Herbert Schmidt
Er legt die Waffe wieder in die Schreibtischschublade zurück. Im Licht des Büros glänzt seine Stirn. Ein dünner Schweißfilm hat sich gebildet. Er setzt sich auf den ergonomischen Bürostuhl und betrachtet das halbvolle Glas auf dem Schreibtisch. Es ist mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit gefüllt. Daneben steht eine leere Flasche. Er hat das Etikett der Flasche in seiner Aufregung komplett abgerieben. Die Papierfetzen liegen vor seinen Füßen auf dem Boden. Er hat noch den Schießpulvergeruch in der Nase. Seine Hand fühlt sich durch den heftigen Rückstoß wie verstaucht an. Herbert Schmidt ist Callcenter-Agent und das schon seit über zehn Jahren. Zehn Jahre hat er sich nichts zu Schulden kommen lassen. Zehn Jahre ein treuer und unauffälliger Mitarbeiter. Bis zu diesem Tag. Er greift nach dem Glas, hält es sich an den Mund und leert es in einem einzigen Zug. Er hustet. Wischt sich mit dem Handrücken den Mund ab. Er bekommt nichts vom Geschmack des teuren Whiskeys mit.
Sein glasiger Blick wandert unstet durch das Bürozimmer. Er hat dieses Büro nur ein paar mal in den zehn Jahren, die er hier schon arbeitet, betreten. Es ist in seiner Schlichtheit schick. Edler Teppich in beige. Ein brauner Holztisch. Neben dem 24 Zoll iMac stehen in schlichten Metallrahmen Bilder von der Frau und den beiden Töchtern und auch das Konterfei des Chefs ist dazwischen. Hübsche Gesichter, die freudestrahlend in die Kamera schauen. Er spürt, wie ihm übel wird. Eine eiserne Schlingel legt sich um seine Kehle und schnürt diese zu. Er fegt die Bilder, den Applecomputer, den Stapel Aktenordner, die durchgestylte Schreibtischlampe, den „Big Boss“-Kaffeebecher, das leere Glas, die leere Flasche, die Tastatur und die beiden aus Mahagoniholz geschnitzten Meerjungfrauenstatuen mit einer einzigen Handbewegung vom Schreibtisch. Krachend fällt alles zu Boden. Er brüllt, er brüllt so laut, dass es nur so von den Wänden widerhallt. Es war alles eine verdammte Lüge! ALLES! Sein gesamtes Leben eine einzige Lüge. Die Heirat mit Helene, das kleine Haus, das sie sich gekauft haben, der kleine Garten vor dem Haus, in dem er immer, wenn er dazu kam, arbeitete. Die Nächte, die er mit Helene verbracht hatte. Die Liebe. Die Treue. Der Sex. Das Geschirr. Das Sofa. Selbst der beschissene Orientteppich, den sie für viel Geld bei Ebay ersteigert haben und der sich dummerweise als ein Imitat herausgestellt hat. Sie hatten ihn von einem „Kenner“ überprüfen lassen.
„Da hat man sie aber mächtig über's Ohr gehauen!“, hatte der Jusuf Mohammed gesagt und in seiner Stimme schwangen Spott und gespieltes Mitleid mit. „Da hat man sie aber mächtig über's Ohr gehauen!“, die Worte klingen in Herberts Ohren nach. Rotieren wie ein Karussell in seinem Kopf. DA HAT MAN SIE ABER MÄCHTIG ÜBER'S OHR GEHAUEN, HERR SCHMIDT!!! Ja, das hatte man. Er fühlt sich in seinem ganzen Leben mächtig über's Ohr gehauen. Alles Lug und Trug. „MAN HAT SIE GANZ SCHÖN VERARSCHT, HERR SCHMIDT!“, er brüllt es in das hundertzwanzig Quadratmeter große Büro. Erspringt auf und der Bürostuhl fällt hinter ihm zu Boden.
