- Beitritt
- 31.10.2003
- Beiträge
- 1.543
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 14
Hensch
„Hensch!“ Das Brüllen kam von außerhalb der Scheune. „Hensch, verdammt nochmal. Wo zum Teufel steckst du?“ Stampfende Schritte folgten.
Der Junge blickte hektisch in Richtung Scheunentor. Trotz des frühen Morgens stachen Sonnenstrahlen durch die Ritzen im Holz und ließen Staubpartikel in der stickigen Luft tanzen. Ein Schatten unterbrach das einfallende Licht.
Hensch riss das Huhn von seinem steifen Schwanz und warf es zwischen die anderen Hennen. Aufgeplustert und lautstark gackernd verschwand es in der Menge.
Er sprang auf die Beine, riss die Hose nach oben, quetschte seine immer noch stark erigierte Männlichkeit hinein, und genau in dem Moment, als die Scheunentür aufgestoßen wurde, hatte er den Gürtel geschlossen.
„Scheiße, Junge“, stieß Henning McCeen, sein Vater, hervor und humpelte in die Scheune. „Warum, zum Teufel, sind die Viecher noch hier drin?“
Hensch hatte sich erhoben – nichts war mehr von seiner einstigen Pracht in der Hose zu erkennen – und stand, mit dem Blick Richtung Boden, vor seinem Vater.
Dieser schlug ihm beim Vorbeigehen gegen den gebeugten Rücken. „Sieh zu, dass du raus kommst. Der Sheriff wartet auf dich.“
Hensch blickte auf. Blonde Haarsträhnen klebten neben seiner Nase. „Der Sheriff?“
Sein Vater hatte inzwischen die hintere Wand der Scheune erreicht, wo sich die etwa zwanzig Sulmtaler Edelhühner – ein teurer Import aus Deutschland – in eine Ecke drängten.
„Sie sollten schon längst draußen sein“, brüllte er wieder.
Er zog das rechte Bein hinter sich her und scheuchte sie mit dem Gehstock vorsichtig aus der Ecke. Gackernd stoben sie auseinander und rannten an Hensch vorbei aus dem geöffneten Tor hinaus.
„Was stehst du da noch rum?“ Henning McCeen war außer sich. „Du bist genauso bescheuert, wie du aussiehst. Hab doch gesagt, dass der Sheriff auf dich wartet.“
Hensch wollte fragen, warum, doch als er das wutentbrannte Gesicht seines Erzeugers sah – keuchend und mit zuckenden Augenwinkeln starrte dieser ihn an – besann er sich eines Besseren, steckte die Hände in die Hosentaschen und verließ die Scheune.
Die Luft hier draußen war beinahe so trocken wie in der Scheune selbst. Es würde wieder so ein heißer Tag werden. Seit nunmehr fast zwölf Wochen schien die Sonne diesen Teil der Erde als ihr persönliches Lieblingsdomizil gewählt zu haben. Hensch blinzelte über den Hof und entdeckte den staubbedeckten Wagen von Sheriff Hawks vor dem Haupthaus. Die Hühner hatten sich auf dem Hof verteilt und scharrten im Staub.
Den Sheriff selbst konnte er nirgends sehen. Vermutlich war er im Haus, und Mutter hatte ihm selbstgemachte Limonade angeboten. Bei dem Gedanken daran spürte Hensch, wie ausgetrocknet seine Kehle war. Kam wohl vom Keuchen in der stickigen Scheunenluft. Sein Schwanz zuckte kurz. Es war nicht gut, dass ihn Vater gestört hatte. Es war nicht gut.
Gerade als Hensch das Haupthaus erreicht hatte, traten der Sheriff und seine Mutter durch die Tür ins Freie. „Danke nochmal für die Limonade, Ellen“, sagte Sheriff Hawks und wischte sich mit einem Tuch über die Stirn. „Wird wieder n verdammt heißer Tag werden.“
Seine Mutter, die von dem massigen Körper des Gesetzeshüters bis auf einen winzigen Teil verdeckt wurde, antwortete, dass dem wohl so sei.
Hensch blieb stehen. Seine Hände, die immer noch in den Hosentaschen steckten, waren nass. Irgendwo weit draußen heulte ein Hund. Einer dieser wilden Tölen, die sich vermehrten, wie die Karnickel.
„Ah, da ist ja unser junger Mann.“ Der Sheriff hatte ihn entdeckt und kam die drei Stufen von der Veranda herunter.
Hensch wusste nicht, was der Mann von ihm wollte – niemand hatte ihn jemals beim Hühnerficken erwischt – dennoch hatte ein ungutes Gefühl von seinem Körper Besitz ergriffen. Sheriff Hawks war einfach eine respekteinflößende Persönlichkeit. Seine mindestens zwei Meter Körpergröße wurden durch seinen Umfang noch verstärkt, so dass er wie ein haarloser Grizzly wirkte. Und genauso wie ein Grizzly konnte dieser Mann zuschlagen; das hatte Hensch einmal unten in der Stadt miterlebt. Damals, vor gut einem halben Jahr, als er und Jason in Dunkans Bar waren. Jason hatte arg einen über den Durst getrunken und sich mit so einem Idioten von außerhalb angelegt. Irgendwer hatte dann den Sheriff gerufen.
Dieser war in die Bar gekommen, hatte Jason und den Idioten am Kragen gepackt und nach draußen gezerrt. Er wollte wohl, dass die beiden Streithähne sich dort vertrugen, doch dieser Idiot von außerhalb hatte tatsächlich versucht, Sheriff Hawks eine zu verpassen. Hensch grinste bei dem Gedanken daran und erinnert sich noch heute an das Geräusch, das der Kiefer des Typen beim Auftreffen von Sheriff Hawks Faust gemacht hatte. Wie ein trockener Ast beim Drauftreten.
„Ich muss mit dir reden, Junge.“
Hensch blickte nach oben. Sheriff Hawks hatte seinen Hut aufgesetzt und sah ihn an. Beim Vorbeigehen sagte er: „Komm mit.“
Ohne zu zögern folgte ihm Hensch.
Als sie den Wagen erreichten, lehnte Hawks sich gegen die Seite, nahm seinen Hut wieder ab, beförderte das speckige Tuch aus der Hosentasche, und wischte damit über die wenigen Haare, die sich noch auf seinem Kopf befanden. Er griff in die Hemdtasche und brachte eine platte Schachtel Zigaretten hervor. Nachdem er sich eine angesteckt hatte, verschwand die Schachtel wieder in der Tasche.
Während der Sheriff rauchte und zum Himmel blickte, wurde Hensch zusehends unruhiger. Trotz der Hitze schüttelte er sich unmerklich, als ein eiskalter Finger an seinem Rücken hinunterstrich. Schäbiges Gefühl, dachte er.
„Ich hasse diese Hitze“, sagte der Hüne nach einer Weile und blickte Hensch, der mindestens zwei Köpfe kleiner war als er, ins Gesicht.
