Herbst
Im Herbst Roller zu fahren war eine Qual. Der Wind war eisig kalt, er drang durch ihren Mantel und durch ihre Handschuhe, betäubte ihre Finger, die sich starr um den Lenker krallten. Schneidend spürte sie die Kälte sogar durch das Visir ihres Helmes, und ihre Augen tränten. Die Straße war nass durch die graue, dicke Nebelschicht, die schon seit dem Morgen zwischen den Hügeln hing wie eine schwere Decke. Sie hatte das Gefühl, vom nasskalten Nebel erdrückt zu werden. Die hohen Bäume, die die Straße auf ihrer rechten und linken Seite säumten, verloren langsam ihre Blätter, sie lagen auf der Straße, scheinbar nur, um ihr das Fahren zu erschweren. In den Kurven musste sie höllisch aufpassen, damit die Reifen ihres Rollers nicht wegrutschten. Vor Kälte und Unbehagen zog sie die Schultern hoch. Sie fühlte sich wie ein Tier, das stumm und ohne Fragen zu stellen seinen Instinkten nachging. Wie betäubt wandelte sie von einem Termin zum nächsten, dachte nicht nach. Dieser Ort machte sie krank, krank und depressiv. Sie konnte sich nicht daran erinnern, schoneinmal so eine tiefe Abneigung gegen einen Ort verspürt zu haben. Krähen kreischten und flogen dicht über die Straße, der Nebel hing schwer zwischen den Bäumen. Und als sie so durch den Wald fuhr, wurde ihr plötzlich bewusst, dass die Bäume starben. Sie hasste den Herbst.
Die Stadt war fast menschenleer. Kein Wunder, dachte sie, als sie ihren Roller abschloss. Bei diesem Wetter scheuchte man ja auch keinen Hund vor die Türe. Sie verstaute den Schlüssel in ihrer Handtasche und lief ein paar Meter von ihrem Roller weg, als sie plötzlich merkte, dass sie überhaupt keine Ahnung hatte, in welche Richtung sie gehen musste. Konnte das wahr sein? Sie wohnte schon drei Jahre hier, immerhin, und hatte keinen blassen Schimmer wo in dieser verdammten Stadt sich die Post befand? Das war doch absurd!
Um den anderen, wenn auch wenigen, Menschen in der Stadt nicht durch ihre fehlende Orientierung aufzufallen, entschloss sie sich dazu, einfach weiterzulaufen. Mit gesenktem Kopf trottete sie die Fußgängerzone entlang, ihr Mantel schwer vom nassen Nebel, ihre Hände tief in den Taschen vergraben. Was zur Hölle machte sie hier? Sie lief bei dem schlimmsten Wetter, das sie sich vorstellen konnte, ohne Plan in einer Stadt umher, die sie verabscheute, mit versandsfertigen Bewerbungsunterlagen in der Tasche für einen Job, der sie sowieso nicht interessierte und der ihr nie im Leben Spaß machen könnte. Wer wollte schon einfache Bankangestellte bei der Sparkasse werden? Etwas spießigeres, langweiligeres und schlimmeres konnte sie sich nicht vorstellen. Sie hätte wegziehen sollen, als es noch nicht zu spät dazu gewesen war.
Vor drei Jahren war sie in diese Stadt gekommen, um ihrer Mutter beim Sterben zuzusehen. Damals war sie, eine frisch gebackene Studienabgängerin, voll von Hoffnung und Tatendrang, hierher gezogen, um ihrer Mutter den letzten Wunsch zu erfüllen, den sie hatte: nicht alleine, ganz ohne Angehörige, sterben zu müssen. Der Tod ihrer Mutter hatte länger auf sich warten lassen, als anfangs angenommen. Je mehr Zeit sie damit verbrachte, ihrer Mutter zuzusehen, wie sie langsam an Demenz zu Grunde ging, desto mehr schwanden all ihre Hoffnungen und Träume. Als ihre Mutter schließlich starb, einfach einschlief und die Augen nichtmehr öffnete, war aus ihr ein Mensch ohne Ziel geworden, ohne Perspektive. Sie wollte weg, doch wohin? Es gab niemandem, zu dem sie ziehen wollte, keine Stadt, die sie reizte. Es schien so, als ob mit dem Tod ihrer Mutter auch etwas in ihr gestorben war.