Die Putzfrau, eine gutaussehende Frau in den Fünfzigern, hatte noch zwei Stunden zuvor sämtliche Büroräume auf Hochglanz geputzt. Schmidt hatte sie heimlich von seinem Platz aus begehrt, während sie sich elegant durch die Büronischen bewegte - alle anderen Mitarbeiter waren bereits ins Wochenende verschwunden, und nur er saß noch an seinem Platz und starrte ihr auf Arsch und Titten. Nirgends ein Makel. Frau Müller ist sehr genau, auch in ihrem Auftreten, in allem!
Die perfekten Gesichter in den Rahmen scheinen ihn zu verhöhnen. Selbst dort vom Boden aus. Sie wirken auf Herrn Schmidt wie aus einem Katalog für Designermode. Er legt einen seiner ramponierten Slipper an die Kante des Schreibtischs und wuchtet das 100 kg schwere Ding in einem einzigen Fußstoß um. Das Büro erbebt, als der Schreibtisch auf den Boden kracht. Er keucht wegen der Anstrengung. Der Monitor zerbirst unter dem Gewicht des Schreibtischs in tausend Stücke. Die Teile fliegen durch den Raum wie Granatsplitter. Der schief abgelaufene Absatz seines Schuhs trifft mit aller Wucht eines der Bilder. Ulrich und seine Frau, zwischen ihnen die identisch aussehenden Gesichter der Kinder. Scherben segeln durch die Luft. Er brüllt vor seelischem Schmerz und Enttäuschung. Er ist kurz davor, in in die Mitarbeitertoilette zurück zu gehen und auf die Leiche von Herrn Klaas einzuschlagen. Er würde ihn gerne nochmal umbringen. Er würde ihn gerne in Stücke reißen. Heiße Tränen laufen ihn über die Wangen und tropfen auf sein schweißnasses Hemd.
Mit angewidertem Blick betrachtet Herbert das Chaos auf dem Fußboden. Wo war nun der Perfektionismus?
Er schaut durch die riesige Fensterfront auf die Lichter der Stadt hinab. Von dort aus wo er steht, kann er die ganze Stadt überblicken. Das Büro liegt im obersten Stockwerk eines riesigen Bürokomplexes. Er mag das Büro. Die Ausstattung. Die Farben. Schmidt stellt sich vor eines der Fenster, die ihn weit überragen. Die Nacht hat sich über die Stadt wie eine schwarze Decke gelegt. Kein Sterne am Himmel, nur ein träger Mond von Wolken umrahmt.
Die vorbeihuschenden Lichter von Autos. Die Fenster sind so dick, dass kein Geräusch von draußen hinein dringt. Die Hochhäuser am Horizont wirken wie riesige beleuchtete Grabsteine. Er lebt schon sein ganzes Leben in dieser Stadt, hat sie lieben und respektieren gelernt. Er ist wie die Stadt, alt und an vielen Teilen zerbrochen, aber auch mit schönen Ecken. Es ist eine Stadt, die sicher ihre Fehler hat, aber auch dafür sorgt, dass man sich in ihr Wohlfühlen kann. Ja, er fühlt sich wie die Stadt. Er weiß, er wird hier sterben, so wie er hier geboren wurde. Nein, er würde diese Stadt nicht lebend verlassen. Er sieht keinen Weg mehr aus dieser Scheiße raus.