„Ja.“
Der Sheriff nahm einen kräftigen Zug, ließ die Zigarette fallen und trat mit dem Schuh drauf. „Ist wieder jemand verschwunden, Junge.“
Hensch blickte auf. Als er auf die Augen des Sheriffs traf, wandte er den Blick wieder gen Boden.
„Hast du verstanden, was ich grad gesagt hab?“
Hensch nickte.
„Weißt du was drüber?“
„Wer ist es denn?“
„Die Kleine von der Miller-Ranch.“
„Die is doch schon lange weg.“
„Die Schwester. Jetzt ist auch die Schwester verschwunden. Acht Jahre alt.“
Hensch blickte auf. „Emelie?“ Seine Stimme war mehr ein Flüstern.
„Ja. Emelie. Acht Jahre alt.“
„Ich kenn sie“, sagte Hensch. „Geht mit mir in die Klasse.“
Der Sheriff sah ihn an.
„Ich kann mich nicht so gut aufs Lernen konzentrieren. Deshalb bin ich noch bei ihr in der Klasse.“
„Ja, ich weiß. Habe euch letztens auf dem Schulweg gesehen. Weißt du, wo sie sein könnte?“
Hensch schüttelte den Kopf.
Der Sheriff legte seine Grizzlypranke in Henschs Nacken und zog ihn nah an sich heran, so dass er mit der Wange gegen das feuchte Hemd auf Brusthöhe gedrückt wurde. Ganz sanft nur, doch hatte Hensch das Gefühl, von einem Felsbrocken in einen Sumpf gedrückt zu werden.
„Wie alt bist du jetzt, Junge?“, fragte der Sheriff leise an den Himmel gewandt. Dennoch verstand ihn Hensch, als hätte er direkt in sein Ohr geflüstert. Der Druck der Pranke wurde ein wenig stärker, als Hensch nicht sofort antwortete.
„Siebzehn, Sir. Ich … ich bin jetzt siebzehn geworden. Vor zwei Monaten.“
Sheriff Hawks ließ ihn wieder los und lehnte sich erneut gegen das Fahrzeug. „Richtig“, sagte er. „Du hattest ja vor kurzem Geburtstag.“ Kurzes Schweigen, gefolgt von einem Wischen über die Stirn. „Du musst wissen, Junge, wir haben sämtliche Unterlagen über jeden Bewohner der Stadt da unten im Polizeicomputer. Sämtliche Unterlagen.“
Er hatte die Augen geschlossen und die Stirn in Falten gelegt. „Weißt du etwas über das Verschwinden der kleinen Miller-Tochter?“
„Nein, Sir.“ Diesmal antwortete Hensch schneller.
Der Sheriff öffnete die Augen und sah ihn an. Langsam nickte er. „Okay.“ Er öffnete die Fahrzeugtür und stieg hinein. „Wenn du etwas hörst, dann weißt du, wo du mich findest. Richtig, Junge?“
„Richtig, Sir. Unten im Polizeirevier finde ich Sie.“
Sheriff Hawks schlug die Tür ins Schloss, startete den Motor und rollte wenig später langsam vom Hof. Irgendwo heulte wieder dieser Hund.
Hensch blickte dem davonfahrenden Wagen, der inzwischen in einer Wolke aus aufgewirbeltem Staub eingehüllt war, noch lange nach. Hensch war nicht sonderlich schlau, das wusste er selbst, und auch sein Vater ließ keine Situation aus, ihn darauf hinzuweisen, aber er wusste, dass dieser Sheriff ihm kein gutes Gefühl verschaffte. Wahrlich kein gutes Gefühl. Vielleicht konnte er heute noch etwas mit Jason unternehmen, oder sich gegen Abend um eines der Hühner kümmern. Mal sehen, was sich ergab.
* * *
„Buh!“ Ein Piksen auf beiden Seiten seiner Nierengegend.
Hensch blieb stehen und sah sich um. Für einen kurzen Moment blendete ihn die Sonne, wohl irgendeine Reflexion eines vorbeifahrenden Wagens. Dann erkannte er Emelie Miller. Er musste etwas herabsehen, da sie mit ihren acht Jahren um einiges kleiner war als er. Sie grinste ihn an, und diesmal war es ihre Zahnspange, die kurz in der Sonne aufblitzte.
„Menno“, sagte sie und zog einen gespielten Schmollmund. „Warum erschrickst du eigentlich nie?“ Schon war der Schmollmund Vergangenheit und statt seiner war wieder das Zahnspangengrinsen in ihr Gesicht getreten.
„Du hast da was an deinem Ranzen.“ Hensch deutete in Richtung ihrer Schulter. Wieder fuhr ein Auto an ihnen vorbei und wirbelte Staub auf. Heute waren es mit Sicherheit fünfunddreißig Grad, und blickte man etwas weiter die Straße hinunter, Richtung Dunkans Bar, dann flimmerte der Asphalt und wirkte wie ein See.
„Was hab ich an meinem Ranzen?“ Emelie verzog angewidert das Gesicht. „Oder verarscht du mich wieder, Hensch McCeen?“
„Ja“, sagte Hensch. „Aber nur, weil du mich erschrecken wolltest.“
Sie gingen nebeneinander den Gehweg entlang Richtung Junior-High-School. „Aber du erschrickst wirklich nie, Hensch. Warum nicht?“
Er blickte wieder hinab auf das blonde, dünne Haar. „Ich weiß nicht“, sagte er. „Der Doktor meinte, ich leide unter Gefühlskälte.“
„Du warst deshalb beim Arzt?“
„Nein. Nicht deshalb. Dad sagt, ich sei komisch, also im Kopf. Deshalb gibt er mir auch die Schuld an dem Unfall, weißt du. Den, wo er sein Bein verloren hat. Naja, und so ist Ma irgendwann mit mir zu Doc Ashbourne gefahren. Der hat ein paar Tests gemacht und gesagt, ich kann keine Gefühle zeigen und auch keine empfinden. Wenn Ma mehr wissen wolle, müsse sie einen Facharzt draußen in Ely aufsuchen.“
„Oh.“
Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her, dann fragte Emelie: „Lachst du deshalb auch nie?“
„Das kann schon sein.“
„Ist mir in der Klasse aufgefallen. Selbst wenn Mrs Harper was wirklich Komisches sagt und alle lachen, dann verziehst du nie das Gesicht.“
„Wirklich lustig ist es ja auch nicht, was sie so sagt. Außerdem soll ich mich ja aufs Lernen konzentrieren. Das fällt mir recht schwer, weißt du?“
„Ja, das hat uns auch Mrs Harper erklärt, bevor du in unsere Klasse gekommen bist. Aber ich finde nicht, dass du dumm bist, Hensch.“
„Danke, Emelie. Das ist nett von dir.“
„Hast du es eigentlich einmal versucht?“
Hensch sah sie an. „Was meinst du?“
„Na das Lachen. Hast du schon mal versucht, zu lachen?“
„Ja, natürlich.“ Er blieb stehen, ging ein wenig in die Hocke, so dass sein Gesicht auf gleicher Höhe wie ihres war, und zog die Mundwinkel nach oben. „Siehst du?“
Emelie lachte laut auf und schlug ihm leicht gegen den Oberarm. „Das ist doch kein Lachen.“ Sie lachte lauter. „Das ist vielleicht höchstens ein Mundverziehen.“
„Hm“, machte Hensch und erhob sich wieder. „Vielleicht kannst du es mir ja irgendwann einmal beibringen.“
„Das mach ich, Hensch. Das mach ich. Ich bringe dir das Lachen bei.“
In einiger Entfernung konnten sie nun die Schule ausmachen, und immer mehr Kinder wanderten in diese Richtung.
