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Henkersfrühstück
Vorgestern hatte Rudolf am Küchentisch den Brief so oft gelesen, bis ihm die Buchstaben vor den Augen schwammen. Jetzt haben sie mich aufgespürt, die Juden. Dieser Gedanke ließ seine Hand zittern, als er das halbseitige Schreiben auf dem Tisch ablegte.
Im Rücken steif vom langen Sitzen stakste er zur Anrichte. Hier und da aufgequollene Dielen knarzten unter seinen löchrigen Pantoffeln. Aus dem oberen Fach des fast antiken Küchenschranks nahm er eine Flasche Magenbitter. Ihm war flau. Und wie immer, wenn ihm nicht wohl war, nahm er einen Schluck direkt aus der Flasche. Wozu ein Glas schmutzig machen, wenn man alleine lebt. Aber vorgestern hatte er noch einen zweiten getrunken und war dann zum Tisch zurückgeschlichen.
Er blieb in der Abenddämmerung sitzen und kam nicht einmal auf die Idee, das Licht anzuknipsen. Schon vor Jahrzehnten hatte er es sich angewöhnt, Strom zu sparen, da er als Nachtwächter wenig Geld verdiente. Das entsprach der Wahrheit, nur gab es noch eine weitere, eine höhere Wahrheit, die er zwar ahnte, doch nie in Worte fasste: Er konnte sich im Licht nicht ertragen; sein Gewissen trieb ihn in die Schatten.
Jetzt, nachdem er den Brief gelesen hatte, wird es ihn nachdrücklicher denn je bedrängen. Das war mehr als eine Ahnung, er wusste es. Und bereits während er den Brief zurück ins Kuvert schob, vernahm er das Wispern.
Während er sich bettfertig gemacht hatte, hielt er das Geflüster über Mord und Schande, seinen Mord und seine Schande, selbst dann noch aus, als es sich zu einer Plage entwickelte.
In seiner Kammer, die Bettdecke hatte er sich bis über den Kopf gezogen, raubte ihm die Stimme den Schlaf. Sie frisst deinen Verstand auf, nuschelte er mit dem Bettzipfel im Mund und wickelte sich fester ein.
Später, als er in seinem Kopf glühendes Fieber gespürt hatte, das er für nichts Geringeres als Wahnsinn hielt, fand er zu einer Erkenntnis: Keine Waffe vermag dieses Grauen zu stoppen, es sei denn, du gebrauchst sie gegen dich selbst.
Dieser Gedanke hatte etwas Tröstliches, war ein Schlupfloch, wenn auch ein arg finsteres. Und dieser Gedanke stopfte dem Wisperer das Maul.
Den Rest der Nacht träumte Rudolf davon, wie er dem Diktat der Zeit trotzte, wie er das Unmögliche vollbrachte, indem er den alten Fluss ein Stück hinaufpaddelte. Nicht zum Spaß, nein, um seinen Fehler zu korrigieren, sein bisheriges Leben von der Tafel zu wischen und ein neues zu zeichnen. Eines, das nicht von Scham und Angst gelenkt wurde. Eines, wie er es in seinen Tagträumen sah, mit Freunden, die über seine Späße lachen, einer Frau, die ihn liebt, und sonnigen Nachmittagen im Zoo, wo er seinen Kindern Softeis spendiert.
Im Halbschlaf streckt Rudolf die Hand nach dem Wecker und schaltet das Bimmeln aus. Der Rheumaschmerz in seiner Schulter weckt ihn endgültig. Nach seiner Erfahrung wird es einer von den Tagen werden, an denen sich das Rheuma im rechten Arm hinunterfrisst. „Auch damit wird bald Schluss sein“, grollt Rudolf, schlurft ins Bad, duscht ausgiebig und rasiert sich besonders sorgfältig, was bei dem faltigen Gesicht nicht einfach ist. Aber er hat Zeit. Alles ist vorbereitet.
Gestern Morgen hatte er seine kleine Wohnung aufgeräumt und bis in den hintersten Winkel geputzt. Es war einer der seltenen Tage gewesen, an denen das Rheuma gnädig gestimmt war. Unter anderen Umständen hätte Rudolf ihn als guten Tag eingestuft, an dem er ohne Schmerzen – bei halb geschlossenem Rollo – ein Buch hätte lesen können.