„Ja, was denn, bitte?“, Herr Klaas schaute von seinem Monitor hoch. Er sah den Mann an, als hätte er ihn zwar schon mal gesehen, aber als könnte er ihn im ersten Moment nicht direkt einordnen. Ulrich Klaas passierte es auch auf der Straße, oder wenn er am Wochenende über den Markt schlenderte und frisches Obst und Gemüse für sich und seine Familie einkaufte, und er einen Nachbarn traf, der ihm zunickte. Meist konnte er diese Menschen nicht direkt einordnen, erst Minuten später ging ihm auf, woher er das Gesicht kannte. In einer ähnlichen Situation befand sich Ulrich Klaas nun, als er dem schlecht gekleideten Mann in die Augen blickte. Er hatte ihn schon mal gesehen. Nur wo? Der Mann hatte gerötete Augen, trug einen dunkelblauen, stark zerknitterten Anzug, ein weißes Hemd mit Kaffeefleck knapp unterhalb der Brust. Das Haar des Mannes erinnerte Ulrich an die Asche seines toten Vaters. Er hatte die Asche in seiner Hand betrachtet, bevor sie vom Wind ergriffen aufs Meer geweht wurde. Er hatte ihr nachgeschaut, bis er sie nicht mehr sehen konnte. Seine Frau hatte ihm einen Arm um die Schulter gelegt. Sie hatte ihn angesehen und gelächelt. Sie hatte nicht verborgen, wie sehr der Tod ihres Schwiegervaters auch sie mitnahm. Sie war dann nach ein paar Minuten nach unten gegangen, damit er noch eine Weile alleine trauern konnte. Der Wind wirbelte Ulrichs Haar durcheinander. Fegte ihm die warmen Tränen vom Gesicht. Er hatte sich an die Reling seines Segelbootes geklammert, die Knöchel weiß vor Anstrengung. Und als er an das Testament seines Vaters denken musste, war es mit der Trauer vorbei. Er war zu seiner Frau nach unten gestiegen und sie zeugten zwei wunderschöne Zwillinge.
„Was gibt es denn, Herr...?“, fragte Ulrich den Mann in der Tür.
„Schmidt.“, antwortet er und starrte seinem Chef in die Augen und wusste, dass dieser ihn nicht wiedererkannte.
„Bitte?“, Klass schaute abwechselnd auf den Monitor und zu Herrn Schmidt rüber.
„Schmidt, mein Name.“
„Ja, natürlich, Schmidt.“, Ulrich klickte zweimal mit der Maus auf den Bildschirm, dann sagte er: „Was kann ich denn für sie tun, Herr Schmidt?“, er wirkte ungeduldig. Herr Schmidt raubte ihm wertvolle Lebenszeit. Schmidt spürte Wut in sich aufbrodeln. Was bildete sich dieser Wichser eigentlich ein? Für wen hielt er sich?
Schmidt tat einen Schritt auf Herrn Klass zu, ohne ein Wort zu sagen. Klaas ließ die Maus endlich los.
„Herr Schmidt, was genau kann ich denn nun für sie tun?“, er unterdrückte ein Zittern in der Stimme.
Klaas kniff die Augen zusammen. Schmidt schaute sich im Büro um, er mochte die Atmosphäre hier. Kein Vergleich zu den kleinen Zellen, in denen er und seine Kollegen täglich arbeiteten. Wie in Bienenwaben, nur enger und schlechter duftend. Täglich drehte er Kunden irgendeine Scheiße an, die sie nicht brauchten. Davon hatte Helmut endgültig genug.
Schmidts Vater war ein halbwegs erfolgreicher Imker. Auf Märkten bot dieser seinen exzellenten Honig feil und hatte sich so schnell einen ordentlichen Kundenstamm aufgebaut. Herbert liebte den Geruch von frischem Honig. Er erinnerte sich an das vom Wind und Wetter gegerbte Gesicht seines Vaters, an die runzelige Stirn, den Altersflecken auf seiner Glatze und auf seinen Armen. Sein Vater starb, als er sich ein Stück Butterkuchen samt Wespe in den Mund steckte. Niemand wagte es (sie saßen zu siebt am Tisch im Garten seines Vaters, die ganze Familie) einen Luftröhrenschnitt durchzuführen. Sein Vater lief blau, während die um den Erstickenden im Kreis Stehenden von Sekunde zu Sekunde blasser wurden. Sie starrten auf den zappelnden Vater, Großvater, Ehemann, waren zu Salzsäulen erstarrt, zu keiner lebensrettenden Bewegung fähig. Dort starb ein geliebter Mensch und die einzigen Anwesenden starrten auf ihn, als handle es sich nur um ein Youtube-Video, in dem ein Fremder und kein geliebter Mensch verreckte. Schmidt hatte sich jahrelang dafür gehasst, nicht eingegriffen zu haben. Neunzig Jahre war sein Vater geworden. Und er hatte bis zu diesem ereignisreichen Nachmittag auf dem Markt in seinem kleinen Verkaufsstand gestanden und hatte für jeden alten sowie neuen Kunden ein freundliches Lächeln übrig.
