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Henkersfrühstück

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26.02.2009
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Henkersfrühstück

Vorgestern hatte Rudolf am Küchentisch den Brief so oft gelesen, bis ihm die Buchstaben vor den Augen schwammen. Jetzt haben sie mich aufgespürt, die Juden. Dieser Gedanke ließ seine Hand zittern, als er das halbseitige Schreiben auf dem Tisch ablegte.
Im Rücken steif vom langen Sitzen stakste er zur Anrichte. Hier und da aufgequollene Dielen knarzten unter seinen löchrigen Pantoffeln. Aus dem oberen Fach des fast antiken Küchenschranks nahm er eine Flasche Magenbitter. Ihm war flau. Und wie immer, wenn ihm nicht wohl war, nahm er einen Schluck direkt aus der Flasche. Wozu ein Glas schmutzig machen, wenn man alleine lebt. Aber vorgestern hatte er noch einen zweiten getrunken und war dann zum Tisch zurückgeschlichen.
Er blieb in der Abenddämmerung sitzen und kam nicht einmal auf die Idee, das Licht anzuknipsen. Schon vor Jahrzehnten hatte er es sich angewöhnt, Strom zu sparen, da er als Nachtwächter wenig Geld verdiente. Das entsprach der Wahrheit, nur gab es noch eine weitere, eine höhere Wahrheit, die er zwar ahnte, doch nie in Worte fasste: Er konnte sich im Licht nicht ertragen; sein Gewissen trieb ihn in die Schatten.
Jetzt, nachdem er den Brief gelesen hatte, wird es ihn nachdrücklicher denn je bedrängen. Das war mehr als eine Ahnung, er wusste es. Und bereits während er den Brief zurück ins Kuvert schob, vernahm er das Wispern.

Während er sich bettfertig gemacht hatte, hielt er das Geflüster über Mord und Schande, seinen Mord und seine Schande, selbst dann noch aus, als es sich zu einer Plage entwickelte.
In seiner Kammer, die Bettdecke hatte er sich bis über den Kopf gezogen, raubte ihm die Stimme den Schlaf. Sie frisst deinen Verstand auf, nuschelte er mit dem Bettzipfel im Mund und wickelte sich fester ein.
Später, als er in seinem Kopf glühendes Fieber gespürt hatte, das er für nichts Geringeres als Wahnsinn hielt, fand er zu einer Erkenntnis: Keine Waffe vermag dieses Grauen zu stoppen, es sei denn, du gebrauchst sie gegen dich selbst.
Dieser Gedanke hatte etwas Tröstliches, war ein Schlupfloch, wenn auch ein arg finsteres. Und dieser Gedanke stopfte dem Wisperer das Maul.
Den Rest der Nacht träumte Rudolf davon, wie er dem Diktat der Zeit trotzte, wie er das Unmögliche vollbrachte, indem er den alten Fluss ein Stück hinaufpaddelte. Nicht zum Spaß, nein, um seinen Fehler zu korrigieren, sein bisheriges Leben von der Tafel zu wischen und ein neues zu zeichnen. Eines, das nicht von Scham und Angst gelenkt wurde. Eines, wie er es in seinen Tagträumen sah, mit Freunden, die über seine Späße lachen, einer Frau, die ihn liebt, und sonnigen Nachmittagen im Zoo, wo er seinen Kindern Softeis spendiert.

Im Halbschlaf streckt Rudolf die Hand nach dem Wecker und schaltet das Bimmeln aus. Der Rheumaschmerz in seiner Schulter weckt ihn endgültig. Nach seiner Erfahrung wird es einer von den Tagen werden, an denen sich das Rheuma im rechten Arm hinunterfrisst. „Auch damit wird bald Schluss sein“, grollt Rudolf, schlurft ins Bad, duscht ausgiebig und rasiert sich besonders sorgfältig, was bei dem faltigen Gesicht nicht einfach ist. Aber er hat Zeit. Alles ist vorbereitet.

Gestern Morgen hatte er seine kleine Wohnung aufgeräumt und bis in den hintersten Winkel geputzt. Es war einer der seltenen Tage gewesen, an denen das Rheuma gnädig gestimmt war. Unter anderen Umständen hätte Rudolf ihn als guten Tag eingestuft, an dem er ohne Schmerzen – bei halb geschlossenem Rollo – ein Buch hätte lesen können.
Am frühen Nachmittag war er mit einem Taxi zum Baumarkt gefahren, um eine Bohrmaschine, Schraubhaken samt Dübel, eine Plastikwanne und ein Seil zu kaufen. Später machte er Besorgungen beim Schlachter und beim Bäcker.
Abends hatte er noch einmal überlegt, sich seiner Schande öffentlich zu stellen und probiert, eine kleine Rede zu verfassen, als Geständnis und Abbitte zugleich. Er hatte Stichpunkte notiert und versucht, Rechtfertigungen in vorteilhafte Worte zu kleiden. Am Ende hatte er doch das Seil geknotet.

Die alten Pantoffeln gegen gewienerte Halbschuhe getauscht, in scharf gebügelter schwarzer Bundhose, einem neuen Oberhemd mit langem Arm – also nach seiner Ansicht recht ordentlich gekleidet –, und nach Rasierwasser duftend – was ihm weniger behagt, weil er es nicht gewohnt ist – betritt er die Küche.
Im Raum ist es schummrig. Noch steht die Sonne auf der anderen Seite. Rudolf knipst das Licht nicht an, obwohl er jetzt nicht mehr zu sparen braucht.
Er setzt die Pfanne auf, gibt einen Klumpen Margarine hinein, geht zu dem Tisch mit den Dingen vom Baumarkt und packt die Bohrmaschine aus. Gott sei Dank liegt eine umfangreiche Gebrauchsanweisung bei. Jetzt ist er nicht mehr so skeptisch wie gestern, als ihm Vaters Ausspruch nicht aus dem Sinn gegangen war: „Junge, selbst wenn du vier Hände hättest, es wären allesamt linke!“
Damals hatte er beim Anbringen der Verdunklungsrollos helfen sollen. Es waren die letzten Worte des Vaters an ihn gewesen. Am nächsten Morgen, in aller Frühe, rückte der Vater mit seiner Einheit in den Kaukasus aus und kam nicht mehr zurück.

Das Fett zischt und spritzt. Rudolf legt drei Schinkenscheiben in die Pfanne, gratuliert sich zu der Idee eines letzten üppigen Frühstücks und schämt sich seiner gestrigen Absicht, sich mit einer Ansprache zu erklären. Nein, zünftig speisen, Haken in die Decke, Seil um den Hals und Schluss. Alles andere wäre nicht zu ertragen, alles andere würde den großen Wisperer wecken, schlimmer noch, er würde fortan das Wissen um seine Schande nicht nur in den eigenen Augen, sondern in denen jedes Menschen erkennen.

