Henning macht nur Streit
Kai hüpft über die Platten des Gehweges und die Matchbox-Autos in seinem roten Eimer klappern. Er muss gut aufpassen, denn er darf auf keinen Fall auf die Spalten treten – dann fällt er nämlich in ein tiefes Loch und kommt nie auf dem Spielplatz an und das wäre total schade, schließlich freut er sich so darauf, in der Sandkiste zu spielen.
Zum Glück geht alles gut und Kai erreicht den Spielplatz, ohne auf eine Ritze zu treten.
Es ist toll, dass er schon fünf Jahre alt ist, beinahe ein Schulkind, groß genug, um ganz allein draußen zu spielen. Natürlich hat er ziemlich viel Glück, denn das Haus, in dem er wohnt, steht auf derselben Straßenseite, auf der sich der Spielplatz befindet und Mama kann aus dem Küchenfenster sehen, wie er in der Sandkiste spielt.
Am Spielplatzeingang bleibt Kai stehen. Er will zuerst einmal nachsehen, ob der gemeine Henning da ist. Und ob Anna und Christian, seine Freunde auf dem Spielplatz sind. Wenn Anna und Christian auch draußen spielen, dann hat Kai keine Angst vor Henning, zu dritt können sie sich gegen ihn wehren ... Aber allein hat Kai keine Chance. Henning ist zwei Jahre älter und viel größer und stärker. Vor ein paar Tagen tauchte er plötzlich auf, als Kai gerade schaukelte und bevor Kai wusste, was Henning wollte, hatte der ihn von der Schaukel geschubst. Natürlich ist Kai ganz schnell nach Hause zu Mama gelaufen. Aber als Mama mit ihm auf dem Spielplatz ankam, um einmal in Ruhe mit Henning zu reden, da war der schon verschwunden.
Heute ist Henning zum Glück nirgends zu sehen. Allerdings sind Anna und Christian auch nicht da, aber das ist nicht so schlimm, denn Kai weiß schon genau, was er in der Sandkiste bauen wird: eine riesige Burg. Das kann er sehr gut alleine, da braucht er keine Hilfe.
Hinten in der Sonne sitzen zwei Mütter auf einer Bank. Ihre kleinen Krabbelkinder spielen auf der Wiese. Und in einer schattigen Ecke füttert die alte Frau Hinrichs wieder einmal die Vögel.
„Hallo!“, ruft Kai ihr zu, während er seine Autos in die Sandkiste schüttet.
„Guten Tag, Kai!“, sagt die alte Dame und lächelt freundlich. „Heute ganz alleine?“
„Ja, aber das macht nichts – ich weiß schon was ich bauen will!“, sagt Kai und beginnt sofort zu buddeln.
Henning schlendert kaugummikauend die Straße entlang und tritt wütend gegen eine leere Coladose, dass es nur so scheppert. Eigentlich wollte er zu Hause mit seinen Legosteinen spielen, aber als er die Kiste auskippte, da ist Papa von dem Lärm aufgewacht. Natürlich weiß Henning, dass er Papa unter gar keinen Umständen wecken darf. Papa arbeitet ja nachts. Er bewacht ein großes Kaufhaus und muss bei seiner Arbeit immer total munter und fit sein, deshalb schläft er tagsüber und Henning darf überhaupt keinen Krach machen, wenn er aus der Schule kommt. Heute hat er nur einen klitzekleinen Moment nicht daran gedacht, dass Papa im Nebenzimmer schläft und dass Legosteine beim Auskippen laut rasseln – und da war es schon zu spät. Papa stand in der Zimmertür und war sehr, sehr wütend. Henning muss nun draußen spielen, bis Mama vom Putzen nach Hause kommt. Und er darf auf keinen Fall klingeln, nicht mal, wenn es regnet. So ein verdammter, blöder Mist.
Jetzt ist Henning beim Spielplatz angekommen. Er will mal sehen, was da heute los ist. Die beiden Mütter, die sich in der Sonne unterhalten und auf ihre Babys aufpassen, sehen ihn sofort. Henning kann sich genau vorstellen, was sie zueinander sagen.
