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Herbst
Sie schnappte ihre Schlüssel vom Schlüsselbrett und verließ die Wohnung. Die Haustür schlug hinter ihr zu und Evelyn stand endlich im Freien. Sie schloss die Augen und atmete die frische Herbstluft ein, eine kühle Brise strich ihr um die Nase und zerzauste ihre roten Locken. Vergeblich versuchte sie, sie zu bändigen. Sie zog den Mantel enger um ihren Körper und nach einem Blick auf ihre Armbanduhr, stapfte sie los. Sie hatte noch fünfzehn Minuten, bis sie Francis in ihrem Lieblingscafé treffen wollte. Evelyn stöpselte sich ihre Kopfhörer in die Ohren und schon war die Welt von Musik erfüllt, Bob Dylans Stimme begleitete sie auf dem Weg zu „Eleanor's“, die Akkorde im Einklang mit den fallenden Blättern. Eine Böe ergriff einen Haufen roter und gelber Blätter und wirbelte sie in die Luft, bevor sie langsam wieder zu Boden schwebten. Ihre Gedanken schweiften ab und wanderten nach London. Wenn sie Glück hatte, könnte sie übernächstes Semester dort verbringen. Jeden Morgen würde sie sich auf dem Weg zur Uni einen Kaffee in einem schnuckeligen Café holen, abends im Hyde Park joggen gehen und zweimal die Woche einen Yoga-Kurs besuchen. Sie würde in einer WG wohnen – so hätte sie direkt Kontakte – und von ihrem Zimmer aus könnte sie den Big Ben sehen. Ihre Träumereien wurden von einer Kastanie, welche knapp neben ihr herunterfiel, unterbrochen und sie wurde in die Realität zurückgeholt. Gut, sollte sie das Stipendium an der University of London wirklich bekommen, sähe ihr Alltag wohl doch etwas anders aus, aber auch davon würde sie sich die Vorfreude nicht verderben lassen. Gegenüber des Cafés, in welchem sie mit Francis verabredet war, befand sich ein Antiquariat. Wie viel Zeit hatte sie noch? Sieben vor fünf. Francis war sowieso immer spät dran, also konnte sie sich getrost noch kurz umsehen, beschloss sie. Evelyn drückte gegen die Ladentür. Nichts tat sich. Ob es geschlossen war? Nein, drinnen befanden sich doch Leute. Ah, ein Mann hatte sie bemerkt. Er kam zur Tür gelaufen, drückte dagegen und schwungvoll öffnete sie sich. „Von außen müssen sie ziehen, junge Dame.“ Evelyn lief rot an und bedankte sich hastig. Der Mann hatte schlohweiße Haare und einen weißen Bart, er trug eine braune Cordhose, dazu ein kariertes Holzfällerhemd, das halb in der Hose steckte. Er lächelte sie freundlich an. „Schauen sie sich doch einfach um,, wenn sie Fragen haben, oder etwas bestimmtes suchen, ich bin hier vorne. Mein Name ist Charles.“ Er hielt ihr seine Hand entgegen. „Evelyn.“, antwortete sie völlig überrumpelt. „Freut mich, Sie kennenzulernen, Evelyn.