Ein Pickup näherte sich von hinten, viel zu langsam, und hatte sie wenig später erreicht. Der Fahrer hupte, Emelie zuckte zusammen, und Hensch blickte herüber.
„Hey, Henschy-Boy, altes Haus.“ Jason Jenkins hatte das Beifahrerfenster runtergekurbelt und sich über den Sitz gebeugt. Mit dem linken Arm steuerte er den schweren Wagen, ohne dabei nach vorn zu sehen. „Stehste jetzt auf kleine Mädchen?“
Hensch blieb stehen, und Emelie tat es ihm gleich. Beide blickten in das grinsende Gesicht, das sie aus dem Fahrzeug heraus ansah.
Er kannte Jason seit er denken konnte. Irgendwie war er schon immer da gewesen, und das, obwohl er nur knapp zehn Jahre älter war als Hensch. Vor etlichen Jahren hatte Jason ab und zu auf der Farm gearbeitet. Hatte Dad bei der Reparatur des Scheunendachs geholfen oder was sonst noch so anfiel. Jason arbeitete ständig irgendwo für kleines Geld, was den Leuten, die ihn anstellten, durchaus gefiel. Er schien chronisch pleite zu sein.
Hensch hatte ihn immer bewundert, weil er stets wusste, wo es langging. Er war einfach ein richtiger Freund. Ein Freund, den es nie kümmerte, dass Hensch unfähig war, Gefühle zu zeigen. Denn das, was Hensch an Gefühlen fehlte, besaß Jason im Überfluss. Und wenn er diese, an einem Abend in Dunkans Bar mal wieder nicht unter Kontrolle hatte, dann war es Hensch, der ihn vor extremen Dummheiten bewahren konnte. Obwohl es Hensch auch nicht gestört hätte, wenn Jason sie begangen hätte. Aber irgendwann hatte Jason ihn einmal darum gebeten, er möge ein bisschen auf ihn aufpassen, wenn er mal zu tief ins Glas schaute.
„Stehste jetzt auf kleine Mädchen?“ Noch einmal die vom fetten Grinsen untermalte Frage aus dem Beifahrerfenster des Pickup.
„Nein“, sagte Hensch.
Emelie tat einen Schritt auf den jetzt stehenden Wagen zu. „Hensch ist mein Freund.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust und runzelte die Stirn, um ihren Unmut über diese dumme Frage zum Ausdruck zu bringen.
„Ohh“, Jason hob abwehrend die Hände. „Sorry, kleine Lady. Also stehst du wohl auf ältere Jungs.“
„Du bist doof, Jason Jenkins, weißt du das? Und wenn du weiter so einen Quatsch erzählst, dann sag ich es meinem Vater. Der kennt den Sheriff ganz gut.“
„Hey!“, brüllte Jason und schnellte mit dem Oberkörper in Richtung Beifahrerfenster. Erschrocken machte Emelie einen Schritt nach hinten und stieß gegen Henschs Bein. „Pass bloß auf, was du da sagst.“ Jetzt zeigte er mit dem Finger auf das kleine Mädchen. Sein Gesicht war unter den Augen mit roten Flecken gespickt. „Mir haben schon ganz andere Leute gedroht.“
Hensch legte seinen Arm um Emelie. Er spürte, wie schnell ihr Herz schlug.
Im Gegenverkehr tauchte wie auf Kommando ein Polizeiwagen auf. Sheriff Hawks hatte das Fenster heruntergekurbelt und lässig seinen dicken Unterarm auf den Türrahmen gelegt. Mit der rechten Hand hielt er das Lenkrad. Kaum merklich verlangsamte er seine Fahrt und sah herüber.
Emelie schluckte, und Hensch nickte kurz. Obrigkeiten immer grüßen, hatte ihm Ma beigebracht. Das sei ein Akt der Höflichkeit.
Jason sah den Sheriff nicht. „Ich brauch dich demnächst, Hensch.“ Er schwang seinen Körper wieder hinter das Steuer – der Polizeiwagen war inzwischen vorbeigefahren –, murmelte ein Blöde Kuh und trat das Gaspedal so feste durch, dass die Räder beim Anfahren durchdrehten. Hensch blickte auf den Staub, den sie aufwirbelten. Wenig später roch er das verbrannte Gummi. Da allerdings war Jason schon in die Wilston Street, die direkt hinter der Schule begann, eingebogen. Den Motor seines Pickups konnte Hensch noch immer hören.
* * *
„Warum wollte Sheriff Hawks mit dir alleine sprechen?“ Ellen McCeen trat die Verandastufen hinunter und ging auf ihren Sohn zu, der noch immer dem Polizeiwagen nachblickte.
Als sie ihn erreichte, sah er sie nicht an. Sie berührte seinen Arm. „Hensch?“
Henschs Lider flatterten, als erwachte er aus einer Art Trance.
„Warum wollte der Sheriff denn mit dir alleine sprechen?“ Aus der Scheune drang ein lautes Poltern, gefolgt von einem noch lauteren Fluchen.
„Er wollte wissen, ob ich was von Emelie gehört habe.“
Seine Mutter blickte zu Boden. „Ja, der arme Mr Miller. Erst Susie, jetzt Emelie. Gott möge ihn beschützen. Und natürlich die kleine Emelie“, fügte sie schnell hinzu.
Erneut fluchte Henning McCeen in der Scheune. Ein silberner Metalleimer kam durch das offene Tor geflogen.
„Vielleicht fragst du deinen Vater, ob du ihm helfen kannst.“
„HENSCH!“, kam es wie zur Bestätigung aus dem Dunkel hinter dem Tor. „Hensch! Beweg deinen verfluchten Arsch hier her!“ Poltern.
Hensch atmete die schwere Hofluft ein. Seine Mutter tätschelte seinen Arm. „Ich kümmre mich weiter um das Frühstück.“
Hensch beobachtete die Hühner, von denen jetzt die meisten im Schatten der Scheune scharrten. Seit Dads Unfall waren sie sein ganzer Stolz. Bereits vier Auszeichnungen prangten in Form von Urkunden über dem Kaminsims.
„Hensch!“
„Ich komme“, sagte er leise. Er wollte sich gerade in Bewegung setzen, als eine erneute Staubwolke am Ende des Feldweges auftauchte, der von der Hauptstraße zur Farm führte.
Hensch kniff die Lider zu engen Schlitzen. Kam der Sheriff zurück? Doch warum sollte er das tun?