„Sieh’ mal, da kommt dieser Streithammel!“
„Dauernd nimmt er den Kleinen die Sandspielsachen weg.“
So was Blödes! Die Babys haben so viel Spielzeug, da kann Henning sich doch wohl mal was leihen. Er gibt es ja wieder zurück. Aber nein – er braucht bloß nach einer herumliegenden Schaufel, mit der absolut niemand spielt, zu greifen, da geht das Gemecker schon los:
„Wirst du das wohl liegen lassen!“ – „Das gehört dir nicht!“
Das hat keinen Zweck.
Aber da drüben, da sitzt die Heulsuse Kai in der Sandkiste. Der Kai hat immer so viele tolle Autos. Henning schaut sich um. Kai ist ganz allein. Anna und Christian sind nirgends zu sehen. Mal sehen, was Kai da baut.
Kai hat eine riesige Burg gebaut. Oben auf der Spitze hat sie vier Wachtürme und ringsherum führt eine glatte Serpentinenstraße bis hinauf. Die Burg ist supertoll geworden. Kai will gerade nach einem seiner Autos greifen, um es von ganz oben bis zum Burggraben hinunter fahren zu lassen, als ein Schatten auf seine Hände fällt. Erstaunt schaut er auf. Eine kalte Hand drückt sein Herz zusammen und ihm wird übel, als er den gemeinen Henning sieht. Henning steht am Rand der Sandkiste und schwingt seinen rechten Fuß langsam hin und her. Der Fuß kommt Kais Burg immer näher. Gefährlich nahe. Es ist ganz klar – Henning will die wunderbare Burg kaputtmachen. Kai hat eine Riesenangst, aber er will nicht weglaufen. Wenn er jetzt abhaut, ist er ein Feigling und außerdem kann er die Burg dann vergessen. Henning wird sie zertreten. Kai muss sich wehren, auch wenn er ganz alleine ist. Er nimmt all seinen Mut zusammen und sagt:
„Lass meine Burg in Ruhe!“
Aber Henning lacht nur und spukt seinen Kaugummi mitten zwischen Kais Autos. Eklig!
„Die Burg ist blöde!“ Henning grinst und sein Fuß tippt ein wenig gegen die Burgmauer, so dass der Sand zu rieseln beginnt. In Kais Bauch grummelt eine heiße Wut.
„Lass das!“, schreit er zornig und die Tränen steigen ihm in die Augen.
„Ist doch nichts passiert, du Heulsuse!“, lacht Henning. „Stell dich bloß nicht so an!“
Zum Glück haben die beiden Mütter mit ihren Krabbelbabys gesehen, in welcher Gefahr sich die Burg befindet. Eine der beiden steht auf und ruft über den Spielplatz:
„Nun lass doch den Kleinen zufrieden! Musst du eigentlich jedes Mal Streit machen, wenn du hierher kommst?“
„Ich hab doch gar nichts gemacht!“, murmelt Henning, aber er zieht seinen Fuß zurück.
„Ich möchte wirklich mal wissen, warum deine Eltern dir nicht beibringen, wie man sich zu benehmen hat!“, sagt die Mutter und setzt sich kopfschüttelnd wieder zu ihrer Freundin auf die Bank.
Kai fühlt, wie der Mut in ihm ein kleines bisschen wächst. Vielleicht haut Henning jetzt ja ab und die Burg ist gerettet?
Tatsächlich, Henning lässt Kai in Ruhe. Er zieht einen frischen Kaugummi aus der Hosentasche und wickelt ihn aus, während er gelangweilt vom Spielplatz schlurft. Kai hört, wie Henning leise „Diese blöde Kuh!“ murmelt. Damit meint er sicher die Krabbelbabymutter, die die Burg gerettet hat.