Schmidt sah, dass sein Chef seinen Blicken über das stilvoll eingerichtete Büro folgte. Dieser sah das Büro täglich und fand scheinbar nicht besonderes daran.
„Also, Herr Schmidt, sagen sie mir, wo der Schuh bei ihnen drückt. Worum geht es?“, Klaas war inzwischen von seinem Stuhl aufgestanden und trat nun vor dem Schreibtisch, er lehnte sich so lässig wie möglich daran, legte ein Bein über das andere. Die schwarzen, handgemachten Schuhe blitzten im Licht auf wie zwei Messerklingen. Ulrich Klaas hatte das Aussehen und den Gang eines Gewinners. Volles, gut geschnittenes Haar, die feinen Gesichtszüge eines Aristokraten. Ein Mann, der nichts anderes als Reichtum kannte. Der nur die besten Schulen besucht hatte, von goldenen Löffeln aß. Blendend weiße Zähne und kluge blaue Augen. Eine Top Rasur. Bügelfalten, mit denen man Köpfe von Hälsen hätte trennen können. Aber all das verbarg nicht die Nervosität von Ulrich Klaas vor den Augen von Herrn Schmidt. Schmidt sah auf die manikürten Finger von Herrn Klaas, die rhythmisch auf dem edlen Holz des Schreibtischs klopften. War er etwa nervös? Machte der kleine Herr Schmidt ihn, den großen „Big Boss“, etwa nervös?
„Vielleicht kommen sie einfach wieder...wenn sie“, er macht eine Geste Richtung Computer, „ich habe nämlich noch eine Menge zu tun, Herr Schmidt. Also, wenn sie mich jetzt bitte entschuldigen wür...“, Klaas unterbrach sich, weil der andere Mann im Zimmer eine ruckartige Bewegung gemacht hatte. Klaas zuckte unwillkürlich zusammen, kurz glaubte er, Herr Schmidt würde eine Feuerwaffe ziehen, sah dann aber, dass dieser nur einen Zettel aus der Innentasche seine Jacketts gezogen hatte. Klaas seufzte. „Sie wollen Urlaub, nehme ich an.“, er stellte das eine Bein wieder neben das andere und richtete sich voller Größe auf. Er war erleichtert. Kein durchgeknallter Amokläufer. Doch als Klaas den Zettel genauer in Augenschein nahm, stellte er fest, dass es kein Urlaubsantrag war, sondern edles Briefpapier. Er schluckte, denn er kannte das Briefpapier sehr gut. Er benutzte es gerne. „Was soll das werden, Herr Schmidt?“, der Ton von Klaas hatte sich verändert. Er war nun scharf wie eine Rasierklinge. Er malte sich gute Chancen aus, diesen dämlichen Trottel zu überwältigen, falls es zu Handgreiflichkeiten kommen sollte, was Ulrich jedoch nicht hoffte. Herr Schmidt war untersetzt und mindestens zwanzig Jahre älter. Ulrich Klaas war dreißig, durchtrainiert. Er hatte das Geschäft von seinem Vater geerbt. Er führte es mit der selben Philosophie fort, wie es sein Vater gewünscht hatte. Denn so, und nur so war der größtmögliche Gewinn zu erzielen, sagte ihm sein Vater, als dieser auf dem Sterbebett lag, vom Krebs zerfressen, nur noch der Schatten seiner Selbst. Und Gewinn wollte Ulrich Klaas auf jeden Fall erzielen, je größer desto besser. Er sah sich selbst als größten Gewinn für die Firma. Seit er vor fünf Jahren die Firma übernommen hatte, hatte sich der Gewinn quasi verdoppelt. Er brachte durch seinen jungen und frischen Geist mehr Ideen in das Geschäft, und erzielte dadurch eine noch größere Gewinnspanne. Der Vorstand dankte es ihm.
