Herbst
Weiße Wände, fahle Haut. Stundenlanges Warten, kalte Knochen. Goldener Herbst. Schwere Lider und ruhende Welt. Gedankliche Leere, starre Glieder, pulsierendes Blut. Wut klingt ab, wenn Verzweiflung siegt. Antrieb entweicht wie Wärme aus toter Haut. Die Wirklichkeit schlägt härter zu als Wahnsinn. Ob Wahnsinn oder Wirklichkeit spielt nur solange eine Rolle, wie die Lichter an sind. Im Dunkeln sind wir alle gleich. Lass die Lichter aus. Im Dunkeln sieht die Schuld nicht schuldig aus. Ich hätte sie retten können. Stattdessen habe ich sie umgebracht. Dämmerung tritt ein. Sonne durchkreuzt Bequemlichkeit. Ein Blick auf den weißen Körper. In den ersten Sonnenstrahlen schimmert rot wie Gold. Schon vor Stunden berührten die Lippen rau und blau vor Kälte zum letzten Mal die leblose Haut. Die Augen zum Schlaf geschlossen in Erwartung eines neuen Tages. Letzter Herbsttag, ab morgen beginnt der Winter. Schlechter Tag für eine Trennung. Es ist ein Tag für das genießen der letzten Wärme. Tag für rote Wangen. Tag für zerzauste Haare. Ich muss warten. Wie kann ich sie heute verlassen, es wär nicht richtig. Gewissen gegen Wissen. Ich weiß sie würde es auch so sehen. Ich kenne sie ein Leben lang, ihr Leben lang. Sie sieht es anders. Hat nie die Verbindung gesehen. Hat beschworen, mich damals nicht gekannt zu haben. Naivität kann Dummheit nicht bedecken. Sie war beides. Möglicherweise sah ich vor Jahren nicht aus, wie ich jetzt aussehe, ich bin kräftiger geworden, stärker, vielleicht auch schlauer. Doch meine bloße Existenz zu leugnen, ist nicht nur Blindheit, es ist Egoismus. Geschlossene Augen verbergen nichts. Hinter Adern, Blut und Haut. Hinter Angst und Leben steht nicht die Frage nach Sinn sondern Sinnlosigkeit. Unsere Beziehung war zum Scheitern verurteilt. Jahreszeit der Pärchen steht bevor. Jahreszeit der dunklen Straßen. Dunkle Menschen schmücken sich mit Glanz und Gloria. Rot und Gold. Funkelnden Augen. Sehnsucht nach Schönheit. Verlangen nach Vergessenem. Herz drängt an Herz. Erinnerung an vergangene Jahre. Mit ihr. Vergänglichkeit ist keine Schande, es ist Privileg. Schwere im Kopf, durchflutet von Müdigkeit. Die anfängliche Anspannung, das lodern des Adrenalin, das brennen des Zorns hat sich verflüchtigt. Zurückgelassen in einem Haufen aus Asche kann Ich endlich gedeihen. Der Tag vergeht. Menschen ziehen am Fenster vorbei. Neugierde ist tot. Sie wusste es erst als ich vor ihr stand. Sie konnte es nicht mehr verdrängen. Dunkle Schatten, dreckige Gardinen, schäbiges Leben. Wir waren Kinder. Wir waren Gewinner ohne Gewinn. Wir gehörten zusammen. Ignoranz schützt nicht vor Bestimmung. Hätte sie ein Schicksal, so wär es nun meins. Ich habe sie bestohlen. Und wenn sie mich morgen für immer weg sperren, mich packen, mich in ihre scheußliche Kluft stecken, mich in ein dunkles Loch werfen, auf das ich nie wieder das Tageslicht sehe, wird dies keinen Unterschied mehr machen. Mein Tag. Meine Freiheit. Alles was ich wollte. Mein Leben ist ohne sie wertlos. Ich kann nicht mehr Ich sein ohne sie. Wundervolle Gedanken. Nie wieder Ich sein zu müssen. Mehr als Ich sein zu können. Mehr als sie. Mehr als Mensch. Ich werde unabhängig sein. Ich werde Götter küssen. Meinen Stuhl über die Sterne Gottes erhöhen. Dabei war Überheblichkeit immer ihr Problem nicht meins. Überheblichkeit ist Selbstverständnis. Selbstverständnis ist Illusion. Untrennbar wir zwei. Meine Hybris ist ihr Untergang. Schmerz in den Beinen vom langen kauern. Ich weiß, wie sie sich ihr Ende vorgestellt hat, mehr oder weniger gewünscht hat. Nicht Alter, nicht Vollendung, sondern Unwissenheit. Ein Blinzeln, ein blitzen. Tod. Und Ich habe sie um diese letzte Würde gebracht. Auge in Auge. Verwirrung weicht Gewissheit. Das Funkeln der Rubine beinahe nebensächlich. Wie dicke Tropfen fallen sie zu Boden. Leises Bersten, laute Schande. Um ihren letzten Wunsch habe ich sie gebracht, habe ihre Ehre genommen, habe ihren Stolz genommen. Habe mich ihr entnommen, mit dem Wissen, dass mit ihr mein Leben steht und fällt. Mein letzter Tag mit ihr. Meine Zukunft, unsere Vergangenheit. Die letzten Strahlen des Morgensterns. Sie kann sich halten, ich werde fallen. Maden werden mein Bett sein und Würmer meine Decke. Die letzten Strahlen des Morgensterns erleuchten ihre leblosen Wangen, bevor ich die Tür hinter mir schließe.