Kai wartet noch ein Weilchen. Er will ganz sicher sein, dass Henning nicht zurückkommt. Aber Henning ist schon auf den Fußweg eingebogen und nicht mehr zu sehen. Kai ist erleichtert. Da hat er ja wirklich Glück gehabt! Er bessert die Burgmauer aus, gegen die Henning getreten hat. Dann lässt er sein Lieblingsauto, den roten Feuerwehrwagen, von den Wachtürmen hinab in den Sandkasten rasen.
Kai ist so vertieft in sein Spiel, dass er nicht bemerkt, wie die beiden Mütter ihre Babys in die Kinderkarren setzen und sich auf den Heimweg machen.
Frau Hinrichs füttert die Vögel und Kai baut einen riesigen Außenschutzwall um seinen Burggraben herum.
Henning weiß nicht, was er jetzt machen soll. Er geht langsam den Gehweg auf und ab und kickt einen kleinen Stein vor sich her. Zu Hause will Papa schlafen, auf dem Spielplatz sitzen die doofen Mütter und verbieten ihm, dort zu spielen, obwohl der Spielplatz für alle da ist und Mama putzt und putzt bei fremden Leuten. Henning setzt sich auf eine steinerne Gartenmauer und zielt mit kleinen Steinchen direkt neben ein Auto. Leider trifft er aus Versehen die blanke Radkappe – das klirrt toll. Aber sofort öffnet sich ein Fenster und eine Frau schreit:
„Verschwinde! Wo gibt’s denn so was? Einfach fremde Autos mit Steinen beschmeißen! Unerhört!“
Mist! Hier kann er also auch nicht bleiben. Da sieht er, wie die beiden Mütter mit ihren Kinderkarren den Spielplatz verlassen. Das ist Klasse. Dann ist die Heulsuse mit der alten Oma ganz allein auf dem Spielplatz. Henning springt von der Mauer und läuft zurück. Kai sitzt immer noch im Sand und lässt seine Autos auf der Burg herumfahren. Das rote Feuerwehrauto ist prima, damit würde Henning zu gerne einmal spielen.
Kai schaut sich suchend um. Wo ist der gelbe LKW geblieben? Alle Autos sollen oben auf der Burg aufgestellt werden und dann nach und nach hinunterfahren. – Ach, da liegt er ja! Neben dem schmuddeligen Turnschuh. – Ein Turnschuh? Kai erschrickt. Woher kommt denn plötzlich ein Turnschuh? Als Kai aufschaut, blickt er direkt in Hennings grinsendes Gesicht.
„Na, Kleiner? Da staunst du, was?“, fragt Henning und schiebt seinen Fuß langsam immer näher an Kais Burgmauer heran. Voller Angst sieht Kai sich nach den beiden Müttern um, aber die sind verschwunden. Er ist ganz allein mit dem fiesen Henning, der jetzt jeden Augenblick die Burg zertreten wird. Nur Frau Hinrichs ist noch da, aber die alte Frau ist keine Hilfe. Sie kümmert sich ja nur um ihre Vögel. Was soll er bloß machen? Wenn er schon die Burg nicht retten kann, so will er wenigstens seine Autos einsammeln. Fieberhaft sucht er sie zusammen: den grünen Sportwagen, das Polizeiauto, die beiden LKWs – und da, das Feuerwehrauto. Das ist ganz neu! Doch bevor Kais Hand das Feuerwehrauto erreicht, hat Henning schon seinen Fuß darauf gesetzt. Er muss sein Gewicht nur ein ganz kleines bisschen verlagern und der Wagen bohrt sich in den Sand. Hoffentlich geht das Auto nicht kaputt. Kai ist wütend und traurig zugleich. Zum zweiten Mal steigen ihm heute die Tränen in die Augen. Das ist so gemein. Wieso kann der blöde Henning ihn nicht in Ruhe lassen? Auf dem Spielplatz gibt es noch eine Rutsche, zwei Schaukeln, ein Karussell und ein Klettergerüst – und alles ist leer. Warum spielt Henning nicht dort? Warum hat er es auf Kais Autos und die tolle Burg abgesehen? Kai beißt sich auf die Lippen. Seine Wut schmeckt heiß und salzig.