Er konnte diesen Mann auf der Stelle feuern und hätte im selben Atemzug schon einen anderen an dessen Arbeitsplatz, der womöglich ein kleineres Risiko darstellen würde, als dieser Vollverlierer. Und womöglich würde er auch besser arbeiten, als dieser Mann, der schon zu alt und zu müde für den Job war und mit seinem einzigen Joker vor der Nase von Herrn Klaas wedelte. Er musste ihn nutzen, denn es war der einzige Joker, den er je in seinem Leben in der Hand gehalten hat, je halten würde. Aber nicht mit Ulrich Klaas. „Sie wissen, was das ist, stimmt's?“, die Stimme des Mannes klang in Klaas' Ohren eine Spur zu selbstgefällig, aber auch Zorn schwang mit, doch damit wollte Ulrich sich nicht beschäftigen, er hatte keine Lust auf miese Touren von irgendwelchen zweitklassigen Mitarbeitern. Der Mann schaute ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an, wedelte mit dem Brief hin und her und Ulrich konnte sogar ein kleines Lächeln auf den Lippen erkennen.
Wollte er ihn, Ulrich Klaas, den Chef von Klaas Industries, etwa erpressen? Wollte er mehr Geld oder dass er sich rechtfertigte? „Hören sie, Herr Schmidt!“, Klaas räusperte sich, schaute sich eine der Meerjungfrauen auf seinem Schreibtisch an und sagte dann weiter, als er Herrn Schmidt wieder in die Augen schaute:“Ich weiß nicht, was sie vorhaben, oder was sich dabei denken, hier einfach in mein Büro hereinzuschneien und mit diesem Wisch vor meiner Nase herumzuwedeln. Die Sache sieht nämlich so aus: Sie verlassen augenblicklich mein Büro, wir vergessen die Sache und sie kommen morgen ganz normal zur Arbeit, oder, ich rufe die Polizei und sie sind im selben Moment, wie ich den Hörer in der Hand halte, und mit sofortiger Wirkung gefeuert, habe ich mich da klar ausgedrückt, Herr Schmidt? Ihre Entscheidung, Herr Schmidt. Ich werde mich jetzt von ihnen abwenden und mich weiter um meine Angelegenheiten kümmern, so tun, als wären sie heute nicht dagewesen und sie werden einfach wieder durch diese Tür verschwinden. Sollten sie allerdings immer noch dastehen, rufe ich die Polizei und sie können ihre Sachen packen und gehen. Für immer.“ Ulrich Klaas wandte sich ab, sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Er tat ein paar Schritte und hinter ihm wurde die Tür mit einem leisen Klicken geschlossen. Die Schritte hatte er nicht gehört.
Er schloss einen Moment die Augen. Er musste diesen Mann loswerden, besser heute als morgen, denn er stellte eine potenzielle Gefahr da. Der geborene Amokläufer. Er notierte sich den Namen des Mannes im oberen Teil seines in Leder gebundenen Terminplaners, unterstrich den Namen zweimal und schrieb „gekündigt“ daneben. Das Wort kreiste er ein. Er würde den offiziellen Weg gehen, über die Personalabteilung. Es würde zu einer fristlosen Kündigung kommen. Als Abfindung zwei Monatsgehälter und ein gutes Arbeitszeugnis. Hauptsache der Mann war morgen von seinem Arbeitsplatz verschwunden. Er würde ihn wie einen Rechtschreibfehler in einem sonst gelungenen Satz entfernen. Er dachte kurz darüber nach, die Polizei zu informieren, hatte aber keine Lust auf den damit verbundenen Stress. Der Mann war viel zu abhängig von seiner kleinen Stelle, die er hier inne hatte. Es würde keine weiteren Probleme geben. Er würde es nicht riskieren, die Stelle zu verlieren. Er würde wie ein Trottel vor seiner Frau stehen. Die Frau würde ihn, wenn sie klug genug war, einfach verlassen und sich dem nächstbesten Trottel an den Hals werfen. So ist das doch meistens. Wahrscheinlich würde der Mann mit einer mickrigen Rente in einem Einzimmerapartment sterben, die verschrumpelte Nudel in der einen und einem Lolita-Magazin in der anderen Hand. Wird Zeit, den Trottel auf die Straße zu setzen.