Am frühen Nachmittag war er mit einem Taxi zum Baumarkt gefahren, um eine Bohrmaschine, Schraubhaken samt Dübel, eine Plastikwanne und ein Seil zu kaufen. Später machte er Besorgungen beim Schlachter und beim Bäcker.
Abends hatte er noch einmal überlegt, sich seiner Schande öffentlich zu stellen und probiert, eine kleine Rede zu verfassen, als Geständnis und Abbitte zugleich. Er hatte Stichpunkte notiert und versucht, Rechtfertigungen in vorteilhafte Worte zu kleiden. Am Ende hatte er doch das Seil geknotet.
Die alten Pantoffeln gegen gewienerte Halbschuhe getauscht, in scharf gebügelter schwarzer Bundhose, einem neuen Oberhemd mit langem Arm – also nach seiner Ansicht recht ordentlich gekleidet –, und nach Rasierwasser duftend – was ihm weniger behagt, weil er es nicht gewohnt ist – betritt er die Küche.
Im Raum ist es schummrig. Noch steht die Sonne auf der anderen Seite. Rudolf knipst das Licht nicht an, obwohl er jetzt nicht mehr zu sparen braucht.
Er setzt die Pfanne auf, gibt einen Klumpen Margarine hinein, geht zu dem Tisch mit den Dingen vom Baumarkt und packt die Bohrmaschine aus. Gott sei Dank liegt eine umfangreiche Gebrauchsanweisung bei. Jetzt ist er nicht mehr so skeptisch wie gestern, als ihm Vaters Ausspruch nicht aus dem Sinn gegangen war: „Junge, selbst wenn du vier Hände hättest, es wären allesamt linke!“
Damals hatte er beim Anbringen der Verdunklungsrollos helfen sollen. Es waren die letzten Worte des Vaters an ihn gewesen. Am nächsten Morgen, in aller Frühe, rückte der Vater mit seiner Einheit in den Kaukasus aus und kam nicht mehr zurück.
Das Fett zischt und spritzt. Rudolf legt drei Schinkenscheiben in die Pfanne, gratuliert sich zu der Idee eines letzten üppigen Frühstücks und schämt sich seiner gestrigen Absicht, sich mit einer Ansprache zu erklären. Nein, zünftig speisen, Haken in die Decke, Seil um den Hals und Schluss. Alles andere wäre nicht zu ertragen, alles andere würde den großen Wisperer wecken, schlimmer noch, er würde fortan das Wissen um seine Schande nicht nur in den eigenen Augen, sondern in denen jedes Menschen erkennen.
Der Duft von gebratenem Fleisch steigt ihm in die Nase. Etwas an dem Geruch ist seltsam. Rudolf schnuppert über der Pfanne wie ein Spürhund. Ein leichter Beigeruch hängt dran, muffig wie von nasser Asche, die auf heißen Steinen trocknet. Der Gestank liegt wie ein Kissen auf der Stadt.
Rudolf geht vorsichtig, den Blick immer auf seine Stiefel. „Fall bloß nicht auf den kochenden Asphalt!“ Das hat Mutter noch gesagt, bevor sie zur Flak am Nussberg eilte.
„Komm schneller“, schnauzt Hermann, „träumen ist was für Backfische. Du hast ab heut wichtige Aufgaben, bist groß genug, ein Werwolf zu sein.“
Werwolf? Dieses Wort hat er noch nie gehört. Zu fragen traut er sich nicht, weil es nach nichts Gutem klingt, dieses Werwolf. Und vielleicht ist Hermann jetzt auch völlig durchgedreht, wo ihm doch in Russland ein Granatsplitter die halbe Stirn weggeschlagen hat.
Der Veteran zerrt Rudolf mit der Hand, die ihm geblieben ist – „Die andere kämpft noch an der Ostfront“, hat er ihn sagen hören – durch die vom Löschwasser dampfenden Ruinen der Innenstadt.
„Braunschweig ist jetzt eine Festung!“
Rudolf blickt sich um. „Wo?“, fragt er und bekommt von Hermann eine Ohrfeige.
„Auf Befehl des Kreisleiters Heilig, du Dummkopf!“, erklärt er. „Und wir Werwölfe haben unsere Festung zu verteidigen. Bis zum letzten Blutstropfen!“
Männer der Aufräumkolonnen rufen Anweisungen. Löschschläuche liegen längs und quer. Alte Leute wühlen in schwelenden Trümmern nach Resten ihrer Habe, die Blicke sorgsam abgewendet von den im Phosphorfeuer geschwärzten Leichen.