Der Duft von gebratenem Fleisch steigt ihm in die Nase. Etwas an dem Geruch ist seltsam. Rudolf schnuppert über der Pfanne wie ein Spürhund. Ein leichter Beigeruch hängt dran, muffig wie von nasser Asche, die auf heißen Steinen trocknet. Der Gestank liegt wie ein Kissen auf der Stadt.

Rudolf geht vorsichtig, den Blick immer auf seine Stiefel. „Fall bloß nicht auf den kochenden Asphalt!“ Das hat Mutter noch gesagt, bevor sie zur Flak am Nussberg eilte.
„Komm schneller“, schnauzt Hermann, „träumen ist was für Backfische. Du hast ab heut wichtige Aufgaben, bist groß genug, ein Werwolf zu sein.“
Werwolf? Dieses Wort hat er noch nie gehört. Zu fragen traut er sich nicht, weil es nach nichts Gutem klingt, dieses Werwolf. Und vielleicht ist Hermann jetzt auch völlig durchgedreht, wo ihm doch in Russland ein Granatsplitter die halbe Stirn weggeschlagen hat.
Der Veteran zerrt Rudolf mit der Hand, die ihm geblieben ist – „Die andere kämpft noch an der Ostfront“, hat er ihn sagen hören – durch die vom Löschwasser dampfenden Ruinen der Innenstadt.
„Braunschweig ist jetzt eine Festung!“
Rudolf blickt sich um. „Wo?“, fragt er und bekommt von Hermann eine Ohrfeige.
„Auf Befehl des Kreisleiters Heilig, du Dummkopf!“, erklärt er. „Und wir Werwölfe haben unsere Festung zu verteidigen. Bis zum letzten Blutstropfen!“
Männer der Aufräumkolonnen rufen Anweisungen. Löschschläuche liegen längs und quer. Alte Leute wühlen in schwelenden Trümmern nach Resten ihrer Habe, die Blicke sorgsam abgewendet von den im Phosphorfeuer geschwärzten Leichen.
„Scheiß Tommys, verfluchte Royal Air Force!“, grollt Hermann und Rudolf fragt sich nicht zum ersten Mal, wie etwas, das solch wohlklingende Namen trägt, so was Furchtbares tun kann.

Plötzlich surren Granaten heran. Die Ruinen erzittern unter Artilleriefeuer. Eine dürre Frau im rußgeschwärzten Morgenrock bleibt mit den Sandalen am weichen Teer kleben, rennt barfuß und kreischend vorbei und duckt sich hinter einem Schuttberg. Herman zerrt ihn in eine schmale Gasse mit Kopfsteinpflaster. „Hier kommen wir schneller voran. Unser Kreisleiter braucht jetzt dringend Burschen wie dich“, keucht er und Rudolf hofft, dass er neben seiner Mutter, die ja auch dringend gebraucht wird, wie sie ihm gesagt hatte, in der Flakstellung helfen darf. Dann sähe er sie wenigstens ein paar Stunden länger.
„Einem Werwolf sind keine Einschränkungen aufgebürdet. Er hält eigenständig Gericht und entscheidet über Leben und Tod und vollstreckt jedes Urteil sofort an Ort und Stelle“, erklärt Hermann keuchend.
Rudolf fragt sich, was das bedeuten könnte. Jedenfalls hörte es sich nicht danach an, seiner Mutter im Flakbunker bei der Essensausgabe helfen zu dürfen.

Zwischen dem Lärm der nahen Explosionen und Hermanns gebrüllten Worten vernimmt Rudolf plötzlich Schreie aus einer Kelleröffnung. Sie klingen eher nach Schmerzensschreien als nach Hilferufen. Aufgeregt weist er Hermann darauf hin, und dieser meint, dass man Kameraden in Not niemals alleine lassen dürfe.
Eine Sprengbombe hat das Haus zerplatzen lassen. Der Schornstein steht wie ein Denkmal inmitten der Trümmer. Der Keller scheint den Angriff überstanden zu haben.
Hermann räumt mit seiner Heimatfronthand, wie er sie nennt, einige Steine zur Seite, schiebt Rudolf durchs zerborstene Kellerfenster und krabbelt dann selbst hindurch.
Ein Teil des Raumes liegt im Dunkeln. Wo Licht hinfällt, sieht Rudolf nur Qualm und wirbelnden Staub. Unter seinen Stiefeln knirscht es. Neben dem Brandgestank riecht er süße Marmelade und saures Apfelmus. Alle drei Gerüche sind ihm zuwider und ihm wird übel.
Hermann hustet und ruft: „Heil Hitler!“ Die Schmerzensschreie enden wie erstickt. Es kommt kein Gruß zurück. „Wo sind Sie? Wie können wir helfen?“
„Alles in Ordnung. Vielen Dank. Wir brauchen keine Hilfe.“ Die Stimme aus der hinteren Ecke klingt jung und verängstigt.
„Wer ist da?“ Hermann brüllt jetzt. „Machen Sie Meldung, verdammt!“ Er schaltet seine Telko Trio an und entfernt die Verdunklungsklappe von der Linse. Ein Gewölbebogen ist geborsten, Steine liegen herum, ein Wandregal ist gebrochen, Scherben von Geschirr und Einmachgläsern bedecken den Boden. Längs der hinteren Wand ist im Dunst ein Feldbett zu erkennen, davor ein paar kalte Kerzenstumpen auf einer Holzkiste, aber keine Menschenseele.
Vor Aufregung vergisst Rudolf seine Übelkeit.
„Das kam bestimmt aus dem Schrank“, flüstert Hermann, drückt Rudolf die Lampe in die Hand, zieht eine P 38 und knurrt: „Deserteure.“ Dann schleicht er gebückt ein paar Schritte vor.
Rudolf betrachtet die Wehrmachtslampe. So eine wollte er schon immer haben, dann könnte er trotz Verdunklungsbefehl im Bett lesen.
„Verdammt, leuchte den Schrank an, Werwolf“, befiehlt Hermann leise und gleich darauf brüllt er: „Aufmachen und mit erhobenen Händen raustreten!“
Die Schranktür knarrt. Ein geschorener Kopf schiebt sich aus dem Spalt und zuckt wieder zurück. Hermann springt vor und reißt die Tür auf. „Na, schau einer an.“ Ein Junge und ein Mädchen drücken sich an die Rückwand und blinzeln ins Licht.
„Judenbrut! Mitten in unserer Festung. Was sagt man dazu.“ Er wedelt mit der Pistole. „Raustreten und in Reihe Aufstellung nehmen!“
Das Mädchen nimmt den Jungen in den Arm. „Mein Bruder ist verletzt, er kann nicht gehen“, jammert sie und deutet auf seinen blutenden Kopf. Auch die Hose ist blutig und zerrissen. Dem Jungen fallen die Augen zu.
„Dann kriecht er eben!“
Rudolf weiß nicht recht, ob er Angst haben soll. Juden, so hat Mutter oft gesagt, die verwirren einem den Geist und stehlen dir dann dein letztes Hemd. Aber diese hier haben nichts. Der Schrank ist leer.
Das Mädchen kriecht aus seinem Versteck, der Junge kippt zur Seite und bleibt liegen. Seine Schwester hockt sich weinend vor Hermann auf den staubigen Boden.
„Hör auf zu plärren!“, schnauzt Hermann das Mädchen an.
Er geht zu dem Jungen, schüttelt ihn und meint, der hätte sich im rechten Moment verdrückt. Dann stellt er sich vor Rudolf, atmet tief durch und streckt die Brust heraus. „Werwolf Rudolf, dies ist deine Feuertaufe. Dies wird deine erste Amtshandlung für den Führer.“
„Muss ich nicht erst meinen HJ Führer fra…“
„Papperlapapp! Wir haben hier einen Sonderfall. Der fordert sofortiges Handeln, wie Goebbels es verlangt.“ Er drückt Rudolf die Pistole in die Hand und nimmt ihm die Telko ab. „Werwolf! Tu deine heilige Pflicht. Sprich das Urteil und vollstrecke!“
„Aber sie hat nix gestohlen, der Schrank ist leer.“
„Was faselst du da? Es ist ein verdammtes Judenbalg, mehr braucht man nicht zu wissen.“ Dabei leuchtet er mit der Lampe Rudolf ins Gesicht.
„Also, Werwolf! Das ist ein Befehl im Namen des Führers!“, schreit er ihn an. Spucke regnet Rudolf ins Gesicht.
„Fälle dein Urteil und vollstrecke das Urteil! Hier und jetzt!“