Er hatte dieses Gesicht schon mal gesehen, er kam nur nicht drauf, wo. Er setzte sich wieder an den Schreibtisch und startete den Quicktimeplayer. Aus den leise gestellten Boxen drangen Geräusche einer Vergewaltigung. Eine junge Frau schrie, während sie geschlagen wurde, der Vergewaltiger, ein großer, breit gebauter Mann mit Sturmmaske nannte sie eine Hure, eine elendige Fotze. Die Stimme der Frau schrie um Hilfe. Und obwohl das alles inszeniert war, hatte Ulrich Klaas einen Ständer wie schon lange nicht mehr. Er musste seinem Studienfreund Manfred Kronberger, ebenfalls Chef eines Unternehmens, unbedingt sagen, dass er mehr von dieser Scheiße bräuchte. Und zwar so bald wie möglich.
Mit hochrotem Kopf trat Herr Schmidt auf den Flur hinaus. Dieser Wichser, dieser Hurensohn, diese Arschgeige. Er stapfte die Treppen hinunter. Seine Schritte hallten von den Wänden wider. Was hatte er sich denn gedacht, wie sein Chef auf das Briefpapier reagieren würde? Hatte er wirklich gedacht, er könne ihn dazu bringen, sich zu rechtfertigen? Oder ihn gar erpressen zu können? Herr Klaas saß am längeren Hebel, er selber war nur ein einfacher Angestellter. Aber er wollte ihn nicht so einfach damit durchkommen lassen. Er wollte den größtmöglichen Gewinn für sich herausholen.
Herbert schlägt mit den Fäusten auf die Scheiben ein, bis sie ihn seine Hände schmerzen. Er hat nichts gewonnen. Nun hat er nichts mehr. Keinen Job mehr und keine Freiheit. Er ist ein Mörder. Und Mörder verdienten den Knast. Oder den Tod.Er dreht sich zu dem umgekippten Schreibtisch um, sein Blick richtet sich auf die Schublade mit der Waffe. Er hatte die Waffe in die Schublade gesteckt, weil er sie schnell wieder loswerden wollte. Er hatte nicht daran gedacht, dass sich ja seine Fingerabdrücke darauf befinden. Er steht mit einem Fuß bereits im Knast. Die Gedanken überschlagen sich. Vielleicht hat er eine Chance, wenn er alles so herrichten würde, dass es wie ein Selbstmord aussehen würde. Er braucht nur die Waffe zu nehmen und sie in Herrn Klaas Hände zu legen. Vorher muss er noch seine Fingerabdrücke abwischen. Das einzige Problem werden die fehlenden Schmauchspuren auf den Händen seines Chefs sein. Niemand weiß, dass er hier ist. Niemand, der lebt. Es gibt keine Zeugen. Er hatte sich ganz offiziell von der Frau Müller verabschiedet, er hatte darauf geachtet, dass sie auf jeden Fall sah, wie er das Gebäude verließ. Er hatte gewartet, bis sie auch das Gebäude verließ und es wieder betreten. Der nachtschwarze Porsche von Herrn Klaas stand noch immer auf dem Parkplatz. Er hatte das Gebäude wieder betreten und war mit dem Fahrstuhl in die Chefetage gefahren. Wenn die Polizei die Leiche von Herrn Klaas am nächsten Tag finden würde, würden sie einfach einen Mann vorfinden, der mit dem Leben abgeschlossen hatte. Trotz perfekter Familie, sehr gut laufender Firma, bester Gesundheit. Die Mitarbeiter würden befragt werden und vielleicht kämen sie zu dem Schluss, dass so etwas einfach auch vorkommen konnte.
Er reißt die Schublade auf und nimmt den Smith &Wesson .357er Revolver heraus und das Gewicht beeindruckt ihn aufs Neue.