Sie hob den Kopf und bemerkte, dass die Straßen voller geworden waren. Menschen in grauen Mänteln liefen hastig über die Straße, den Kragen nach oben geschlagen und die Kapuzen weit ins Gesicht gezogen. Keiner sah den anderen an, alle liefen mit starrem Blick durch die Stadt, nur um sich und ihre Erledigungen bemüht. Sie blieb stehen. Eine ältere Dame mit grauen, krausen Haaren und gesenktem Blick eilte an ihr vorbei, eine junge Mutter schob mit hochgezogenen Schultern und vor Kälte ganz verzerrtem Gesicht einen schwarzen Kinderwagen, ein Mann mit Aktenkoffer knurrte leise in sein Handy, mit finsterem Blick quetschte er sich an der Frau mit Kinderwagen vorbei. Dicht an ihr rannte ein junger Typ vorbei, mit grauer Kappe und durchnässtem Pullover. Und plötzlich, inmitten der ganzen Menschen, fing sie den Blick eines jungen Mannes auf, der auf der anderen Straßenseite stand. Erschrocken und beschämt zugleich wandte sie den Blick ab, wollte weitergehen, als sie eine Hand auf ihrer Schulter spürte.
"Entschuldigen Sie, kann ich ihnen irgendwie behilflich sein? Sie sahen gerade... Naja, etwas verloren aus."
Sein freundliches Lächeln überwältigte sie. Seine haselnussbraunen Augen hinter der schwarz umrahmten Brille raubten ihr für kurze Zeit den Atem. Seine wundervoll warme, sanfte Stimme hallte in ihrem Kopf wieder. "Ähm...-"
"Oh, tut mir leid, ich wollte sie nicht erschrecken!". Wieder dieses Lächeln. Mit einer eleganten Handbewegung strich er seine brauenen Haaren aus dem Gesicht, die ihm frech über die Stirn bis zu den buschigen Augenbrauen reichten. Sie taumelte einen Schritt zurück.
"Nein, nein, kein Problem, ich... Ich war nur in Gedanken versunken, wissen Sie." verlegen lächelte sie. "Ich bin auf der Suche nach der Post."
Erst jetzt nahm sie seine Statur wahr. Er war groß gebaut, schlank, anmutig. Sein dunkelgrüner Mantel und der gelbe Schal ließen ihn noch größer wirken. Er strahlte eine unglaubliche Eleganz aus.
"Die Post? Da sind Sie hier schon ganz richtig." Er wandte seinen Blick von ihr ab und deutete die Straße hinab. "Gleich die erste links, dann sehen Sie die Post schon." Vorsichtig rückte er die Brille zurecht und räusperte sich. "Ich hoffe ich konnte ihnen behilflich sein."
Zutiefst beeindruckt vom Auftreten des Fremden bedankte sie sich überschwänglich und lief die Straße hinunter, dorthin, wohin der Fremde gewiesen hatte. Als sie sich sicher war, dass er sie nichtmehr sehen konnte, drehte sie um und lief in die Richtung zurück, aus der sie gekommen war. Sie dachte garnichtmehr daran, ihre Bewerbungsunterlagen abzuschicken.
Der Nebel hatte angefangen, sich zu lichten. Als sie auf ihrem Roller saß und nach Hause fuhr, spitzen Sonnenstrahlen hinter den Wolken hervor. Plötzlich kam ihr der Wald, durch den sie fuhr, nichtmehr grau und bedrückend vor. Der Herbst war schön. Sie nahm die Farben wahr, das goldene Gelb, das frische Grün, das Rot, das Braun, sie sah den herbstlichen Wald vor sich, von der Sonne angeschienen, das goldene Licht, in das alles in der Nachmittagssonne getaucht wurde. Und obwohl es immernoch eisig kalt war frohr sie nicht, denn die Wärme in ihrem Herzen war übermächtig. Die Bäume starben nicht, sie legten nur ihr Gewand ab, um sich schlafen zu legen und im nächsten Frühling ein noch viel schöneres anzuziehen. Sie dachte an Heimat.