Rudolf starrt auf die Pfanne mit den verkohlten Schinkenscheiben und hört das Echo von Hermanns Worten: Fälle dein Urteil … vollstrecke das Urteil … hier und jetzt …
„Ja, auf Mord steht der Tod. Das Urteil vollstrecken, hier und jetzt“, murmelt er, stellt den Herd aus und schlurft zum Tisch mit den Utensilien vom Baumarkt.
Die Schlinge hat er gestern bereits geknotet. Gut so, denkt er, denn die rechte Hand wird langsam steif. Das Rheuma.
Jetzt gilt es, rasch den Haken in die Decke zu setzen. Dazu muss mit der verdammten Maschine ein Loch gebohrt werden. So etwas hat er noch nie gemacht. Darum liest er zunächst die Gebrauchsanweisung zur Bohrmaschine. Es darf nichts schiefgehen.
Nach einer Weile und zumindest theoretisch ausreichend vorbereitet, steckt er die Bohrspitze ins Schnellspannfutter, merkt, dass er eine Verlängerungsschnur braucht, kramt in der Abstellkammer danach – was bei dem nun feurigen Rheuma nicht ganz einfach ist – und schließt die Bohrmaschine an.
„Du musst sie auf Schlagbohren einstellen“, grummelt er und dreht das Gerät hin und her, bis er den Schalter findet.
Es ist kurz vor Mittag, niemand wird sich über den Lärm beschweren. Das ist ihm wichtig, ein unauffälliger und sauberer Abgang. Mit seinem Mord hat er genug Schmutz in diese Welt gebracht. Um das Rollo braucht er sich nicht auch noch zu kümmern, das kann oben bleiben, denn die Sonne wird erst in einer guten Stunde hier hereinscheinen. Ebenfalls in einer guten Stunde will dieses Judenmädchen von damals samt Anhang kommen und ihn holen, um ihn endlich, nach jahrzehntelanger Suche, als Lebensretter zu feiern. Einen Saal hätten sie sogar dafür gemietet, hat sie ihm geschrieben.
Aber er hat Zeit genug, all dem zu entgehen.

Auf den Stuhl zu klettern, den er als Leiter auf den Tisch gestellt hat, ist ein langwieriges Unterfangen. Krampfhaft klammert er sich mit der einen Hand an die Lehne, während er mit der anderen unter Mühen die schwere Maschine hält. Immer wieder wird ihm schwindelig dabei. Doch er gibt nicht auf, das Urteil muss endlich vollstreckt werden. Das gerechte Urteil, und das lautet nicht, den Mordbuben in einem Saal voller Menschen zu feiern. Was für ein Irrsinn!
Oben auf dem Stuhl angekommen, schaltet er testweise den Bohrer ein. Der Bohrer röhrt und vibriert in seinen Händen. Das Schlagwerk setzt Rudolfs Arm bis in die Schulter in Flammen. Rasch stellt er das Gerät aus. Eine kurze Pause, nur bis der Schmerz erträglich geworden ist, die braucht er jetzt, die nimmt er jetzt, obwohl er ahnt, dass die Zeit ihm enteilt.


Seine Mutter kommt ihm in den Sinn. Damals, nach der Tat, konnte er ihr nicht in die Augen sehen. Als sie vom Dienst nach Hause kam, gab er vor, dringende Botengänge für den Führer der HJ erledigen zu müssen.
Am nächsten Tag, Hermann war inzwischen gefunden und wie viele andere eilig verscharrt worden, was Rudolf keineswegs beruhigte, da kam sie nicht vom Dienst zurück. Ja, das muss einen Tag vor der Kapitulation der Festung Braunschweig gewesen sein, als die Angriffe einem keine Pause mehr gönnten, weil nachts die Bomben fielen und tags die Tiefflieger auf alles schossen, was sich zwischen den Trümmern bewegte.
„Fall bloß nicht auf den kochenden Asphalt!“ Das waren Mutters letzte Worte, an die er sich erinnern kann oder vielleicht eher will, das weiß er nicht so genau. Doch er weiß, dass er nicht der einzige aus dieser Zeit ist, der mit seltsamen oder unpassenden letzten Worten seiner Angehörigen leben muss.

Jetzt muss er sich sputen. Eine halbe Stunde hat er sich gequält und der verdammte Haken ist immer noch nicht in der Decke! Rudolf verflucht sein Rheuma, beißt die Zähne zusammen – ein Saal, nein, schlimmer, eine ganze Welt voller wissender Augen, das Bild geht ihm nicht aus dem Sinn – setzt den Bohrer an und hält den Schmerz aus, bis er meint, das Loch sei nun tief genug.
Vorsichtig klettert er vom Stuhl hinab auf den Tisch, nimmt Dübel und Haken, schimpft sich einen Dummkopf, weil er die Sachen schon vorher hätte in die Hosentasche stecken können, klettert im Schneckentempo wieder nach oben, setzt Dübel und Haken ins Loch, steigt wieder hinab, nimmt das Seil, schaut zur Uhr, nur noch eine Viertelstunde, höchstens, klettert wieder hinauf, halb besinnungslos vor Schmerz, denn sein Rheuma brennt nun wahrlich ungestüm, und während er das Seil befestigt, denkt er, dass er die Wanne gleich in Position hätte bringen können, dann bräuchte er keine weitere Klettertour zu unternehmen.

Die Wanne hat er selbstverständlich nicht auf dem Tisch abgestellt, dort hätte sie beim Frühstück gestört. Nein, die verdammte Wanne steht unter dem Fenster. Und von hier oben, vom Tisch aus betrachtet, macht sie den Eindruck unerreichbar zu sein. Doch sie ist wichtig. Er will keine verschmutzte Wohnung hinterlassen.