„Gib mir mein Auto wieder!“, ruft er.
Henning hebt seinen Fuß gerade so weit hoch, dass Kai das rote Autodach durch den Sand schimmern sieht, und sagt höhnisch:
„Hol’s dir doch, du Heulsuse!“
Aber als Kai seine Hand nach dem Auto ausstreckt, tritt Henning sofort wieder darauf.
„Das ist gemein! Das Auto gehört mir!“
Nun ist Kai richtig verzweifelt und seine Stimme klingt ganz dünn und klein.
Henning schiebt seinen Fuß über das Auto hinweg, auf die Burg zu und tritt mit der Fußspitze eine kleine Delle in die Mauer.
Kai ist die Burg jetzt schon beinahe egal. Hauptsache, er kriegt seine Autos zurück.
„Ja, ich glaube, das könnte klappen ...“
Die Stimme von Frau Hinrichs klingt ruhig und nachdenklich. Die alte Frau steht auf einmal hinter Kai und betrachtet die Burg.
Henning weicht vor Schreck einen Schritt zurück und Kai schnappt sich geistesgegenwärtig sein Feuerwehrauto.
Henning weiß genau, was jetzt kommt. Frau Hinrichs wird mit ihm meckern. Bestimmt verteidigt sie Kai. So ist es immer. Alle sind sie immer für die anderen. Nie ist jemand auf Hennings Seite. Er presst die Lippen fest aufeinander und blickt die alte Frau trotzig an. Soll sie doch schimpfen. Das macht ihm gar nichts aus.
Kai stopft blitzschnell alle Autos in den Sandeimer. Dann wartet er erst mal ab. Henning ist sowieso nicht mehr lange hier. Frau Hinrichs wird ihm jetzt ganz sicher sagen, dass er nicht dauernd Streit machen soll. Und dann haut Henning ab, wie immer, Kai kennt das ja. Und wenn Henning weg ist, kann Kai in Ruhe mit seiner Burg spielen. Frau Hinrichs ist Klasse! Kai schaut Henning triumphierend an.
„Wir sollten drei Tunnel unter der Burg hindurch bauen“, sagt Frau Hinrichs und hockt sich neben Kai in den Sand. „Du könntest hier anfangen, Kai. – Ich beginne auf dieser Seite und du, Henning, du könntest uns helfen und von dort drüben buddeln.“
Kai traut seinen Ohren kaum. Was soll das denn? Frau Hinrichs schlägt vor, dass Henning einen Tunnel unter Kais Burg hindurch gräbt? Das darf ja wohl nicht wahr sein! Henning wird die Burg kaputtmachen! Das ist doch klar!
Kai will protestieren, aber Frau Hinrichs legt ihm eine Hand auf die Schulter und sagt:
„Wenn wir ganz vorsichtig sind und tief genug graben, dann könnte es klappen. Wir könnten drei Tunnel unter deiner Burg bauen, ohne dass sie einstürzt. Und dann können deine Autos unterirdisch von einer Seite der Burg auf die andere fahren. Wäre das nicht toll?“
Und Frau Hinrichs fängt an zu graben.
„Ja ... Schon ...“ Kai nickt. Er ist ziemlich durcheinander. Klar, Tunnel wären toll, aber dass Henning mitbuddeln soll, das ist ganz und gar nicht toll.