„Scheiß Tommys, verfluchte Royal Air Force!“, grollt Hermann und Rudolf fragt sich nicht zum ersten Mal, wie etwas, das solch wohlklingende Namen trägt, so was Furchtbares tun kann.
Plötzlich surren Granaten heran. Die Ruinen erzittern unter Artilleriefeuer. Eine dürre Frau im rußgeschwärzten Morgenrock bleibt mit den Sandalen am weichen Teer kleben, rennt barfuß und kreischend vorbei und duckt sich hinter einem Schuttberg. Herman zerrt ihn in eine schmale Gasse mit Kopfsteinpflaster. „Hier kommen wir schneller voran. Unser Kreisleiter braucht jetzt dringend Burschen wie dich“, keucht er und Rudolf hofft, dass er neben seiner Mutter, die ja auch dringend gebraucht wird, wie sie ihm gesagt hatte, in der Flakstellung helfen darf. Dann sähe er sie wenigstens ein paar Stunden länger.
„Einem Werwolf sind keine Einschränkungen aufgebürdet. Er hält eigenständig Gericht und entscheidet über Leben und Tod und vollstreckt jedes Urteil sofort an Ort und Stelle“, erklärt Hermann keuchend.
Rudolf fragt sich, was das bedeuten könnte. Jedenfalls hörte es sich nicht danach an, seiner Mutter im Flakbunker bei der Essensausgabe helfen zu dürfen.
Zwischen dem Lärm der nahen Explosionen und Hermanns gebrüllten Worten vernimmt Rudolf plötzlich Schreie aus einer Kelleröffnung. Sie klingen eher nach Schmerzensschreien als nach Hilferufen. Aufgeregt weist er Hermann darauf hin, und dieser meint, dass man Kameraden in Not niemals alleine lassen dürfe.
Eine Sprengbombe hat das Haus zerplatzen lassen. Der Schornstein steht wie ein Denkmal inmitten der Trümmer. Der Keller scheint den Angriff überstanden zu haben.
Hermann räumt mit seiner Heimatfronthand, wie er sie nennt, einige Steine zur Seite, schiebt Rudolf durchs zerborstene Kellerfenster und krabbelt dann selbst hindurch.
Ein Teil des Raumes liegt im Dunkeln. Wo Licht hinfällt, sieht Rudolf nur Qualm und wirbelnden Staub. Unter seinen Stiefeln knirscht es. Neben dem Brandgestank riecht er süße Marmelade und saures Apfelmus. Alle drei Gerüche sind ihm zuwider und ihm wird übel.
Hermann hustet und ruft: „Heil Hitler!“ Die Schmerzensschreie enden wie erstickt. Es kommt kein Gruß zurück. „Wo sind Sie? Wie können wir helfen?“
„Alles in Ordnung. Vielen Dank. Wir brauchen keine Hilfe.“ Die Stimme aus der hinteren Ecke klingt jung und verängstigt.
„Wer ist da?“ Hermann brüllt jetzt. „Machen Sie Meldung, verdammt!“ Er schaltet seine Telko Trio an und entfernt die Verdunklungsklappe von der Linse. Ein Gewölbebogen ist geborsten, Steine liegen herum, ein Wandregal ist gebrochen, Scherben von Geschirr und Einmachgläsern bedecken den Boden. Längs der hinteren Wand ist im Dunst ein Feldbett zu erkennen, davor ein paar kalte Kerzenstumpen auf einer Holzkiste, aber keine Menschenseele.
Vor Aufregung vergisst Rudolf seine Übelkeit.
„Das kam bestimmt aus dem Schrank“, flüstert Hermann, drückt Rudolf die Lampe in die Hand, zieht eine P 38 und knurrt: „Deserteure.“ Dann schleicht er gebückt ein paar Schritte vor.
Rudolf betrachtet die Wehrmachtslampe. So eine wollte er schon immer haben, dann könnte er trotz Verdunklungsbefehl im Bett lesen.
„Verdammt, leuchte den Schrank an, Werwolf“, befiehlt Hermann leise und gleich darauf brüllt er: „Aufmachen und mit erhobenen Händen raustreten!“
Die Schranktür knarrt. Ein geschorener Kopf schiebt sich aus dem Spalt und zuckt wieder zurück. Hermann springt vor und reißt die Tür auf. „Na, schau einer an.“ Ein Junge und ein Mädchen drücken sich an die Rückwand und blinzeln ins Licht.