Herbert schnappte sich seine Aktentasche, den Brief hatte er sich in die Gesäßtasche gesteckt. Dann griff er sich seinen Mantel und legte sich diesen über den Arm. Aber anstatt loszugehen, verharrte er auf der Stelle. Wie damals, als sein Vater starb. Der einzige Unterschied zu damals war, dass er diesmal einen klaren Gedanken gefasst hatte, eine Entscheidung. Damals hatte er sich nicht zu einer Entscheidung durchringen können. Jetzt schon. Er wusste, dass er so oder so gefeuert war. Also konnte er Herrn Klaas noch die Meinung geigen. Er ließ Tasche und Mantel fallen und ging schnellen Schrittes zu den Aufzügen. Er drückte den Knopf und schaute dann auf die roten Digitalziffern, die in kurzen Intervallen aufblinkten. Mit einem Bing öffneten sich die Türen. Er betrat den Aufzug, der angenehme Duft eines Frauenparfums betörte ihn für einen kurzen Moment. Aber er riss sich am Riemen. Er musste an das schöne Gesicht von Frau Müller denken, an die eleganten, geschwungenen Brillengläser, die scharfen Gesichtszüge, der Dutt, der ihrem Auftreten die Strenge einer Mathematiklehrerin verlieh. Wieso putzte eine solche Frau Büros? Sie könnte selbst die Geschäftsführerin dieses Unternehmens sein. Machte es ihr Spaß?
Ulrich Klaas liegt ungelenk vor der Reihe mit den Pissoirs, Blut sickert aus einer Kopfwunde. Das Haar völlig durcheinander, der Anzug zerknittert. Das aus der Hose hochgerutschte Hemd entblößte sonnengebräunte Haut, einen kleinen Teil seines trainierten Körpers. Die Augen leblos auf eine Ecke des Zimmers gerichtet, knapp an den Beinen von Herrn Schmidt vorbei. Er bückt sich, öffnet die zu Krallen geformten Finger der rechten Hand und legt die Waffe hinein. Drückt sie auf die Waffe. Sie entgleitet den kraftlosen Fingern und fällt auf den Mamorboden, als er sie loslässt. Seine Fingerabdrücke hat er mit einem Taschentuch abgewischt. Er fragt sich, ob das reicht. Ob er alles bedacht hat.
Die Türen öffneten sich. Er trat ein zweites Mal an diesem Abend in den Flur. Er hörte sich entfernende Schritte. Er schlich um die Ecke und sah noch, wie Ulrich Klaas' Gestalt die Toiletten betrat. Er huschte in das Büro von Herrn Klaas und öffnete die erstbeste Schublade, ohne genau zu wissen, wonach er eigentlich suchte. Antwortbriefe? Etwas, womit er ihn mehr unter Druck setzten konnte. Eine perverse Leidenschaft? Weitere Affären mit Frauen? Aber er fand keinen Brief oder dergleichen, sondern nur eine Waffe. Nur eine Waffe? Bevor er sich versah, hielt er die Waffe in der Hand und dann kam ihm eine Idee. Er stürmte durch den Flur zu den Toiletten.
Ulrich Klaas öffnete seinen Hosenstall und holte seinen Siegerschwanz hervor. So nannte er ihn gerne. Auch seine Frau Jasmin nannte ihn „ihren großen Siegerschwanz“. Während er pisste, hatte er die Augen geschlossen. Wie konnte er nur diesen Herrn Schmidt vergessen? Seit einem Jahr fickte er er heimlich dessen Frau. Sie trafen sich immer im selben Hotel. Er fickte ihr in den Arsch und in den Mund. Er schrieb ihr kurze perverse Geschichten auf edlem Papier, mit einem Spritzer seines Parfums. Sie hatte ihm versprochen, die Briefe gut unter Verschluss zu halten, damit dieser Vollverlierer sie nicht fand. Nun würde er sich von den Schmidts unweigerlich trennen müssen. Aber das war für ihn okay. So sehr er auch die sexuellen Ausflüge mit Helene genossen hatte, (Helene war zwar schon etwas in die Jahre gekommen, war aber immer noch von unglaublicher Schönheit) so gab es für jeden Menschen einen Ersatz, der meist besser war, als der Vorgänger. Er besaß das gewisse Etwas, um die Spreu vom Weizen zu trennen. Er musste es können, denn ansonsten säße er nicht dort, wo er nun saß. Er packte seinen Siegerschwanz wieder ein, drückte die Spültaste, als im selben Moment die Toilettentür krachend aufflog und Herr Schmidt mit einer gezogenen Waffe in der Tür auftauchte. Ulrich hätte sich wahrscheinlich in die maßgeschneiderte Hosen gemacht, wenn er nicht schon seine Blase entleert hätte. Ulrich erkannte die Waffe seines Vaters in den Händen des Vollverlierers. Der plötzlich über gottgleiche Macht verfügte. Denn dieser Vollverlierer konnte nun über das Leben von Ulrich bestimmen. Er konnte ihn töten oder am Leben lassen. Das passte Ulrich überhaupt nicht, denn er war es gewohnt, am längeren Hebel zu sitzen, elementare Entscheidungen zu treffen. Wie war er nur an die Waffe gekommen? Woher hatte er von der Waffe gewusst? Hatte er überhaupt davon gewusst, oder sie rein zufällig in eine der Schubladen gefunden?