Henning schaut Frau Hinrichs mit offenem Mund an. Meint die alte Frau das wirklich? Er soll mitbuddeln? Bestimmt ist das nur so ein Trick. Gleich wird sie anfangen zu meckern, und dann muss er wieder vom Spielplatz gehen. Henning wartet auf das Donnerwetter. Vorher geht er jedenfalls nicht, das steht schon mal fest! Aber Frau Hinrichs kümmert sich nicht um ihn. Und was macht Kai? Henning wirft ihm einen Blick zu. Kai kniet vor seinem Sandeimer und starrt die alte Frau fassungslos an. Vielleicht ist es ja doch kein Trick. In Hennings Magen kribbelt eine kleine, warme Vorfreude. Frau Hinrichs hat gesagt: „Henning, du könntest uns helfen.“ Sie hat nicht gesagt: „Rühr’ die Burg nicht an! Verschwinde!“ Vielleicht meint sie es Ernst. Henning kann es ja einfach mal versuchen. Er lässt sich auf die Knie nieder und kratzt mit den Fingern ein wenig Sand aus der Burg heraus. Hier soll sein Tunneleinstieg sein. Und er wird ganz vorsichtig sein – schließlich soll die Burg nicht seinetwegen einstürzen. Er kann nämlich vorsichtig sein! Frau Hinrichs und Kai werden schon sehen!
Kai wendet langsam den Kopf. Mit einer Hand hält er seinen Eimer mit den Autos fest. Neben ihm buddelt Frau Hinrichs und drüben kniet Henning und gräbt. Gräbt einen Tunnel unter Kais Burg. Kai hält den Atem an. Das geht niemals gut. Jeden Moment wird Henning mit der Faust auf die Burg hauen oder etwas ähnlich Schreckliches tun. Auf jeden Fall wird er die Burg zum Einsturz bringen. Kai weiß das ganz genau. Frau Hinrichs spinnt wohl! Warum hat sie Henning bloß nicht weggejagt? Der blöde Henning soll die Burg zufrieden lassen. Kai holt tief Luft. Er wird jetzt klarstellen, wem die Burg gehört und wer daran herumbauen darf.
„Oh, Kai!“ Frau Hinrichs schaut von ihrem Tunnel hoch. „Ich glaube, du solltest ganz schnell anfangen, von deiner Seite aus zu buddeln. Wenn wir nicht gleichmäßig von allen drei Seiten zur Mitte hin graben, dann wird das Ganze schief und die Burg könnte einstürzen.“
Kai bekommt einen Schreck. Er will auf keinen Fall, dass die tolle Burg kaputt geht. Dazu hat er zu lange an seinem Kunstwerk gebaut. Frau Hinrichs und Henning buddeln einfach immer weiter. Wenn der Burg nichts passieren soll, dann muss Kai sofort mit dem Bau seines Tunnelabschnittes beginnen.
„Na gut“, sagt er, hockt sich hin und fängt ebenfalls an zu graben.
Henning arbeitet ruhig und konzentriert. Er ist ganz vorsichtig. Je tiefer er kommt, umso kühler wird der Sand. Kühler und ein wenig feucht. Das wird ein unheimlich moderiges Kellergewölbe, das sie da unter der alten Burg bauen. Dort werden Fledermäuse wohnen und Kellerasseln und nur ganz besonders mutige Autofahrer werden sich trauen, durch die unterirdischen Höhlen zu fahren. Ob es noch lange dauert, bis er mit seinen Fingern auf eine andere buddelnde Hand stößt? Henning holt eine große Handvoll Sand aus seinem Gang und schiebt ihn zur Seite. Er wird die Burg nicht einstürzen lassen, da ist er ganz sicher. Hoffentlich sind die anderen beiden auch so vorsichtig. Henning blickt auf und sieht, dass Frau Hinrichs rechter Arm bis zum Ellbogen in ihrem Tunnel steckt. Ihre grauen Locken hängen ihr wirr in die Stirn und die Brille ist ein wenig beschlagen. An ihrer Seite hat die Burg jedenfalls noch keinen Riss. Sie ist allem Anschein nach eine sehr geschickte Baumeisterin. Und was macht Kai? Der hat sich auf den Bauch gelegt und buddelt mit Gefühl. Immer wieder schiebt er den Sand zur Seite. Sein kurzer Arm verschwindet tief im Tunnel. Ab und zu hebt er den Kopf und schaut misstrauisch zu Henning. Was Kai wohl denkt? Sehr freundlich sieht er nicht aus. Bestimmt traut er es Henning nicht zu, einen supertollen Tunnel zu bauen, aber da irrt er sich!