Ein Sonnenstrahl dringt seitlich durch das Fenster. Mit der Wanne in der Hand schaut Rudolf nach draußen. Die Sonne taucht bereits einen Teil der Straße in helles Licht. Er muss nun doch das Rollo schließen. Seine Hand greift nach der Schnur. Unten sieht er einen alten Mann die Straße zum Haus hin überqueren, der von einer jüngeren Frau, vielleicht seiner Tochter, geführt wird. Eine alte, aber noch sehr straff wirkende Frau schreitet mit einem Lächeln im Gesicht vorweg, ein lebhafter Knabe mit einem großen Blumenstrauß in der Hand, wohl der Enkel der alten Leute, hüpft hinterdrein.

Das ist meine Familie, denkt Rudolf für einen winzigen Moment, und tadelt sich sogleich für die Tagträumerei.

 
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Legende und Quellen

Bertold Heilig
Heilig wurde, 29-jährig, am 19. März 1944 als Kreisleiter und Gauinspekteur für Braunschweig eingesetzt und war damit der ranghöchste NS-Funktionär in der Stadt.
In den letzten Wochen des Krieges erwies sich Heilig als einer der skrupellosesten Vertreter des untergehenden NS-Regimes: In Durchhalteparolen ließ er verkünden, dass „bis zum letzten Blutstropfen“ und „bis zur letzten Patrone“ zu kämpfen sei.
Am 11. April, nachts gegen 02:30 Uhr, im NS-Kreisbefehlsstand im Nußberg-Bunker, ernannte er die Stadt Braunschweig zur „Festung“.


Werwolf:
Braunschweigs Kreisleiter Bertold Heilig ruft am 11. 4. 1945 die Untergrundbewegung „Werwolf“ (eine Erfindung Josef Goebbels nach dem „Nero“- Befehl Hitlers) ins Leben. Alle zwischen 15* und 70 Jahre müssen zu den Waffen.
Dem Werwolf sind keine Beschränkungen auferlegt. Er hält selbst Gericht und entscheidet über Leben und Tod und vollstreckt jedes Urteil an Ort und Stelle.
*Rudolf ist zu der Zeit etwas jünger, wird jedoch von dem verwirrten Kriegsveteranen Hermann als Werwolf „verpflichtet“. In Wirklichkeit musste man in einer Meldestelle ein Formular ausfüllen.

Quellen:

Bücher von Eckhard Schimpf

1.Heilig. Die Flucht des Braunschweiger Naziführers auf der Vatikan-Route nach Südamerika.
Appelhans Verlag, Braunschweig 2005, ISBN 3-937664-31-9
2.Nachts, als die Weihnachtsbäume kamen. Eine ganz normale Braunschweiger Kindheit im Chaos von Kriegs- und Nachkriegszeit.
Braunschweiger Zeitungsverlag,

Wikipedia:

Phosphorfeuer:
Im Bombenkrieg des Zweiten Weltkriegs wurden Brandbomben von der RAF gezielt zur großflächigen Zerstörung deutscher, italienischer und französischer Städte eingesetzt.
Es wurden auch so genannte Phosphorkanister als Brandbeschleuniger eingesetzt, die ein Gemisch aus Leichtbenzin und flüssigem Rohkautschuk enthielten, dem ein kleiner Anteil Phosphorlösung zugesetzt war. Dieses Gemisch verhielt sich ähnlich wie reiner weißer Phosphor und kann als Vorläufer des Napalms betrachtet werden.

(Daimon) Telko Trio mit Verdunklungsklappe

Sie stammt von dem deutschen Erfinder und Unternehmer Paul Schmidt.
Dieser hat Trockenbatterien und Taschenlampen entwickelt, produziert und unter dem Markennamen "DAIMON" vertrieben.
http://www.hood.de/img1/full/1474/14748059.jpg

P 38
Diese Pistole wurde von der Firma Carl Walther entwickelt und ab 1935 an die deutschen Streitkräfte geliefert.

Backfisch:
Ist eine – heute veraltete – Bezeichnung für Mädchen im Teenager Alter. Der Begriff stammt von dem gleichnamigen Wort aus dem Fischfang und bezeichnete ursprünglich sehr junge Fische, die nicht zum Kochen oder Braten taugten, sondern nur zum Backen.

 
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Hallo Asterix

Jetzt haben sie mich aufgespürt, die Juden.

Hier sträubten sich einen Moment meine Nackenhaare. Wie will man an einem solchen Gedanken ein philosophisch geprägtes Stück aufhängen. Doch da plätscherten Erinnerungen an moderne Dramaturgen über mich herein. Auch Wiesenthal, trat aus dem Schatten …

Die Erkenntnis, auf der du die Geschichte aufbaust, liess mich schmunzeln. Der philosophische Gedanke der Schuld in seiner ganzen Lastigkeit ist dem Ganzen inhärent. Auch wenn das Stück auf den ersten Blick genauso gut in die Rubrik Historik passen würde, ist es viel mehr als das. Es setzt sich durch und durch mit der philosophisch-ethischen Frage der Schuld auseinander. Anders etwa als bei Dürrenmatt Der Vedacht, soweit ich dies noch in vager Erinnerung habe. Aber für mich ein kleines Lesestück veritabler philosophischer Literatur.

Einziger Makel, der mir auffiel, war dieses hineingerutschte t:

Die Schranktür knarrt. Ein geschorener Kopf schiebt sich aus dem Spalt und zuckt schnell wieder zurückt.

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Die Legenden und Quellen scheinen mir kein Erfordernis zur Legitimation, aber da sie in einem separaten Komm. stehen, insofern nicht zwingend störend.

Sehr gern gelesen.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Hallo Asterix,

eine sehr nachdenklich stimmende lesenswerte Geschichte.

Zwei kleine Fehlerchen:

ein Buddel
wir sagen eine Buddel, aber vielleicht ist das ein regionaler Unterschied.
Rudolf hofft, dass er neben seiner Mutter,
.

Ich wurde an meine eigene Geschichte erinnert, an meinen Onkel, der begeisterter HJ-Führer war und viele mitriß - er ist im Krieg verschollen. Am Sonntag (16.10.2011) habe ich zufälligerweise gehört, dass die Listen der U-Boot-Besatzungen jetzt im Internet stehen. Ich habe den Namen meines Onkels gefunden. Er ging am 16.10.1943 mit seinem U-Boot unter.

Ich kenne viele Menschen, die aktiv den Krieg und die Diktaur der Nationalsozialisten durchlebt haben - und nach dem Krieg, als wir zur Schule gingen, kein Wort über diese Zeit verloren. Insofern ist Rudolf in seinem Handeln konsequent - oder flieht er vor dieser Stimme, dem Gewissen, der Verurteilung durch die anderen. Er hat andere verurteilt und das Urteil vollstreckt - und jetzt führt er diesen Weg weiter und verurteilt sich selbst und vollstreckt sein Urteil.

