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Herbst
Hatte sie Recht? Die Tage wurden kürzer und das fast goldene Laub fiel in einem nahezu zeitlosen Tempo zu Boden. Der Wind beförderte es immer wieder in die Luft, als würde es im stetigen Kampf, mit festem Willen versuchen, nicht, wirklich nicht, auf den kalten und feuchten Boden zu fallen. Wusste das Blatt dass es dort nass werden würde? Viel zu schwer um wieder zu fliegen oder gar in die Baumkrone zurückzukommen?
Der Kaffee wurde kalt und je mehr Blätter ich fallen sah, desto mehr drängte es in mir:
Hatte sie Recht?
Zeit, so sagte schon mein Vater, ist das wichtigste Gut was du hast. Denn die Welt war wie ein Zug. Nie hörte sie sich auf zu drehen, alles ging voran ohne einen Blick nach hinten zu schauen. Alles ging voran, ohne Erbarmen wälzte die Walze der Zeit die Menschen und ein Moment Luft, war wie ein Jahr. Eine Minute der Pause war wie ein Jahrzehnt, ein Jahrzehnt der Zeit die nie zurückgewonnen werden konnte.
Schlussendlich aber war es diese eine Frau die mir die Zeit zum Feind machte.
„Und? Wann bist du dran?“
„Womit?“ fragte ich.
Sie verdrehte ihre Augen und ließ den Kopf zum Desinfektionsmittelspender gleiten.
„Mit dem Treppenhaus putzen!“
Meine Augenbrauen schienen fast die Decke zu berühren, als sie mit lauter Stimme sagte:
„Du Depp! Natürlich mit dem sterben, dem Ende, dem Übergang in die endlose Leere!“
Wie versteinert sah ich in ihre kalten Augen. Ihre Haare erinnerten mich an den größeren Garten des letzten Krankenhauses. Die fast schon schwarzen, tief dunkelgrünen Bäume hatten auch diesen silbernen Schleier, einen Schleier gesponnen von tausenden Spinnen, die alles Leben im Wald ausgesaugt hatten. Ich konnte kaum glauben was ich sah, öffnete oft nachts das Fenster und hörte die Stille, die Leere, den Tod.
Das Zimmer war kalt. Meine Stimme begann zu zittern als ich sie fragte: „ Glaubst du wirklich dass es dann vorbei ist? A-Alles? Sind wir nur ein Staubkorn, zermahlt von der Zeit, die erbarmungslos das Leben, die Geschichte der einzelnen Schicksale, in einen kalten dreckigen Grabstein verwandelt?“
Sie begann zu strahlen. Ihre dünnen, trockenen Lippen formten ein diabolisches Lächeln, ein Lächeln das mir einen kalten Schauer über den Rücken laufen ließ.
Hatte sie Recht?
Wenn Vater Luna seinen Glanz ausbreitet und die Vielzahl an Punkten, zusammen mit dem Neonlicht des Krankenhauses den Orbit erhellt, dann spiegelt die Nacht mein Leben, meinen Aufenthalt im Zimmer aber auch mein Ende.
Ungebremst, schon fast im Rausch viel mir nur mein linkes Auge zu. Es ist geblendet von all den Lichtern die wie Nadelstiche meinen Kopf durchlöchern. Mein rechtes Auge fokussiert stets den kleinen Finken, ich taufte ihn Charlie. Sein Farbenkleid strahlt die letzte Hoffnung in das öde Zimmer. Wie von Geisterhand flog er nie näher als 10 Meter an das Fenster des Krankenhauses, welches die Natur, wie eine ätzende Betonwand abzuhalten schien. Er war das Leben, ein Leben in Freiheit, Gleichgültigkeit mit der Zeit, das mir fehlte.
Als die alte Dame weggetragen wurde, stand in mir die Frage stärker als je zuvor. Ich hatte Angst dass sie es noch sehen konnte, geschrieben durch die verstörten Adern auf meiner Stirn: Hatte sie Recht?
Der Knall an der Fensterscheibe weckte mich Sekunden später. Ich sah Charlie tief in sein geplatztes Auge und die Zeit flog an mir vorbei, das Leben zeigte sich in einer kurz erlebten Pracht, einer Pracht dessen Glanz in Sternenstaub, Schimmer im erträumten Diamanten-Regen, nie hätte schöner sein können. Der Funke Hoffnung, ein Funke, ein Riss, eine Schwäche der Ketten wurde frei und die Gewalt des Guten entfaltet sich in einem Meisterwerk der Welt. Eins, vollendet im Urzustand sprengte er die Banden der Kessel und die Luft der Freiheit in einem Glanz der Sterne, getragen durch Flügel dessen Kristallene Schwingen das Licht der Welt in göttlichen Farben spiegelten, wurde zu einem noch nie da gewesenen Glück.