„Judenbrut! Mitten in unserer Festung. Was sagt man dazu.“ Er wedelt mit der Pistole. „Raustreten und in Reihe Aufstellung nehmen!“
Das Mädchen nimmt den Jungen in den Arm. „Mein Bruder ist verletzt, er kann nicht gehen“, jammert sie und deutet auf seinen blutenden Kopf. Auch die Hose ist blutig und zerrissen. Dem Jungen fallen die Augen zu.
„Dann kriecht er eben!“
Rudolf weiß nicht recht, ob er Angst haben soll. Juden, so hat Mutter oft gesagt, die verwirren einem den Geist und stehlen dir dann dein letztes Hemd. Aber diese hier haben nichts. Der Schrank ist leer.
Das Mädchen kriecht aus seinem Versteck, der Junge kippt zur Seite und bleibt liegen. Seine Schwester hockt sich weinend vor Hermann auf den staubigen Boden.
„Hör auf zu plärren!“, schnauzt Hermann das Mädchen an.
Er geht zu dem Jungen, schüttelt ihn und meint, der hätte sich im rechten Moment verdrückt. Dann stellt er sich vor Rudolf, atmet tief durch und streckt die Brust heraus. „Werwolf Rudolf, dies ist deine Feuertaufe. Dies wird deine erste Amtshandlung für den Führer.“
„Muss ich nicht erst meinen HJ Führer fra…“
„Papperlapapp! Wir haben hier einen Sonderfall. Der fordert sofortiges Handeln, wie Goebbels es verlangt.“ Er drückt Rudolf die Pistole in die Hand und nimmt ihm die Telko ab. „Werwolf! Tu deine heilige Pflicht. Sprich das Urteil und vollstrecke!“
„Aber sie hat nix gestohlen, der Schrank ist leer.“
„Was faselst du da? Es ist ein verdammtes Judenbalg, mehr braucht man nicht zu wissen.“ Dabei leuchtet er mit der Lampe Rudolf ins Gesicht.
„Also, Werwolf! Das ist ein Befehl im Namen des Führers!“, schreit er ihn an. Spucke regnet Rudolf ins Gesicht.
„Fälle dein Urteil und vollstrecke das Urteil! Hier und jetzt!“
Rudolf starrt auf die Pfanne mit den verkohlten Schinkenscheiben und hört das Echo von Hermanns Worten: Fälle dein Urteil … vollstrecke das Urteil … hier und jetzt …
„Ja, auf Mord steht der Tod. Das Urteil vollstrecken, hier und jetzt“, murmelt er, stellt den Herd aus und schlurft zum Tisch mit den Utensilien vom Baumarkt.
Die Schlinge hat er gestern bereits geknotet. Gut so, denkt er, denn die rechte Hand wird langsam steif. Das Rheuma.
Jetzt gilt es, rasch den Haken in die Decke zu setzen. Dazu muss mit der verdammten Maschine ein Loch gebohrt werden. So etwas hat er noch nie gemacht. Darum liest er zunächst die Gebrauchsanweisung zur Bohrmaschine. Es darf nichts schiefgehen.
Nach einer Weile und zumindest theoretisch ausreichend vorbereitet, steckt er die Bohrspitze ins Schnellspannfutter, merkt, dass er eine Verlängerungsschnur braucht, kramt in der Abstellkammer danach – was bei dem nun feurigen Rheuma nicht ganz einfach ist – und schließt die Bohrmaschine an.
„Du musst sie auf Schlagbohren einstellen“, grummelt er und dreht das Gerät hin und her, bis er den Schalter findet.
Es ist kurz vor Mittag, niemand wird sich über den Lärm beschweren. Das ist ihm wichtig, ein unauffälliger und sauberer Abgang. Mit seinem Mord hat er genug Schmutz in diese Welt gebracht. Um das Rollo braucht er sich nicht auch noch zu kümmern, das kann oben bleiben, denn die Sonne wird erst in einer guten Stunde hier hereinscheinen. Ebenfalls in einer guten Stunde will dieses Judenmädchen von damals samt Anhang kommen und ihn holen, um ihn endlich, nach jahrzehntelanger Suche, als Lebensretter zu feiern. Einen Saal hätten sie sogar dafür gemietet, hat sie ihm geschrieben.
Aber er hat Zeit genug, all dem zu entgehen.