LG

Jo

 

Hallo Anakreon!
Hallo jobär!

Zunächst muss ich, nach euren Beiträgen, meine Erleichterung zum Ausdruck bringen; die Geschichte scheint zu funktionieren!
Immerhin arbeitete ich über ein Jahr an dem Konzept (Einladung zum Henkersfrühstück bereits im Autoren-Thread „Waisenkinder der Literatur“). Hab mich ein paarmal verrannt, aber nun scheints ja einigermaßen stimmig zu sein.

Vor Allem hatte ich die Befürchtung, es könnte für den Leser arg unbefriedigend sein, dass die Transversalspannung, die Spannung zwischen den Polen, zwischen Pro- und Antagonisten, nicht gelöst wird und am Ende keine Entropieminderung einsetzt. Der Leser muss seinen Standpunkt zum Protagonisten selbst finden. Dieser Standpunkt kann sich während des Lesens extrem verschieben, kann auch sein, das der Leser irgendwo in einer schwer definierbaren Position verbleib.

Das mal auf die Schnelle. Am Wochenende werde ich etwas genauer auf Eure Komms eingehen.

Vielen Dank an euch fürs Lesen und Kommentieren.

Lieben Gruß

Asterix

 

Hey Asterix,

eine sehr traurige Geschichte ist das. Und eine Gute. Ein Mann, der nie das Leben gelebt hat, das er gern gelebt hätte. Der sich schuldig spricht und das Urteil über sich selbst fällt. Das makellose Bild, welches er da von sich liefern möchte, ja geradezu zwanghaft tut (die Reinigung der Wohnung, die Waschprozedur, das Rasierwasser, welches er sonst nicht benutzt) eine Fassade zum Selbstschutz. Der Job als Nachtwächter, das Strom/Licht sparen, die Dunkelheit in der er Entspannung findet, das ist schon eher er selbst. Respekt, diese Figur ist gut durchdacht und anlegt. Der Typ für mich glaubhaft. Und die Öffentlichkeit, die ihn wahrscheinlich gar nicht verurteilen würde, die ist für ihn das allerschlimmste. Er sieht sich als Mörder eines Lebens. Umstände hin oder her, es bleibt, das ein Menschenleben auf seinem Gewissen liegt, das flüstert, das ihn quält. Nichts kann diesen Mord rechtfertigen. Dieser ganze Krieg ist ein sinnloses Sterben vor allem natürlich für ein Kind, das beide Elternteile verliert.

Feiner Spannungsbogen, Kollege - Hut ab.


Und im Folgenden noch so Krams zu verschenken:

Vorgestern hatte Rudolf am Küchentisch den Brief so oft gelesen, bis ihm die Buchstaben vor den Augen schwammen.

bis ihm die Buchstaben vor den Augen schwammen - klingt irgendwie einfallslos für den ersten Satz. Ich weiß nicht, können die nicht was anderes machen als schwimmen? Kleinvieh ich weiß, habe ich aber sofort dran gedacht, als ich den Satz las.

Jetzt haben sie mich aufgespürt, die Juden.

Der Satz ist dagegen stark. Der machts wieder gut ;).

Nackte, hier und da aufgequollene Dielen ...

nackte Dielen? Bei "nackt" denke ich nicht an Dielen, wirklich nicht. Ich versuch es ja, aber geht nicht.

Aus dem oberen Fach des schon fast antiken Küchenschranks entnahm er eine Buddel Magenbitter.

Buddel ist sehr wertend vom Erzähler, weiß nicht, ob das so gewollt ist. Passt nicht ins weitere Bild.

Er konnte sich im Licht nicht ertragen; (sein Gewissen trieb ihn in die Schatten.)

Ich weiß nicht, ob ich den Halbsatz brauche. Aber wahrscheinlich hätte ich ihn zur Sicherheit auch dazugeschrieben :D.

Und bereits während er den Brief zurück ins Kuvert schob, vernahm er das Wispern.
Dieser Stimme musste er zuhören, ob er wollte oder nicht, er musste das verderbte Geflüster von Mord und Schande selbst dann erdulden, als es sich zu einer Plage entwickelte, die den Schlaf raubte, langsam seinen Verstand aufzehrte und ihn am Ende in den Wahnsinn trieb, der eine letzte, aber dafür überzeugende Erkenntnis hervor brachte: Keine Waffe vermag dieses Grauen zu stoppen, es sei denn, du gebrauchst sie gegen dich selbst.

Ich mags nicht. Das wirkt so künstlich draufgesetzt. Bleib doch an ihm dran und trete nicht einen Schritt zurück, beschaue ihn nicht mit Deinem Erzähler, gerade in dieser Situation.

Und bereits während er den Brief zurück ins Kuvert schob, vernahm er das Wispern, das Geflüster über Mord und Schande. Es wird nicht aufhören, dachte er, es wird zur Plage, die mir den Schlaf raubte, die den Verstand aufzehrt und einen in den Wahnsinn treibt. Und am Ende die Erkenntnis:
Keine Waffe vermag diese Stimme zu stoppen, es sei denn, du gebrauchst sie gegen dich selbst.

Dieser Gedanke hatte etwas Tröstliches, ein Schlupfloch, auch wenn es ein arg finsteres war. (Und dieser Gedanke stopfte dem Wisperer das Maul.)

Ich jetzt wieder mit meinem Streichstift. Aber ich mag den so gern ;).

Eines, das nicht von Scham und Angst gelenkt wurde. Eines, wie er es in seinen Tagträumen sah, eines mit Freunden, die über seine Späße lachen, mit einer Frau, die ihn liebt und mit sonnigen Nachmittagen im Zoo, wo er seinen Kindern Softeis spendiert.

Das ist hübsch. Hier wird der Prot. dadurch charakterisiert, was er alles nicht hat. Funktioniert!

Im Halbschlaf streckt Rudolf die Hand nach dem alten Uhrwerk und schaltet das Bimmeln aus.

Ein bimmelndes Uhrwerk - :confused:

Er setzt die Pfanne auf, gibt einen Klumpen Margarine hinein, geht zu dem Tisch mit den Dingen vom Baumarkt und packt die Bohrmaschine aus. Gott sei Dank liegt eine umfangreiche Gebrauchsanweisung bei. Er ist nun nicht mehr so skeptisch wie gestern, als ihm Vaters Ausspruch nicht aus dem Sinn ging: „Junge, selbst wenn du vier Hände hättest, es wären allesamt linke!“
Er hatte dies zu ihm gesagt, ...

Du verstehst schon.

Das Fett zischt und brodelt.

Fett brodelt? Du machst mich fertig; bimmelnde Uhrwerke, brodelndes Fett. Mein Fett spritzt immer nur so furchtbar. Mir wäre lieber, es würde brodeln.

alles andere würde den großen Wisperer wecken, schlimmer noch, er würde fortan das Wissen um seine Schande nicht nur in den eigenen AugenKOMMA sondern auch in den Augen eines jeden Menschen erkennen.