„Hensch!“, schrie sein Vater. Er stand im Scheunentor, krumm auf seinen Stock gestützt, und hätte er eine Waffe gehabt, hätte er mit Sicherheit in diesem Moment auf seinen Sohn geschossen. „Bist du taub?“ Er humpelte einen Schritt in die Sonne. „Du sollst deinen Arsch hier rein bewegen. Wenn der verdammte Stall nicht bis zum Frühstück sauber ist …“
Hensch hörte nicht mehr hin. Er erkannte jetzt in der Wolke den dunklen Pickup von Jason Jenkins. Auch Henning McCeen schien ihn gesehen zu haben und unterbrach für einen kurzen Moment sein Brüllen. Dann humpelte er auf Hensch zu. „Was will der Idiot schon wieder hier?“, keifte er.
Dass sein Vater noch nie heiser war, wunderte Hensch immer wieder.
Kurz darauf hielt der Pickup auf dem Hof, verweilte einen Augenblick im aufgewirbelten Staub, bis dieser sich wie ein sanftes Tuch auf dem Lack abgesetzt hatte.
Hensch ging auf den Wagen zu.
„Los, steig ein.“ Jason stieß von innen die Beifahrertür auf.
„Ich habe keine Zeit.“
„Hey!“, brüllte Henning McCeen.
„Ich brauche dich“, zischte Jason. „Also steig ein.“
Hensch sah sich um. Mutter stand auf der Veranda in der Tür und blickte herüber. Vater stampfte mit hochrotem Kopf auf den Pickup zu.
„Jetzt komm endlich, bevor er dir mit dem Stock die Beine weghaut.“ Jason grinste. „Hallo Mister McCeen! Ich muss Ihnen einmal kurz Ihren Sohn entführen.“
„Du verdammter Drecksbengel!“ Jetzt schnaufte Henning McCeen wie ein wildgewordener Büffel, und wenn sein rechtes Bein nicht aus einer hölzernen Prothese bestanden hätte, so wäre er mit Sicherheit beim Wagen gewesen, bevor sein Sohn auf den Beifahrersitz springen konnte. Noch während dieser die Tür zuwarf, trat Jason das Gaspedal, und der Pickup ruckte nach vorn.
Trotz des aufgewirbelten Staubs konnte Hensch im Außenspiegel sehen, wie sich sein Vater nach einem Stein bückte und diesen in Richtung des davonfahrenden Wagens schleuderte. Ein kurzes Pock zeigte, dass er ihn sogar getroffen hatte.
„Manchmal freu ich mich, dass dein Alter keine Knarre hat“, lachte Jason gegen die Scheibe.
„Er hat eine. Im Haus.“
* * *
Der Pickup schoss über die kurvige Landstraße, vorbei an scheinbar unendlich hohen Pinienbäumen. Stellenweise fuhr Jason so schnell, dass der Wagen drohte, aus der Kurve zu fliegen.
Hensch hatte das Fenster hinunter gekurbelt und genoss den warmen Fahrtwind, der seine Haare in alle Richtungen wehte. Zwischendurch sagte Jason immer irgendetwas, doch es waren lediglich Geräusche für Hensch, die das Rauschen des Fahrtwindes kurz unterbrachen.
Zunächst hatte er Jason fragen wollen, wohin sie denn fuhren, aber insgeheim wusste er es ja bereits, also fragte er nicht. Jason schien es ihm dennoch zu erklären.
Als er nach einer ganzen Weile den Wagen stark abbremste, um in einen Waldweg einzufahren, blickte Hensch doch zu ihm hinüber. Die Mundwinkel seines Freundes zuckten kurz – das taten sie öfter, wie Hensch aufgefallen war – und trotz der geöffneten Fenster, sah Jasons Haar aus, wie frisch geduscht.
„Der Ablauf ist ähnlich, wie beim letzten Mal. Nur das der Kunde diesmal alleine kommt.“
„Du hast ihm von der Hütte erzählt?“ Das fand Hensch nun doch ein wenig befremdlich.
„Ja. Aber keine Panik. Er hält dicht.“
„Ich habe nie Panik.“
Jason verzog die Mundwinkel zu einem Grinsen. „Und genau deshalb mag ich dich so sehr, mein Freund.“
Ein lautes Poltern kam von unterhalb des Pickups. Er sprang, und die beiden wurden beinahe von den Sitzen geschleudert.
„Scheiß Wurzeln“, fluchte Jason, bekam den Wagen aber schnell wieder unter Kontrolle.
Die Luft hier zwischen den dichten Bäumen war merklich kühler, als draußen auf der Landstraße. Hensch gefiel das. Jason schien es gar nicht zu interessieren. Er war damit beschäftigt, mit verkniffenem Blick, den Wagen über den holprigen Waldweg zu befördern.
„Ich weiß, wie wir gut an Kohle kommen können“, hatte Jason vor ein paar Monaten einmal zu ihm gesagt. „Ich hasse diese verfluchten Aushilfsjobs. Nutzen mich eh alle nur aus, diese Idioten. Mit dem dummen Jenkins kann man es ja machen.“ Hensch und er hatten auf der Ladefläche des Pickup gelegen und in den wolkenlosen Himmel gestarrt. „Wir können richtig viel Geld machen, Hensch. Richtig viel.“
Hensch hatte nichts dazu gesagt. Wenn Jason der Meinung war, sie könnten viel Geld verdienen, dann würden sie viel Geld verdienen. Sein Freund würde einfach sagen, wie es funktionierte, und Hensch würde mitmachen. So wie er es immer tat. Jason sagte, stopf dem verdammten Köter dort das Maul, Hensch, und Hensch ging hin, und trat dem verdammten Köter so fest gegen den Schädel, dass dieser jaulend davon rannte. Jason sagte, besorg mal was zum Saufen, Hensch, ich habe keine Kohle mehr, und Hensch ging in den Laden und besorgte was zum Saufen. Obwohl er ebenfalls keine Kohle mehr besaß. Was das Erledigen von Dingen anging, so war Hensch sehr geschickt. Vielleicht lag es einfach daran, dass er nicht über die Folgen nachdachte. Warum auch?
Erneut polterte der Wagen über eine Wurzel, und Hensch wäre mit dem Kopf gegen das Seitenfenster geknallt, wenn dieses nicht geöffnet gewesen wäre.
Gut fünfzehn Minuten und mehrere verwinkelte Abzweigungen später, hielt Jason auf einer Lichtung, an deren Ende sich eine große Jagdhütte befand. Die beiden Fenster, rechts und links von der Tür, waren von innen mit hellen Vorhängen bedeckt. Das konnte Hensch von hier aus zwar noch nicht sehen – die Sonne spiegelte sich dafür zu sehr in den Scheiben – aber er war schließlich nicht das erste Mal hier.
Jason drehte den Schlüssel, und das Motorengeräusch brach ab. Die kurzfristig eintretende Stille erinnerte Hensch an die Stille, die frühmorgens in der Scheune herrschte. Immer dann, wenn Dads geliebte Hühner noch schliefen; kurz bevor Hensch sie weckte.