Auf den Stuhl zu klettern, den er als Leiter auf den Tisch gestellt hat, ist ein langwieriges Unterfangen. Krampfhaft klammert er sich mit der einen Hand an die Lehne, während er mit der anderen unter Mühen die schwere Maschine hält. Immer wieder wird ihm schwindelig dabei. Doch er gibt nicht auf, das Urteil muss endlich vollstreckt werden. Das gerechte Urteil, und das lautet nicht, den Mordbuben in einem Saal voller Menschen zu feiern. Was für ein Irrsinn!
Oben auf dem Stuhl angekommen, schaltet er testweise den Bohrer ein. Der Bohrer röhrt und vibriert in seinen Händen. Das Schlagwerk setzt Rudolfs Arm bis in die Schulter in Flammen. Rasch stellt er das Gerät aus. Eine kurze Pause, nur bis der Schmerz erträglich geworden ist, die braucht er jetzt, die nimmt er jetzt, obwohl er ahnt, dass die Zeit ihm enteilt.
Seine Mutter kommt ihm in den Sinn. Damals, nach der Tat, konnte er ihr nicht in die Augen sehen. Als sie vom Dienst nach Hause kam, gab er vor, dringende Botengänge für den Führer der HJ erledigen zu müssen.
Am nächsten Tag, Hermann war inzwischen gefunden und wie viele andere eilig verscharrt worden, was Rudolf keineswegs beruhigte, da kam sie nicht vom Dienst zurück. Ja, das muss einen Tag vor der Kapitulation der Festung Braunschweig gewesen sein, als die Angriffe einem keine Pause mehr gönnten, weil nachts die Bomben fielen und tags die Tiefflieger auf alles schossen, was sich zwischen den Trümmern bewegte.
„Fall bloß nicht auf den kochenden Asphalt!“ Das waren Mutters letzte Worte, an die er sich erinnern kann oder vielleicht eher will, das weiß er nicht so genau. Doch er weiß, dass er nicht der einzige aus dieser Zeit ist, der mit seltsamen oder unpassenden letzten Worten seiner Angehörigen leben muss.
Jetzt muss er sich sputen. Eine halbe Stunde hat er sich gequält und der verdammte Haken ist immer noch nicht in der Decke! Rudolf verflucht sein Rheuma, beißt die Zähne zusammen – ein Saal, nein, schlimmer, eine ganze Welt voller wissender Augen, das Bild geht ihm nicht aus dem Sinn – setzt den Bohrer an und hält den Schmerz aus, bis er meint, das Loch sei nun tief genug.
Vorsichtig klettert er vom Stuhl hinab auf den Tisch, nimmt Dübel und Haken, schimpft sich einen Dummkopf, weil er die Sachen schon vorher hätte in die Hosentasche stecken können, klettert im Schneckentempo wieder nach oben, setzt Dübel und Haken ins Loch, steigt wieder hinab, nimmt das Seil, schaut zur Uhr, nur noch eine Viertelstunde, höchstens, klettert wieder hinauf, halb besinnungslos vor Schmerz, denn sein Rheuma brennt nun wahrlich ungestüm, und während er das Seil befestigt, denkt er, dass er die Wanne gleich in Position hätte bringen können, dann bräuchte er keine weitere Klettertour zu unternehmen.
Die Wanne hat er selbstverständlich nicht auf dem Tisch abgestellt, dort hätte sie beim Frühstück gestört. Nein, die verdammte Wanne steht unter dem Fenster. Und von hier oben, vom Tisch aus betrachtet, macht sie den Eindruck unerreichbar zu sein. Doch sie ist wichtig. Er will keine verschmutzte Wohnung hinterlassen.
Ein Sonnenstrahl dringt seitlich durch das Fenster. Mit der Wanne in der Hand schaut Rudolf nach draußen. Die Sonne taucht bereits einen Teil der Straße in helles Licht. Er muss nun doch das Rollo schließen. Seine Hand greift nach der Schnur. Unten sieht er einen alten Mann die Straße zum Haus hin überqueren, der von einer jüngeren Frau, vielleicht seiner Tochter, geführt wird. Eine alte, aber noch sehr straff wirkende Frau schreitet mit einem Lächeln im Gesicht vorweg, ein lebhafter Knabe mit einem großen Blumenstrauß in der Hand, wohl der Enkel der alten Leute, hüpft hinterdrein.
Das ist meine Familie, denkt Rudolf für einen winzigen Moment, und tadelt sich sogleich für die Tagträumerei.