Kai muss eine Verschnaufpause einlegen. Spannend ist das! Sein Tunnel ist schon sehr tief. Jetzt wird es nicht mehr lange dauern und der Durchbruch ist da. Der gefährlichste Augenblick wird sein, wenn sich ihre Hände unten im kalten feuchten Sand treffen. Hoffentlich geht alles gut. Kai schaut zu Henning, der mit roten Wangen gräbt und gräbt. Kai wusste gar nicht, dass Henning so vorsichtig sein kann. Es sieht überhaupt nicht so aus, als würde er die Burg jeden Moment zu Klump hauen. Kai hätte das nie gedacht. Aber was nicht ist, kann ja noch werden. Henning ist unberechenbar. Kai ist auf alles gefasst. Und was macht Frau Hinrichs? Ihre Bluse ist voller Sand, ihre Zungenspitze lugt zwischen ihren Lippen hervor und flitzt ab und zu von einem Mundwinkel zum anderen. Kai hat noch niemals eine alte Frau gesehen, die so eifrig im Sand buddelt. Irgendwie unglaublich. Kai steckt seinen Arm wieder in den Tunnel. Als seine Fingerspitzen die hinterste Tunnelwand berühren, beginnt diese wegzubröseln. Der Sandwiderstand löst sich auf und Kais Finger zappeln im Nichts. Das ist ein irres Gefühl! Er hat es geschafft! Er ist durchgekommen!
Uuuups! Da war ein anderer Finger, eine fremde Hand. Kai hat es genau gespürt. Er hat jemanden berührt. Hoffentlich war das die Hand von Frau Hinrichs. Henning will Kai nicht so gerne anfassen. Am liebsten würde er seine Hand ganz schnell wegziehen, aber dann reißt er vielleicht die ganze Burg ein und das wäre natürlich ziemlich doof. Deshalb rutscht Kai sachte nach hinten, so dass er seinen Arm behutsam aus dem Tunnel entfernen kann.
Henning hält den Atem an. Vor seinen kratzenden Fingern ist kein Sand mehr. Nichts – nur noch ein Loch - und fremde Finger, die sich ganz schnell zurückziehen ... Es hat geklappt! Er ist auf einen anderen Tunnel gestoßen. Kais? Oder auf den Tunnel von Frau Hinrichs? Egal. Henning schaut auf. Frau Hinrichs hat ihre Hand schon wieder aus dem Sand gezogen, sie klopft sich ihre Bluse sauber und strahlt über das ganze Gesicht. Kai robbt gerade rückwärts, aber seine Augen leuchten. Henning wird es ganz heiß vor Freude.
„Wir haben es geschafft!“, ruft er begeistert und grinst vor Stolz wie ein Honigkuchenpferd.
„Prima Arbeit!“, stimmt Frau Hinrichs zu. „Die Burg steht noch und unsere Tunnel sind fertig. Das ist großartig!“
Henning wischt sich die Hand an der Hose ab. Er fühlt sich so zufrieden, wie schon lange nicht mehr. Das ist ein tolles Gefühl, fast wie Weihnachten, wenn Oma die Zimtsterne auf den Tisch stellt. Nun müssen sie aber die Tunnel sofort ausprobieren und mit den Autos hindurchfahren. Henning schnappt sich ein Auto aus Kais Eimer. Sein Autofahrer ist ein total mutiger Mann, der hat keine Angst vor feuchten, kalten Grüften mit Fledermäusen und Kellerasseln, sondern fährt sofort flott ins Dunkle hinein – hinein in die Nacht der Vampire.
Kai zieht die Luft scharf durch die Zähne ein. Eben war noch alles prima. Die Tunnel sind fertig, die Burg steht noch und Henning hat bisher keinen Streit gemacht – aber jetzt! Henning hat sich einfach Kais Lieblingsauto aus dem Eimer gerissen. Grapsch und das war’s! Ausgerechnet den Feuerwehrwagen, den Kai vor wenigen Minuten erst vor Henning gerettet hat! Das kann doch wohl nicht wahr sein. Eben hat Kai sich so gefreut und peng! – schon hat Henning wieder alles verdorben.