Jason riss die Tür auf und sprang aus dem Wagen.
„Wir müssen uns ein bisschen ranhalten. Ich will alles aufgebaut haben, bevor der Gast kommt.“
Jason hatte den hinteren Teil des Pickups erreicht und öffnete die Klappe zur Ladefläche. Er schwang sich hinauf und löste den Zurrgurt, der um eine etwa einen Meter langen und einen halben Meter breiten Metallkiste geschlungen war, um sie am Verrutschen zu hindern. Als er es erledigt hatte, schob er die Kiste in Richtung Heckklappe, vor der Hensch stand. „Los, rein damit, ins Haus.“
Als sie auf die Jagdhütte zugingen, die große Metallkiste zwischen ihnen, fühlte sich Hensch für einen Augenblick so, als würde er über eine Hängebrücke balancieren, die über einen tiefen Abgrund pendelte. Das Gefühl in seinem Bauch gefiel ihm nicht. Er konzentrierte sich auf die Holztür, und wenige Schritte später, hatte die Hängebrücke wieder ihren Platz mit dem harten Waldboden getauscht. Jetzt fühlte er sich besser.
Der Geruch, der ihm allerdings entgegenschlug, nachdem Jason die Tür geöffnet hatte, erinnerte ihn an den Geruch der Sporthalle in der Junior-High, nachdem sich dort die älteren Kinder betätigt hatten. Eine Mischung aus leicht säuerlichem Schweiß und staubbedeckten, alten Möbeln.
Da war allerdings noch etwas anderes. Etwas, das den Sporthallengeruch durchdrang. Ganz leicht nur, aber es war da.
Sie betraten den Hauptraum der Hütte. Ein gemütlich eingerichtetes Zimmer mit einer in die Jahre gekommenen Kordcouch, zwei Kordsesseln, die um einen niedrigen Tisch platziert waren und einem offenen Kamin an der gegenüberliegenden Wand. Linker Hand befand sich eine Kochnische, die von einer Theke mit zwei Barhockern eingesäumt wurde.
Rechts neben dem Kamin führte ein Korridor in den hinteren Teil des Gebäudes, über den man das Badezimmer und noch weiter hinten das eigentliche Schlafzimmer erreichen konnte. In letzterem lag jetzt die kleine Emelie Miller.
Jason und Hensch stellten die Metallkiste auf den Boden und Jason machte sich daran, die Fenster zu öffnen. „Diesen scheiß Gestank kriegt man nicht hier raus. Zum Kotzen. „Kümmerst du dich um den Generator?“
Hensch war froh, dem Geruch zunächst einmal wieder kurz entkommen zu können, denn der Generator befand sich außerhalb des Hauses.
Nachdem er für Strom gesorgt hatte und sich wieder im Zimmer befand, spürte er, wie sich seine Blase bemerkbar machte. Jason hatte unterdessen die Fenster geöffnet und die schweren Vorhänge wieder davor gezogen. Unmerklich bewegten sie sich, was aber weniger durch Wind, als vielmehr durch den Temperaturunterschied zwischen draußen und drin herrührte.
Hier im Haus stand die Luft, und obwohl Hensch sich nicht bewegte – er stand inmitten des Raumes und betrachtete die Metallkiste, die ihn jetzt an einen kleinen Sarg erinnerte – traten ihm die ersten Schweißperlen auf die Stirn. Er spürte es, doch er wischte sie nicht weg.
„Willste nen Kaffee?“, rief Jason von der Kochnische herüber. „Ich setze einen auf.“
„Nein, danke.“
„Dann nicht.“ Summend löffelte er das Pulver in den Filter.
„Kann ich zu ihr?“
„Du kennst den Weg.“
* * *
Die Tür zum Schlafraum quietschte noch immer, als er sie vorsichtig aufschob.
Leise betrat er den Raum, in dem sich lediglich ein einfaches Bett rechts neben der Tür und in der hinteren Ecke, links neben dem Fenster, eine alte Stehlampe befand. Das Fenster war ebenfalls mit einem Vorhang verhangen, der das Licht gedämpft in das Zimmer ließ. Durch einen schmalen Spalt zwischen Vorhang und Fensterrahmen ließ ein Sonnenstrahl die in der Luft tanzenden Staubpartikel aufleuchten. Genau, wie zuhause in der Scheune, dachte Hensch.
Leise schob er die Tür ins Schloss, gerade als im Wohnzimmer die Kaffeemaschine ihr Röcheln begann.
Emelie Miller war mit den Händen an den Pfosten des Bettes gefesselt. Ihre Augen waren mit einer Schlafmaske, der Körper mit einem weißen Laken bedeckt. Hensch wusste, dass das Mädchen darunter nackt war. Ihre Beine hatte sie angewinkelt.
„Wer ist da?“, wimmerte sie. Ihre Stimme war vom vielen Weinen rau und krächzig.
Hensch näherte sich dem Bett, und das Mädchen zog die Beine noch weiter in Richtung ihres Oberkörpers.
„Wer … wer sind Sie? Helfen Sie mir?“
Jetzt erkannte Hensch, dass die Schlafmaske nass war. Vorsichtig setzte er sich auf die Bettkante und sah seine kleine Schulfreundin an. Er ist mein Freund!, hatte sie noch vor wenigen Tagen selbstbewusst gesagt. Und sie wollte ihm das Lachen beibringen.
Sanft legte er eine Hand auf das Laken. Der Körper darunter zuckte zusammen, und Emelie begann wieder leise zu weinen. „Sie helfen mir nicht, habe ich Recht?“
Hensch verstärkte den Druck mit der Hand ein wenig. Jetzt wurde ihr Weinen zu einem leisen Wimmern. Er wandte den Blick wieder auf die tanzenden Staubpartikel inmitten des Raumes. Ob sie jemals damit aufhörten? Oder waren sie dazu verdammt, tagein, tagaus zu tanzen? Ringelreih, ringelreih, dreh dich im Kreis, und sei dabei! Immerzu. Tagein. Tagaus.
In diesem Moment wurde die Tür aufgestoßen. Der Körper unter seiner Hand zuckte so heftig, dass sich sogar das Bett bewegte. Die tanzenden Pünktchen stoben auseinander, wie ein Schwarm kleiner Fische.
Jason stand in der Tür, pustete in seine Kaffeetasse und lächelte hinein. Flüsternd sagte er: „Es wäre fein, wenn der Herr mir beim Tragen und Aufbauen helfen könnte.“ Er zwinkerte und stapfte zurück in den Wohnbereich.
Hensch streichelte noch einmal kurz über den kleinen Körper, dann stand er auf.
„Bitte gehen Sie nicht weg“, wimmerte die winzige Stimme.
„Ich komme wieder“, sagte Hensch leise.
Der zitternde Mund des Mädchens öffnete sich. „H… Hensch? Hensch, bist du es?“
Schnell verließ er das Zimmer.
* * *
Eine halbe Stunde später hatten sie alles vorbereitet. Jason saß auf der Couch, trank seinen dritten Kaffee, und Hensch saß auf dem Sessel und trank nichts. Er wollte seine Blase nicht noch weiter beanspruchen.