Aber der Wisperer ist doch schon da. Sein Leben lang und nun erst Recht wieder - wegen des Briefes?

Ansonsten ist dieser Satz natürlich toll. Schande ist "erträglich", solange niemand davon weiß. Natürlich auch nicht so richtig, aber zumindest muss man sich ihr nicht öffentlich stellen.

Jedenfalls hörte es sich nicht danach an, dass er seiner Mutter im Flakbunker bei der Essensausgabe helfen dürfe.

Hermann hustet und ruft: „Heil Hitler!“ Die Scherzensschreie enden wie erstickt.

ich schenk Dir ein dringend benötigtes -m-

Es kommt kein Gruß zurück. „Wo sind Sie? Wie können wir helfen?“KOMMA fragt er dem nun leisen Wimmern entgegen.

Darum liest er zunächst die Gebrauchsanweisung zur Bohrmaschine (genau durch). Es darf nichts schief gehen.

Damals, nach der Tat, konnte er ihr nicht (mal) in die Augen sehen.

Alles zur freien Auswahl, ist ja klar.

Wirklich sehr gern gelesen!
Beste Grüße Fliege

 

Ab sofort liegt für dich immer ein Stück Zucker auf meiner Fensterbank, liebe Fliege!
Und das nicht nur als Dankeschön für den wertvollen Krams, den du mir schenktest. ;)

klingt irgendwie einfallslos für den ersten Satz. […]Der Satz ist dagegen stark. Der machts wieder gut.
Da hast du mich durchschaut! Zum so wichtigen ersten Satz ist mir hier tatsächlich nie etwas gescheites eingefallen. Ich weiß nur, den zweiten Satz kann ich nicht als ersten bringen. Ohne eine kleine Einleitung wäre der zu reißerisch oder besser gesagt, zu nackenhaarsträubend.

Ich werde daran arbeiten. Im Moment fällt mir immer noch nix Besseres dazu ein. Vielleicht bin ich in Bezug auf diese Geschichte ausgebrannt. Ja, genau, das ist es, ich habe ein Burnoutsyndrom! Ha, was bin ich alter Knabe noch modern! Aber halt, Burnout, worüber derzeit alle faseln, ist doch ein ganz alter Hut, ich glaub aus den Siebzigern.

(sein Gewissen trieb ihn in die Schatten.)
Ich weiß nicht, ob ich den Halbsatz brauche. Aber wahrscheinlich hätte ich ihn zur Sicherheit auch dazugeschrieben.

Die Geschichte enthält am Rande auch ein kleines philosophisches Spiel mit Licht und Schatten. Und dieser Halbsatz ist ein Teil davon. Dieses Spiel ist, ganz vage und vereinfacht, an Platons Kernfrage aus dem Höhlengleichnis angelehnt: Wie der Mensch Wahrheit erkennen kann.
Dieses Spiel, so meine Vorstellung – Autoren haben ja immer so gewisse Vorstellungen – ist eine kleine Hilfe auf dem Weg zur wesentlichen Frage in dieser Geschichte, die du, laut deiner trefflichen Rezension, gefunden hast. Aber hast du auch eine Antwort?

Dieser Gedanke hatte etwas Tröstliches, ein Schlupfloch, auch wenn es ein arg finsteres war. (Und dieser Gedanke stopfte dem Wisperer das Maul.)
Ich jetzt wieder mit meinem Streichstift. Aber ich mag den so gern
Hmm … Er hat ja eine Lösung gefunden, ein Schlupfloch. Das kennt man ja, wenn man eine Frage mit ins Bett nimmt, beispielsweise, wie man eine Geschichte deuten und beurteilen soll, dann schläft man erst ein, wenn eine Erkenntnis zustande gekommen ist und die Frage nicht mehr (lauthals) im Kopf herum spukt.
Und später im Text steht … aber darauf kommen ich später noch zurück.

Fett brodelt? Du machst mich fertig; bimmelnde Uhrwerke, brodelndes Fett. Mein Fett spritzt immer nur so furchtbar. Mir wäre lieber, es würde brodeln.
Mission erfüllt! :D
Und beides geändert. ;)

Aber der Wisperer ist doch schon da. Sein Leben lang und nun erst Recht wieder - wegen des Briefes?
Siehste, und du wolltest den Halbsatz „Und dieser Gedanke stopfte dem Wisperer das Maul.“ streichen.
Das Komma hab ich gesetzt.

Feiner Spannungsbogen, Kollege - Hut ab.
Wie jetzt, nur einer von zweien? Welchen meinst du, den transversalen oder den longitudinalen? :p :D

Alles, was ich hier nicht erwähnt habe, ist von mir bearbeitet.

XXX​

Hallo jobär!

Insofern ist Rudolf in seinem Handeln konsequent
Ja, aber auch die Geschwister sind konsequent, nur sehen sie Rudolfs Tat mit ganz anderen Augen. Diese zwei unterschiedlichen Sichtweisen, oder besser Urteile, werden in der Geschichte nicht zu einem allgemeingültigen zusammenfügt. Das darf, wenn er Lust hat, der Leser machen.

und nach dem Krieg […] kein Wort über diese Zeit verloren.
Das ist auch meine Erfahrung.
Aus dem wenigen, was mein Vater erzählt hat, kann ich schließen, dass ihn, obwohl ihm seine rechte Hand (bereits vor dem Krieg) in einem Alu-Walzwerk zerquetscht wurde, Hitlers Nero-Befehl und Goebbels „Erfindung“ getroffen haben.

Auf Hermanns Verletzung – die halbe Stirn von einem Granatsplitter weggeschlagen – bin ich durch Erinnerung an einen Nachbar aus den Sechzigern gekommen.

Meine Mutter hat, gerade dem Backfischalter entsprungen, das Essen im Kreisbefehlsstand am, oder besser gesagt, im Nussberg, verteilt.

Kurz vor dem Hochladen der Geschichte habe ich den Namen des HJ-Führers rausgenommen. Nach meinen Recherchen lebt der Mann noch und ist überdies ein bekannter Förderer der Kunstszene und steht auch im Zusammenhang mit der Documenta in Kassel. Ich will noch klären, ob ich den namentlich erwähnen darf.

Soviel noch als Ergänzung zu meinen Quellen. ;)

XXX​

Hallo Anakreon!

Auch wenn das Stück auf den ersten Blick genauso gut in die Rubrik Historik passen würde
Vielleicht schreibe ich demnächst eine Geschichte aus dieser Zeit für diese Rubrik. Sobald mir dazu eine Inspiration kommt, ganz sicher.

Legende und Quellen hab ich aus Spaß an der Freude angefügt.

Doch da plätscherten Erinnerungen an modernde Dramaturgen über mich herein.
So raue Worte hät ich nie von dir erwartet. :sealed:

Die Erkenntnis, auf der du die Geschichte aufbaust, liess mich schmunzeln.
Nun ja, sind halt meine ersten Gehversuche hier … oder verstehe ich dich falsch?