Ulrich Klaas sah sein Leben im Zeitraffer davonjagen. In den Augen von Herrn Schmidt erkannte er Entschlossenheit, Wut und Enttäuschung – das alles zusammen in einem Menschen, dem zu oft in den Arsch getreten wurde, bildete keinen guten Cocktail. Es sah ganz so aus, so dachte Ulrich, als würde er jetzt hier zwischen den Pissoirs und den Toilettenkabinen sterben, ohne nochmal mit seinen Kindern und seiner Frau geredet zu haben. Er wusste, er würde ihnen nie wieder in die Augen blicken können. „Bitte..“, schrie Ulrich auf und dann wurde alles um ihn herum schwarz.
Der Schuss schleuderte Ulrich Klaas gegen die Pissoirs, dann rutschte er leblos nach unten. Der Hinterkopf war regelrecht explodiert. Blut und Hirnmasse besprenkelten die ehemals sauberen Kacheln. Herbert starrte auf die Leiche seines Chefs und spürte keinerlei Genugtuung. Im Grunde genommen spürte er nichts. Leere. Alles, was er vorhatte zu sagen, war wie weggeblasen. Durch einen gezielten Schuss hingerichtet. Er trat aus der Tür raus in den Flur. Die Waffe locker in der linken Hand, die sich wie verstaucht anfühlte. Das Piepen in seinen Ohren übertönte das schwere Atmen. Er hörte sich nicht die Tür zum Büro öffnen. Auf dem Tisch stand eine Flasche Whiskey und ein Glas. Er setzte sich auf den Stuhl und griff nach der Flasche. Mit dem Nagel kratzte er das Etikett von der Flasche. Er goss sich den Rest aus der Flasche in das Glas. Dann stand er wieder auf. Das Piepen ließ langsam nach. In seiner Hand der Revolver. „Für meinen Sohn Ulrich, in Liebe, Heinrich Klaas.“, war in schwungvollen Lettern auf den silbernen Lauf der Waffe eingraviert.
Mit seiner Aktentasche in der einen Hand und dem Mantel in der anderen hastet Herbert durch den Eingangsbereich. Er tritt in eine kalte Nacht. Er zieht sich den Mantel über, dann holt er die Wagenschlüssel für den Porsche aus seiner Hosentasche und drückt den Türöffner. Piepend entriegeln sich die Türen. Er dreht sich nicht um, sondern schreitet zum Sportwagen und öffnet die Fahrertür. Er lässt sich auf den geschmeidigen Sitz gleiten. Genießt den Neuwagenduft. Den Duft von teurem Leder, vermischt mit dem Duft von teurem Rasierwasser. Er lässt den Wagen an und dieser schnurrt wie ein Kätzchen, er spürt die gewaltige Kraft des Motors unter der Haube. Er düst in die Nacht hinaus. Er hat nicht vor, diesen Wagen lebend zu verlassen. Er selbst hat keine Kinder. Und er glaubt nicht daran, dass seine Frau ihn groß vermissen würde. Immerhin betrügt sie ihn schon seit über einem Jahr. Und das auch noch mit seinem ehemaligen Chef. Aber all das ist nun vorbei. Zählt nicht mehr. Er macht das Radio an. Ein Popsong wird gespielt, er kennt ihn nicht. Aber er summt zum Lied mit. Er glaubt, in der Ferne Sirenen zu hören. Sie nähern sich ihm.