„Wann machst du den Rest?“, fragte Jason.
Hensch dachte an die tanzenden Staubpartikel, die unbeirrt vom Schicksal der kleinen Emelie durch die Luft geschwoft waren. Tagein, tagaus. Genau wie in der Scheune. Wie gerne wäre er jetzt gerade dort? Er wollte zu Dads Hühner. Er brauchte sie. Jetzt gerade besonders. Bei ihnen hatte er ein gutes Gefühl. Hier in der Jagdhütte nicht.
„Hensch!“
Er blickte auf, sah Jason, der ihn mit hochgezogenen Brauen fixierte. „Halloo. Universum an Hensch.“ Er wedelte mit einer Hand.
„Ich mache es, wenn der Gast da ist. So wie das letzte Mal auch.“
„Oh, du hast mir ja doch zugehört.“ Jason stand auf und ging zum Fenster. „Manchmal bist du mir einfach ein Rätsel, Hensch, weißt du das?“
„Jetzt weiß ich es.“
Fünf Minuten später – Jason schenkte sich gerade die vierte Tasse ein – hörten sie Motorengeräusch, das sich dem Haus näherte. Hensch stand auf und ging zur Tür. Als er sie gerade öffnen wollte, verharrte er. „Darf er mich sehen? Oder soll ich hinten raus?“
„Fällt dir ja früh ein“, bemerkte Jason, diesmal ohne sein obligatorisches Grinsen. Draußen verstummte der Motor, und eine Tür wurde kurz darauf zugeschlagen. Schritte näherten sich. Hensch hörte das Knirschen auf dem Boden.
„Du kannst vorne raus“, sagte Jason, während er eine zweite Tasse aus dem Regal nahm und sie mit Kaffee füllte.
Hensch nickte kurz, öffnete die Tür und erstarrte augenblicklich in der Bewegung. Erschrickst du eigentlich nie? Die Frage von Emelie auf dem Weg zur Schule jagte durch seinen ganzen Körper. Erschrickst du eigentlich nie?
Sein Herz schlug so stark, dass er meinte, es befände sich in seinem Hals. Dass er den Mund leicht geöffnet hatte, bemerkte er nicht.
„Hallo, Junge.“
Vor ihm stand Sheriff Hawks. Groß und ehrfurchtgebietend wie ein gewaltiger Riese aus einem Märchen. Wäre Hensch schlau gewesen, so wären ihm in diesem Moment tausende von Gedanken durch den Schädel geschossen. Vielleicht war er es ja, denn genau dieses Gefühl hatte er jetzt. Tausende Gedanken, schnell, wirr und unaufhaltsam. Wie Staubpartikel – tagein, tagaus – tanzten sie durch seinen Schädel.
Er sah diesen Mann, der so groß war, dass er den Kopf fast in den Nacken legen musste, um ihm ins Gesicht zu schauen. Und genau dieser Mann des Gesetzes stand in diesem Moment vor ihm und lächelte ihn an.
Irgendwer hatte geplappert. Der Kunde. Ja, der Kunde war‘s. Er hatte es dem Sheriff erzählt. Und dieser war jetzt hier und würde genau das hier finden, was er seit Tagen suchte. Die kleine, vermisste Emelie Miller. Gefesselt und nackt in einem Bett im hinteren Zimmer dieses Hauses. Was stand auf Kidnapping?
„Hallo Junge“, sagte der Sheriff noch einmal, schob ihn mit einer Hand beiseite und betrat das Haus.
„Der Kaffee ist noch heiß, Sheriff“, hörte er Jason sagen.
„Das nenn ich Service“, hörte er den Sheriff sagen.
Hensch spürte, wie sein Herz aus seinem Hals verschwand. Der Sheriff war also der Kunde. Alles war gut. Keine Anzeige. Kein Gefängnis. Alles war gut.
Noch einmal blickte er in den Raum. Sheriff Hawks setzte sich gerade auf einen der Barhocker, der unter dem Gewicht ächzte.
„Ich kümmre mich dann um den Rest“, rief Hensch in den Raum hinein.
Jason hob die Hand. Sheriff Hawks lächelte herüber.
* * *
„Du verdammter Vollidiot! Bist du taub?“
Das Dröhnen des Traktors übertönte das Brüllen von Henning McCeen.
Dieser schleuderte jetzt seinen Spaten in Richtung des Gefährts, auf dem sein Sohn saß und starr wie eine Holzpuppe nach vorne starrte, anstatt sich darum zu kümmern, wohin der Trecker fuhr. Der Pflug nämlich, der vom Traktor gezogen wurde, hatte sich in einem Felsbrocken verkeilt, und eine der Pflugscharen war bereits dabei, sich zu verbiegen. War der Junge denn von allen guten Geistern verlassen? So dämlich konnte doch selbst er nicht sein, dass er das nicht merkte.
„Hensch!“, schrie McCeen so laut, dass er das Gefühl hatte, sein Hals würde bersten.
Der Traktor dröhnte. Hensch hielt das Lenkrad mit beiden Händen umklammert. Über den Kopfhörer seines Walkman sang David Gilmour zu Shine on your crazy diamond.
Die Musik bewirkte, dass sein Körper ruhiger wurde. Sie machte seine Welt irgendwie sanfter. Einheitlicher. Und das war besser, als wenn er den Acker pflügte und dabei keine Musik hörte.
Versuchen Sie es einmal mit Musik, hatte Doc Ashbourne damals gesagt. Beobachten Sie ihn einfach einmal, wie er darauf reagiert. Ma hatte ihm daraufhin diesen Walkman gekauft, sehr zum Ärgernis von Dad.
Was gibst du unser weniges Geld für diesen Quatsch aus?, hatte er gebrüllt. Der Idiot kann sich doch eh nicht über irgendetwas freuen, hatte er noch lauter gebrüllt.
Irgendwas stimmte mit dem Traktor nicht. Hensch hatte das Gefühl, als würde er nach links ziehen, obwohl er ihn geradeaus lenkte. Vermutlich hatte sich der Pflug irgendwo drin verhakt. Er betätigte den Hebel, der dafür sorgte, dass die Hydraulik den Pflug anhob. Der Traktor antwortete mit einem lauten Kreischen, das Hensch selbst durch Gilmours Gitarrensolo hörte. Er trat die Bremse.
Henning McCeen hatte inzwischen wieder seinen Spaten erreicht und hob ihn auf. Etwa zwanzig Meter vor ihm hatte dieser Idiot von Sohn wohl endlich gecheckt, dass da etwas nicht stimmte und den Traktor angehalten. Ein ohrenbetäubendes Kreischen platzte wie eine Welle heran. Was, zum Teufel, machte er jetzt?
Er würde doch nicht versuchen, den Pflug anzuheben.
„Rückwärts!“, brüllte McCeen gegen das Kreischen an. Er würde den Jungen umbringen, wenn er den Pflug zerstörte. „Fahr das scheiß Ding rückwärts!“
Hensch legte den Rückwärtsgang ein. Die Musik war laut. Die Welt war einheitlich.