„Kai, würdest du mir ein Auto leihen?“
Das ist die Stimme von Frau Hinrichs. Sie lächelt und streckt Kai ihre Hand entgegen. Klar, natürlich darf Frau Hinrichs ein Auto haben. Kai greift in den Eimer und reicht ihr einen Lkw.
In diesem Moment schaut Henning auf. Er wirkt ein wenig verunsichert.
„Ich darf doch dein Auto nehmen, oder?“, fragt er und wird dabei sogar ein bisschen rot. Es ist ihm doch wohl nicht peinlich, dass er einfach in Kais Eimer gegrapscht hat? Na gut, jetzt hat Henning das Feuerwehrauto ja schon und die Burg hat er ja auch nicht kaputt gemacht. Vielleicht passiert dem Auto gar nichts. Kai nickt gnädig. Er wird aber auf jeden Fall sehr gut aufpassen, was Henning mit dem Auto macht. Der gelbe Lkw und der rote Feuerwehrwagen fahren in den Tunnel. Sie treffen sich in der Mitte und auf einmal kommt das Feuerwehrauto bei Frau Hinrichs aus dem Tunnel und Henning hält den kleinen LkW in der Hand. Sie haben in der Mitte getauscht und der Feuerwehrwagen ist noch ganz heil.
Jetzt will Kai aber auch mal ein Auto unter der Burg durchfahren lassen. Er nimmt das Polizeiauto. Als er mit seinem Wagen in der Tiefe der Tunnel ankommt, sind dort schon andere Finger und Autos. Vorsichtig krabbeln die verschiedenen Finger umeinander herum und tauschen die Autos. Und dann taucht das Feuerwehrauto bei Kai auf, Frau Hinrichs hat wieder den Lkw in der Hand und Henning hält den blitzenden Polizeiwagen hoch. Klasse!
Frau Hinrichs seufzt ein wenig und fährt sich mit der Hand über den Rücken.
„Ich glaube“, sagt sie und steht mühsam auf, „ich muss mich jetzt wieder mal auf die Bank setzen. Meine Knochen sind halt nicht mehr die jüngsten.“
Einen klitzekleinen Augenblick lang hat Kai Angst. Wird Henning die Burg kaputtmachen oder das Feuerwehrauto klauen, wenn Frau Hinrichs nicht mehr neben ihnen kniet?
Heimlich beobachtet Kai, was Henning jetzt tut. Aber der stellt gerade das Feuerwehrauto oben auf der Burg ab und sieht ganz zufrieden und harmlos aus.
Henning parkt das Feuerwehrauto und schaut sich nach dem gelben LKW um. Da entdeckt er, dass Frau Hinrichs wieder auf der Bank sitzt. Schade! Jetzt wird Kai bestimmt gleich seine Autos wieder haben wollen und das war’s dann. Das ist das Ende von dem schönen Spiel. Er hätte zu gerne noch weiter mit den Autos und der Burg gespielt. Es fing gerade an ganz besonders viel Spaß zu machen. Henning seufzt.
Henning seufzt? Kai muss sich verhört haben. Warum sollte Henning seufzen? Nur weil Frau Hinrichs wieder auf der Bank sitzt? Das kann Kai nicht glauben. Aber wenn er sich Henning so ansieht, dann bekommt er das Gefühl, dass Henning traurig ist. Auf jeden Fall sieht er überhaupt nicht nach Streit aus. Kai gibt sich einen Ruck und sagt:
„Es brennt jetzt wohl im Tunnel. Ich fahre mit der Feuerwehr und sehe mal nach!“
Und mit diesen Worten lässt er die Feuerwehr in den Tunnel rasen. „Tatü! Tata! Tatü! Tata!“
Henning fällt ein Stein vom Herzen. Er greift nach dem Polizeiwagen und sagt: „Genau! Du kommst mit der Feuerwehr und ich mit der Polizei. Wir müssen nämlich alles absperren!“