“ Und schon war er wieder weg und hinter den Bücherregalen verschwunden. Nun hatte sie Zeit, ihre Umgebung genauer zu betrachten. Überall stapelten sich Bücher, die keinen Platz mehr in den bis zur Decke reichenden Regalen gefunden hatten und im ganzen Laden verteilt befanden sich große, schwere Sessel, deren Stoff von den unzähligen Hintern, die sich im Laufe der Zeit auf ihnen niedergelassen hatte, verschlissen war. Sie ging ein paar Schritte nach vorne und sog den Geruch der vergangenen Zeiten ein. Alte Bücher hatten in ihren Augen etwas Besonderes, etwas Magisches an sich. Sie liebte es, sich vorzustellen, was dieses Buch schon erlebt hatte, eine Geschichte für die Geschichte. So besaß sie zum Beispiel ein Buch, das einmal Marlene Dietrich gehört hatte, bevor sie nach Amerika gezogen war, und wenn sie traurig war, hatte sie sich damit auf ihr Bett gesetzt und war eine andere Welt eingetaucht. Oder ein anderes, welches schon als Urlaubslektüre in der Karibik und auf Key West war. Plötzlich musste sie niesen. Von irgendwoher kam ein dumpfes „Gesundheit!“ Da hatte sie wohl etwas Feenstaub in der Nase gekitzelt, dachte Evelyn und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Sie trat zu einem der Bücherregale, an dem ein handgeschriebener Zettel mit der Aufschrift Märchen klebte. Jedes Kind hatte früher einmal Märchen vorgelesen bekommen, doch bei ihr hatte die Begeisterung für diese Erzählungen nach dem Kleinkindalter nicht nachgelassen und noch immer konnte sie damit wunderbar entspannen. Sie überflog einen Titel nach dem anderen und auf einmal hielt sie inne und zog eines der Bücher heraus. Es war in rotes Leinen gebunden und der Titel war in goldenen Buchstaben darauf geprägt. Fasziniert fuhr sie diese mit den Fingerspitzen nach. Nachdem Evelyn eine Weile durch die Seiten des Buches geblättert hatte, klemmte sie es sich unter den Arm und begab sich zur Kasse, wo Charles sie mit einem Lächeln bedachte. „Ich sehe, Sie haben etwas gefunden? Das ging ja schnell.“ Sie nickte schüchtern. „Ich habe leider keine Zeit mehr. Aber ich werde auf jeden Fall wiederkommen.“ „Das ist aber schön. Diese alten Bücher strahlen etwas ganz Besonderes aus, nicht wahr?“ Evelyn und stimmte ihm zu. Wie Recht er nur hat, dachte sie. Sie kramte ihr Portemonnaie hervor, legte einen Zehn-Euro-Schein auf den Tresen und bevor er ihr das Wechselgeld geben konnte, nahm sie das Buch, verabschiedete sich und wünschte dem netten, alten Herrn noch einen schönen Tag.
Evelyn überquerte die Straße und betrat das Café. Francis saß bereits an einem Tisch, winkte ihr zu und als sie sich näherte, erhob er sich, um sie zu begrüßen. „Hey Prinzessin.“ Er schlang seine Arme um sie und hob sie ein paar Zentimeter in die Luft. „Du hast mir echt gefehlt.“, murmelte er in ihre Haare. „Du mir auch, Ted.“ Sie hatte ein Faible für Spitznamen, jeder ihrer Freunde bekam früher oder später einen verpasst, das war einfach persönlicher, fand sie.
Sie bestellte eine heiße Schokolade mit viel Sahne und Schokostreuseln oben drauf – bei „Eleanor's“ gab es die beste – und Francis orderte einen Milchkaffee. Dann fingen sie an zu reden. Francis war den letzten Monat immer unterwegs gewesen, und war er einmal kurz zuhause gewesen, hatte Evelyn keine Zeit gehabt. Jetzt, als alles aus ihr heraussprudelte, merkte sie, wie sehr sie ihren bester Freund vermisst hatte.
