen Mantel geteilt habe und bei der Missionierung der Heiden behilflich war, werden mich die Mönche sicher freundlich aufnehmen. Und wer weiß, vielleicht ist die Kirche ja der richtige Platz für mich, den Söldner Martinus.
Als ich wieder zu mir finde, stelle ich fest, dass ich nicht mehr im Sessel sitze. Um mich herum herrscht Chaos, Patientenakten liegen überall auf dem Boden und die Scherben einer Vase knirschen unter meinen Schuhen. Ich blicke auf das Feuerzeug in meiner Hand und gleichzeitig spüre ich die Wärme in meinem Rücken. Als ich mich umdrehe, erkenne ich meinen Therapeuten nur an seinen Schuhen wieder.
Der Rest von ihm brennt bereits lichterloh, das schmelzende Platik des Bürostuhls, auf dem er sitzt, stinkt erbärmlich. Aus seinem Hals ragt der Brieföffner, den er immer auf dem Schreibtisch liegen hatte. Ich stecke das Feuerzeug in meine Hosentasche und verlasse mit einem Lächeln auf dem Gesicht die Praxis. Auf der Straße empfängt mich die kalte Novemberluft wie einen alten Freund. Ob imir dieses Mal wohl die gleiche Anerkennung entgegengebracht wird wie 356 nach Christus in Gallien?
Ich schlendere die Straßen entlang und als ich auf eine Gruppe Kinder treffe, die in Gedenken an mich an diesem Novembertag durch die Straßen laufen, kann ich nicht anders, als in ihre fröhlichen Lieder einzustimmen: "Brenne auf mein Licht, brenne auf mein Licht, aber nur meine liebe Laterne nicht."