Henning McCeen hatte den Pflug erreicht. Er rammte den Spaten in den Boden und wollte auf den Traktor zustürmen, um seinen Sohn aus dem Sitz zu reißen. Nicht, ohne ihm zuvor ordentlich eine zu verpassen, allein wegen seiner Dummheit.
In diesem Moment setzte das Fahrzeug mit einem gewaltigen Ruck zurück, die Hebefunktion tat ihr Werk und katapultierte den Pflug aus dem Boden heraus. Henning McCeen spürte den Schlag unter seinem Kinn nicht. Er war bereits ohnmächtig, noch bevor er auf den Boden aufschlug.
Hensch sah im Rückspiegel, dass sich der Pflug befreit hatte. Vermutlich ein Findling, der sich tief in der Erde versteckt hatte. Er setzte noch ein kleines Stück zurück, dann drückte er den Hebel wieder nach unten. Die Hydraulik zischte, und die Pflugscharen sanken sanft zurück ins Erdreich. Dass eines der Messer in diesem Moment das Bein seines Vaters in Mitte des Oberschenkels, abtrennte, merkte Hensch nicht. Erst als er wieder auf dem Rückweg war, sah er ihn auf dem Acker in einer Blutlache gewaltigen Ausmaßes liegen. Das abgetrennte Bein wurde erst Stunden nachdem man Dad ins Krankenhaus gefahren hatte, irgendwo untergepflügt im Boden gefunden.
* * *
Die Welt war einheitlich. Die Musik sorgte dafür. Hensch saß auf einem Baumstamm, der in der Nähe des Pinienwaldes am Rande der Lichtung lag.
Als die Tür der Jagdhütte wenig später geöffnet wurde und ein langer Lichtstrahl einen schmalen Weg auf die Lichtung zauberte, merkte er, dass es bereits dunkel geworden war. Er drückte die Stopptaste seines Walkmans und Gilmour verstummte.
Jason und Sheriff Hawks traten heraus, und ihre langen Schatten wirkten unecht. Zumindest der des Sheriffs. Viel zu dünn, fand Hensch. Er nahm den Kopfhörer ab und ließ ihn in seiner Hemdtasche verschwinden.
„Hensch?“, rief Jason.
Hinter den Silhouetten der Beiden schien Rauch aufzusteigen. Die Luft hier draußen hatte sich merklich abgekühlt, es war also wohl nur die Hitze aus dem Innern des Hauses.
Hensch stand auf und ging neben dem Lichtweg auf die Hütte zu.
„Ah, da ist ja unser wichtigster Mann“, rief der Sheriff.
Als Hensch die beiden Männer erreicht hatte, steckte sich Jason eine Zigarette an, die ihm der Sheriff gereicht hatte. Hensch wusste gar nicht, dass sein Freund rauchte.
Sheriff Hawks legte den Arm um Henschs Schulter, und dieser hatte wieder das Gefühl, ein schwerer Stamm würde ihn nach unten drücken wollen. So wie heute früh draußen auf der Farm.
„Weißt du eigentlich, warum ich dich heute aufgesucht habe, Junge?“
„Sie wollten wissen, ob sie mir vertrauen können.“
Lachend schlug Hawks Jason gegen die Schulter. „Er ist ja gar nicht so dumm, wie du sagst.“
Hensch wandte sich unter dem Arm des Sheriffs hervor. „Seid ihr fertig, oder macht ihr Pause?“
Jason hielt eine VHS-Kassette hoch. „Alles im Kasten. Ich fahre mit dem Sheriff in die Stadt. Ein kleines Bierchen in Duncans Bar geht auf Kosten des Hauses.“ Er lachte laut, und der Sheriff grinste ihn an.
„Wenn du hier fertig bist, kannst du den Pickup nehmen. Aber pass auf, dass er sauber bleibt.“
„Das mach ich“, sagte Hensch und wartete, bis die Rücklichter des Polizeiwagens in der Dunkelheit des Waldes verschwunden waren. Wie unheimliche, rote Augen, die sich langsam schlossen.
* * *
Hensch betrat das Haus und bemerkte als erstes, dass sich der Geruch verändert hatte. Die Sporthallenausdünstung war in den Hintergrund getreten und etwas anderes, etwas Starkes, hatte seinen Platz eingenommen. Etwas, das Henschs Welt nicht mehr einheitlich wirken ließ. Etwas Böses. Etwas, das nicht sein durfte. Das nicht in diese Welt hineingehörte.
Hensch kramte nach dem Kopfhörer. Er spulte die Kassette zurück und wartete auf die ersten Klänge. Der Metallkoffer stand noch immer mitten im Raum, jetzt allerdings war er geöffnet und gab die Sicht auf grauen Schaumstoff frei, der Einbuchtungen für die Kamera, den Scheinwerfer und ein Stativ aufwies.
Hensch würde sich zunächst um die Leiche kümmern. Er hatte das Loch direkt neben Emelies Schwester ausgehoben. Bestimmt hätte es sie gefreut.
Er ging durch den Flur in Richtung des hinteren Zimmers – seine Blase spürte er nicht mehr –, und mit jedem Schritt nahm der Geruch an Intensität zu. Das Böse schwoll an, machte das Atmen schwer. Nur ganz flach sog Hensch die Luft in die Lungen. Er wollte dieses Übel nicht in sich haben.
Die Tür stand offen, und die alte Stehlampe, die sich in der hinteren Ecke des Raumes befand, gab den Blick auf das Stativ mit der Kamera frei. Der mobile Scheinwerfer – fünfhundert Watt, wusste er – war erloschen und gab knackende Geräusche von sich. Der Geruch war fast unerträglich, und nicht einmal die Musik konnte Henschs Welt hier noch einheitlich wirken lassen. Hier war die Welt falsch.
Er betrat den Raum.
Emelie war nicht mehr gefesselt. Ihr kleiner Körper – war sie schon immer so klein gewesen? – lag bäuchlings auf den ehemals weißen Laken. Dieses war inzwischen größtenteils rot gefärbt. Über die anderen Flecken wollte Hensch nicht nachdenken.
Er bückte sich und griff unter das Bett. Nach kurzem Tasten, spürten seine Finger den Karton aus Plastik. Er zog ihn hervor, öffnete ihn und entnahm ihm einen schwarzen Müllsack, den er von einer Rolle abriss. Das Jagdmesser, das neben der Packung mit Einweghandschuhen lag, sah er nicht an, wusste aber, dass es sich dort befand und hoffte gleichzeitig, dass er es nicht gebrauchen musste.
Er blickte auf das Mädchen, auf dessen Körper Bisswunden und Blut ein disharmonisches Bild des Chaos abgaben. Das Laken, das den Körper vor ein paar Stunden noch bedeckt hatte, lag zusammengeknüllt am Fußende des Bettes. Hensch würde das Mädchen darin einwickeln, bevor er es in den Müllsack legte. Er glaubte, dass das irgendwie richtig sei. Höflich, so wie das Grüßen von Obrigkeiten.