Anders etwa als bei Dürrenmatt Der Vedacht, soweit ich dies noch in vager Erinnerung habe.
Deinen Verdacht kann ich, auch mangels konkreter Erinnerung, nur insofern bestätigen, dass Dürrenmatt seine Geschichte aus einer anderen Perspektive erzählt und dadurch ist es eine investigative Story.
Von solcher Art gibt es einige. Eine sehr gute heißt: Das Bild. Habe aber leider den Namen der Autorin vergessen. Wenns dich interessiert, schick mir ne PM, dann schaue ich nach.

Aber für mich ein kleines Lesestück veritabler philosophischer Literatur.
Du machst mich glücklich!

XXX​

Hallo Makita!

Vielen Dank für deine rasche Hilfe zu einigen dringenden Fragen, für die ich mich selbstverständlich auch „öffentlich“ bedanke.

XXX
Vielen Dank und Liebe Grüße an euch alle!

Asterix

 

Hallo Asterix

Doch da plätscherten Erinnerungen an modernde Dramaturgen über mich herein.
So raue Worte hät ich nie von dir erwartet.

Echt erschüttert nahm ich mein Zitat zur Kenntnis! Mir bleibt nur mich in Demut zu üben und zu stammeln: Ich auch nicht! Mir ist da ein arger freudscher Verschreiber unterlaufen. Meine Gedanken waren beim zu früh verstorbenen Schlingensief und anderen Modernen, was den assoziativen Fehltritt leider überhaupt nicht mildert. Vor dem im Nachgang, im Kommentar, erwähnten Namen wirkt es gar direkt makaber. Entschuldige bitte, es sollte natürlich moderne Dramaturgen lauten.

Die Erkenntnis, auf der du die Geschichte aufbaust, liess mich schmunzeln.
Nun ja, sind halt meine ersten Gehversuche hier … oder verstehe ich dich falsch?

Dies musste in der Folge des Vorhergehenden natürlich ironisch wirken, ist aber vollumfänglich unter obiger Korrektur zu verstehen. Das Innenleben deines Prot. und seine Konsequenz fand ich schön erzählt. Es offenbarte einen besonderen Charakter, den ich glaubhaft dargestellt fand. Und wie gesagt, die philosophische Frage von Schuld in seiner ganzen Lastigkeit, fand ich gut transportiert.

Schöne Grüsse aus meinem Tal der Demut

Anakreon

 

Eine interessante Geschichte zu Scham + Schande, Schuld & Sühne eines Halbwüchsigen, die ih ein Leben lang begleiten werden,

lieber Asterix,

die zudem gelegentlich auf alte Begriffe (wie Verderbnis) und landschaftliche Sprechweisen zurückgreift. Und alles schon durchgesehn. Doch halt, da steht

Im Rücken steif vom langen Sitzen stakte er zur Anrichte.
„Staken“ kam beim ersten Lesen mir befremdlich vor allein wegen der atypischen Beugung des dritten Falles. Ist schon kurios, aber ich will’s mal Verwechselung nennen – und in der Tat bedeutet das Verb,
„sich mit Staken [Stangen zum Schieben von Flößen / Kähnen] fortbewegen“, ist also ein landschaftl. Begriff, der natürlich in einer Wohnung befremdlich wirkt. Du meinst sicherlich das umgangssprachliche Verb „staksen“ (Adj. „staksig“ = steif). M. E. besser „ … stakste er …“

Bissken Zeichensetzung noch (ohne Garantie zur Vollständigkeit):

Schon vor Jahrzehnten hatte er es sich angewöhntKOMMA Strom zu sparen, …
und
Du hast ab heut wichtige Aufgaben, bist groß genugKOMMA ein Werwolf zu sein.“
Duden Bd. 1, K 117, Ziffer 2: Komma, da Infinitivgruppe vom Substantiv abhängig.
… , die über seine Späße lachen, mit einer Frau, die ihn liebtKOMMA und mit …

Bissken Flüchtigkeit:

Jetzt, nachdem er den Brief gelesen hatte, würde es ihn nachdrücklicher denn je bedrängen.
Warum die würde-Konstruktion, wenn es schon nicht im Tagtraum verwendet wird? Es ist doch mehr als bloße Ahnung: Warum also nicht Futur? Es WIRD doch zweifellos so kommen, vor allem bei all dem, was Rudolf sich vorgenommen hat!

Im folgenden Falle ließe sich das einige Male verwendete im südwestl. Sprachgebiet verwendete wo durch ein da ersetzen:

Und vielleicht ist Hermann jetzt auch völlig durchgedreht, wo ihm doch in Russland ein Granatsplitter die halbe Stirn weggeschlagen hat.

Wo Licht hinscheint, sieht Rudolf nur Qualm und wirbelnden Staub.
Gibt’s das Verb „hinscheinen“? –
Später scheint noch was herein …

Das Mädchen nimmt den Jungen in den Arm. „Mein Bruder ist verletzt, er kann nicht gehen“, jammert sie leise und deutet auf seinen blutenden Kopf.
Das Mädchen … jammert sie leise …
Mädchen ist der Diminutiv der Magd, „das Mä[g]dgen“, wie zur Frau das Fräulein, zum Manne / Knaben / Jungen das Männchen / Knäblein / Jungchen ...

Um das Rollo braucht er sich nicht auch noch kümmern, …
Am Anfang ging’s, aber auf einmal kein „zu“ mehr? Wer brauchen ohne zu gebraucht ….

Zum Abschluss sind noch Buchstaben nachzutragen:

…, merkt, dass er eine Verlängerungsschur braucht, …
Gönn der „…schur“ noch’n n.
und jetzt sach ich nix mehr:
Er will keine verschmutze Wohnung hinterlassen.

Muss nicht die letzte Rückmeldung gewesen sein ...

Gruß

Friedel

 

Die Zeit geht nicht, sie stehet still,
Wir ziehen durch sie hin;
Sie ist ein Karawanserei,
Wir sind die Pilger drin.*​

Eine – wie ich finde – gelungene Geschichte mit
seltsamen oder unpassenden letzten Worten,
hastu uns da abgeliefert,

lieber Asterix,

an der alles stimmt incl. des (Ge-)Zeitenwechsels:
während der Vorbereitung zur eigenhändigen Hinrichtung wird eine Straftat gegenwärtig –

Es ist ein weißes Pergament
Die Zeit und jeder schreibt
Mit seinem roten Blut darauf,
Bis ihn der Strom vertreibt.*​

und Rudolf sieht – wahrscheinlich – die durch seine Heldentat geretteten (jungen) Leute als Greise kommen …, dass ich getrost zwo Strophen *Kellers "Die Zeit geht nicht" zitieren kann.

Da ich derzeit die Fackel und Karl Kraus bis zum erbrechen les bin ich mit ihm und seiner Voraussicht (Warum die Fackel nicht erscheint + Dritter Walpurgisnacht) zwischen Blaines und Deine Geschichte geraten.