Drei Stunden vergingen, während sich draußen die Sonne verabschiedete und der Himmel sein dunkelblaues Nachthemd anzog. Mit einem *Pling* gingen die Straßenlaternen an und eine aufgescheuchte Fledermaus flatterte am Fenster vorbei. „Ich will noch nicht gehen.“, seufzte Francis und verschränkte die Arme. Evelyn nickte bestätigend, doch dann breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. „Komm doch einfach noch mit zu mir. Tom ist bei seiner Freundin und Gabrielle ist in Spanien, du könntest also auf der Couch schlafen.“ „Wirklich? Das wäre echt cool.“ Enthusiastisch sprang sie auf. „Klar! Los, los, los!“ Francis legte rasch das Geld auf den Tisch, bevor auch er sich erhob. Sie wuschelte durch seine braunen Haare, was er mit einem Grummeln quittierte. Er sah gut aus, das konnte sie nicht leugnen, mit seinen olivgrünen Augen, die von langen, dunklen Wimpern umrahmt wurden, der gebräunten Haut, den geschwungenen Lippen und den harten Gesichtszügen, die ihn trotzdem männlich wirken ließen. Seine italienischen Wurzeln ließen sich nicht verleugnen. „Du bist heiß!“, meinte sie mit einer gespielt rauchigen Stimme. Mit einem frechen Grinsen erwiderte er: „Du auch.“ Ein Blick reichte aus und beide fingen herzhaft an, zu lachen.
Sie bestellten Pizza. Während sie warteten, zog Evelyn sich um, tauschte die Jeans gegen die Jogginghose, die Bluse gegen ihren Lieblingspullover. Sie hatte ihn vorletztes Weihnachten von ihrer Mutter geschenkt bekommen und er war aus cremefarbenem Kaschmir gefertigt. Sie zog die Ärmel über die Handflächen und huschte ins Wohnzimmer, wo sie zwei Decken aus einer Kiste zog und auf die Couch warf. Francis war noch unter der Dusche. Dann zündete sie einige Teelichter und eine Duftkerze an, sie liebte es, wenn sich der Geruch nach Zimt und Kürbis in den der Wohnung verteilte und so eine gemütliche Atmosphäre schaffte. Ein Klingeln ließ Evelyn hochschrecken. Ihre Pizza war da. Sie bezahlte und trug die beiden Kartons in die Küche. Die Kälte der Fliesen ließ ihre Füße in Eisklötze verwandeln, sie wackelte ein bisschen mit den rot lackierten Zehen, bis sie etwas weiches am Kopf traf. „Zieh die an. Nicht, dass du dich noch erkältest.“ Francis hatte ihr ein Paar gestreifte Kuschelsocken zugeworfen und stand nun mit Jogginghose und T-Shirt in der Tür, die Haare, noch feucht vom Duschen, hingen ihm in die Stirn. Dankbar lächelte Evelyn ihn an. „Danke, Ted. Deine Pizza ist übrigens fertig.“ Im Wohnzimmer nahm sie eine Schallplatte von Carla Bruni heraus und legte sie auf den Plattenspieler. Langsam begann sie sich zu drehen, die Nadel fuhr die Rille entlang, Runde um Runde und weiche Klänge erfüllten das Zimmer. Als sie sich umdrehte, stand Francis direkt vor ihr und hielt ihr seine Hand hin. Sie reichte ihm ihre. „Schenkst du mir diesen Tanz?“, fragte er und zwinkerte ihr zu. Er drehte sie im Kreis und langsam schwebten durch den Raum. Sie tanzten eng, doch es war nichts Erotisches dabei. Nachdem das Lied zu Ende war, ließen sie einander los und machten es sich auf dem Sofa bequem, wo sie ihre Pizzen verschlangen.
Nur das stündliche Schlagen des Glockenturms verriet, wie viel Zeit ins Land gegangen war. Evelyn hatte ihren Kopf auf Francis' Brust gebettet, das gleichmäßige Schlagen seines Herzens als Schlaflied. Er strich ihr zärtlich durch die Haare, die Augen halb geschlossen. Jegliches Zeitgefühl war verloren gegangen, doch die Musik hatte schon lange aufgehört. Eine leere Flasche Rotwein stand auf dem Tisch. Die Kerzen waren niedergebrannt. Vor dem Fenster war das Brummen eines Autos zu hören, und Scheinwerfer erleuchteten kurz den Raum. Es muss gegen vier Uhr gewesen sein, als sie ins Land der Träume drifteten.