Er breitete das Laken aus und legte es vor das Bett – es war noch weiß – dann drehte er die kleine Leiche um. Es bot sich ihm ein grauenhaftes Bild. Die Bisswunden auf der Rückseite des Körpers waren schon unzählig, doch von vorne sah das Mädchen aus, als hätte es eine Nacht im Wald verbracht, und wilde Tiere hätten an ihm ihren Hunger gestillt. Eine der kleinen Brustwarzen fehlte gänzlich.
Hensch stellte wieder fest, dass sich sein Herz erneut im Hals zu befinden schien. Die Augen des Mädchens waren geöffnet.
Er schaltete die Musik ab. Den Kopfhörer hing er sich langsam um den Hals. Sie sah ihn an. Als sich ihre kleine Hand auf die seine legte, zuckte er zusammen. Emelie lebte?
„Du hast … dich … erschrocken“, flüsterte sie.
„Ja“, sagte er leise.
„Es …“ Die winzigen Lippen zuckten, als sie versuchte, zu husten. „Es tut … ganz dolle weh.“
Hensch hob das Laken auf und deckte es über sie. Schnell entstanden rote Flecken, die sich ausbreiteten, und dem Laken ein neues, surreales Aussehen verliehen.
„Bist du hier, … weil du mir … helfen willst, Hensch?“
„Ja.“ Das Sprechen fiel ihm zusehends schwerer. Etwas stimmte in seinem Hals nicht.
Er nahm den Kopfhörer von seinem Hals. „Ich habe dir Musik mitgebracht.“
Emelie versuchte zu lächeln. „Ist es … schöne Musik?“
Hensch legte ihr behutsam die Hörer über die Ohren. „Musik hilft immer. Aber diese hier ist auch schön.“
„Es tut ganz dolle weh, Hensch.“ Sie schloss die Augen. „Machst du die Musik jetzt an?“
Hensch drückte die Play-Taste. Wenig später lächelte Emelie wirklich. „Du … du hast Recht, Hensch.“
„Ja“, sagte er leise.
Noch einmal griff er in die Plastikkiste und holt das Messer hervor.
* * *
Hensch betrat die Scheune und zog hinter sich das Tor zu. Es war früh morgens, und die Sonne war noch nicht aufgegangen.
Den Pickup hatte er neben der Scheune abgestellt. Er hatte noch eine ganze Zeit im Wagen gesessen und auf das Haus seiner Eltern geschaut, doch als er auch nach zehn Minuten noch kein Licht entdeckte, ging er davon aus, dass sie den Wagen nicht gehört hatten.
Die Scheunenluft hatte sich noch nicht aufgewärmt, das würde frühestens in zwei Stunden geschehen. Hensch ging in Richtung der Strohballen und setzte sich auf denselben, auf dem er gestern früh gesessen, und sich um Dads Hühner gekümmert hatte.
Auch jetzt wollte er sich um sie kümmern, allerdings nicht, um seine Lust zu befriedigen. In seiner Hand hielt er das Jagdmesser aus der Plastikkiste. Er würde sich um Dads ganzen Stolz kümmern. Und danach würde Dad sich um ihn kümmern. Der Gedanke daran, löste ein unbekanntes Gefühl in seinem Bauch aus.
Ja, Dad musste sich um ihn kümmern, denn seine Welt würde nicht mehr einheitlich werden. Nicht, weil er seinen Walkman nicht mehr hatte, das war ihm einerlei. Aber er hatte heute festgestellt, was Schmerzen sind. Nicht die, die man verspürt, wenn man sich mit einem Hammer auf den Daumen schlug, oder sich den Kopf an einem Balken stieß. Es war ein anderer Schmerz. Ein böser Schmerz. Ein Schmerz, der dafür sorgte, dass seine Welt nie mehr einheitlich werden würde. Doc Ashbourne hatte Unrecht gehabt. Hensch konnte sehr wohl etwas fühlen. Oh ja, das hatte Emelie Miller heute eindeutig bewiesen.
Er ging in die hintere Ecke der Scheune, dorthin, wo die Hühner auf ihrer Stange schliefen und begann mit seiner Arbeit.
* * *
Henning McCeen schreckte hoch. „Verdammte Scheiße“, zischte er. Seine Frau, die neben ihm im Bett lag, blickte träge unter der Decke hervor.
„Was ist das, Henning?“
McCeen griff nach der Holzprothese, fluchte, und schnallte sie sich ans Bein.
„Sollten wir nicht lieber den Sheriff rufen?“
„Scheiße, da ist jemand bei meinen Hühnern. Glaubst du, der ist noch da, wenn der Sheriff kommt?“
So gut er konnte, humpelte Henning McCeen zum Waffenschrank, um die Schrotflinte zu holen. Nachdem er sie geladen hatte, hielt er inne. „Hast du das gehört?“
Seine Frau stand inzwischen neben ihm. Beide lauschten.
Dann wieder, ganz leise, weit weg: „Dahad! Willst du dich nicht um deine Hühner kümmern?“
Ellen McCeen blickte erschrocken auf ihren Mann. „Das ist doch Hensch. Was, um Gottes Willen, macht Hensch denn schon da draußen?“
„Er ist bei den Hühnern“, keuchte McCeen. „Bei Gott, er ist bei den Hühnern.“ Er humpelte zur Tür.
„Henning, die Waffe. Was willst du mit der Waffe? Es ist doch Hensch.“
Henning McCeen blieb stehen. Ellen sah, wie sich sein Rücken auf und ab bewegte, dann drehte er den Kopf, und noch nie hatte sie ein derart hasserfülltes Gesicht gesehen.
„Das Bein war das letzte, was mir dieser Idiot genommen hat, Frau. Das letzte! Das schwöre ich, so wahr mir Gott helfe.“
Er fand seinen Sohn auf einem Strohballen sitzend, umgeben von toten Hühnerleibern. Das einst blütenweiße Federkleid, das von jeder Jury hochgelobt wurde, wirkte im fahlen Mondlicht schwarz. McCeen wusste, was das bedeutete. Seine Schätze lagen mit aufgeschnittenen Hälsen zu Füßen seines Sohnes, wie Opfergaben für eine kranke Gottheit.
„Was, zum Teufel, hast du getan?“, keuchte McCeen und betrat die Scheune.
Jetzt hob Hensch den Kopf, und Henning McCeen konnte nicht glauben, was er dort sah und hörte. Sein Sohn lachte. Er sah ihn, seinen Vater, an und lachte. Laut und aus vollem Herzen. Dieser kranke Irre lachte ihn einfach aus. Ihn, dem er das Bein genommen hatte. Und jetzt seine Hühner.
Hensch stand auf – lachend – und ging auf seinen Vater zu.
„Sie hat es geschafft, Vater!“ Das Jagdmesser hielt er noch immer in der Hand.
Ein Hund heulte auf. Irgendwo draußen in der Nacht. Einer dieser verwilderten Köter, die sich vermehrten, wie die Karnickel. Kurz darauf hörte Ellen McCeen den Schuss.