Kurios!

Gruß

Friedel

 

„Staken“ kam beim ersten Lesen mir befremdlich vor allein wegen der atypischen Beugung des dritten Falles. Ist schon kurios, aber ich will’s mal Verwechselung nennen …
So erging es mir auch, nur bin ich nicht auf die Verwechslung gekommen, obwohl staksen mir bekannt ist,
lieber Friedel!
Und mit Mädchen ist es nie einfach. Die Regel verlangt „es“, Kopf und Herz ein höflicheres „sie“, welches ich ab dem nächsten Satz gerne gebrauche.
Etwas schwieriger für mich, als Westerwald-Ostpreuße, ist es (in diesem Fall) mit „wo“ und „da“; Mutter sagte da, Vater sagte wo.

Duden Bd. 1, K 117, Ziffer 2
Solche Hinweise finde ich sehr gut, sind mir des Öfteren in deinen Kommentaren aufgefallen. Ich besitze weder Duden noch Wörterbuch, schaue aber (in der Bücherei) zu komplexen Regeln wie Konjunktiv 1+2 gern in den Duden Bd. 9 „Richtiges und gutes Deutsch“.

Gibt’s das Verb „hinscheinen“?
Gute Frage. „Scheinen“ ist ein Verb und bedeutet Licht senden, vermute ich. Insofern ist es hier falsch angewendet, da von Licht die Rede ist. Es müsste logischerweise heißen: Wo die Sonne (hin) scheint. Nun, ehe ich dich zur Klärung dieser Frage noch zu meinem Schein-Beauftragten ernenne, ändere ich den Text in: Wo Licht hinfällt …

Eine interessante Geschichte …
&
Eine – wie ich finde – gelungene …
Freut mich, dass ich dich anregen konnte.

Da ich derzeit die Fackel und Karl Kraus bis zum erbrechen les bin ich mit ihm und seiner Voraussicht (Warum die Fackel nicht erscheint + Dritter Walpurgisnacht) zwischen Blaines und Deine Geschichte geraten.
Vergiss mir die Geschwister Scholl nicht! Besonders deren erstes Flugblatt.


Alles Unerwähnte ist gekauft. Vielen Dank für deine Hilfe.

Lieben Gruß

Asterix

 

Und mit Mädchen ist es nie einfach. Die Regel verlangt „es“, Kopf und Herz ein höflicheres „sie“, welches ich ab dem nächsten Satz gerne gebrauche,
nötigt geradezu, mich noch mal zu Wort zu melden,

lieber Asterix,

Höflichkeit taucht im deutschen Sprachraum erst im Hochmittelalter auf (mhd. hövesceit, vllt. dem courtois nachgebildet), und so sehr die Höfe abgeschafft sind (sehn wir mal von Guttenberg & co. ab), schimmern sie immer wieder durch. Freundlichkeit wäre da allemal besser, denn der Gegensatz zum höveschen war das dörfliche. Dörper wurden damit aber auch als plump und ungehobelt etikettiert.

Freilich ist aus dem hövesch über eine geringe Umlautung das hüvesch übergekommen, das wir heut noch an jedem hübschen Mädchen bewundern können - ob mit, ob ohne (Quoten) Regelung.

Gruß & schönen Restsonntag wünscht

Friedel

 

Hallo Asterix

Bin über die Empfehlung in diese Rubrik "gestolpert" - und froh darüber. Eine interessante Geschichte hast du da geschrieben, die dem "Heldentum" des Krieges jeden Glanz raubt und auch die vermeintlichen "Helden" als das hinstellt, was sie eigentlich sind: nämlich Opfer, alle miteinander.

Ja, dein alter Mann ist glaubhaft und überaus tragisch zugleich. Ich gebe Fliege recht, das ist eine durch und durch traurige Geschichte. Er leidet sein gesamtes Leben durch das von ihm begangene Verbrechen, stellt es in den Mittelpunkt seines Daseins und arbeitet es dennoch nie richtig auf. Über sein schlechtes Gewissen wirft er sein Leben weg, es endete damals für ihn in diesem Keller, nur wusste er das nicht und vor allem, er konnte auch überhaupt nichts dafür. Es ist ein weggeworfenes, verschwendetes Leben, und dieses Bewusstsein macht ihn zusätzlich unglücklicher, da es jetzt zu spät ist, noch etwas zu ändern (zumindest seiner Meinung nach). Das ist seine Form der "Schuld", die er für sein Verbrechen verbüsst - merkt das aber eigentlich gar nicht, oder sieht es nicht so. Und als er dann für diese Tat, die sein Leben zerstörte, auch noch ausgezeichnet werden soll - tja, da beendet er das Leben, das eigentlich nie eins war.

Wenn man als Aussenstehender ihm überhaupt etwas für seine Tat vorwerfen will, dann hat er für dieses Verbrechen eigentlich bereits mit seinem Leben bezahlt. Der Selbstmord erscheint dann natürlich übertrieben, ist für ihn aber nur konsequent, und ich finde, das hast du sehr gut dargestellt. Insofern besteht die Empfehlung zurecht, die Geschichte ist interessant und regt zum Nachdenken an. Kompliment dafür!

Das erste Kapitel erscheint mir als etwas zu lang. Ich bin jetzt nicht sicher, an welcher Stelle man genau kürzen könnte, aber ich denke, der Zustand des Mannes lässt sich knackiger beschreiben. Da erkenne ich den einen oder anderen Füll-Satz, wie vielleicht so etwas hier:

Dieser Stimme wirst du zuhören müssen, ob du willst oder nicht. Das hatte er eingesehen, dort am wackligen Küchentisch sitzend.

Hm, ich weiss nicht, mir gibt das nicht so viel. Sieht er das wirklich erst am Küchentisch ein? Oder ist das nicht eine Stimme, die er eigentlich schon sein ganzes Leben hört?

Oder das hier:

Später, als er in seinem Kopf glühendes Fieber gespürt hatte, das für ihn nichts anderes als Wahnsinn sein konnte, fand er zu einer Erkenntnis: Keine Waffe vermag dieses Grauen zu stoppen, es sei denn, du gebrauchst sie gegen dich selbst.

Das "glühende Fieber" ist mir zu theatralisch, ebenso der "Wahnsinn". Kann man den bei sich selbst diagnostizieren? Das klingt alles ein wenig reisserisch, da gefällt mir der ruhige Teil besser, mit dem du dann seine Vorbereitungen zum Selbstmord beschreibst. Das passt besser zu ihm, dieses Ruhige, Resignative, als dieses Plakative hier.

Der stärkste Teil für mich ist die Szene im Keller, oder generell der Rückblick ins Jahr 1944. Da fängst du die Stimmung sehr gut ein, auch wenn ich mich frage, wie Hermann die beiden Kinder so schnell als Juden identifzieren konnte. Aber die eingestreuten Eindrücke, die Kleinigkeiten wie Gerüche, die herumlaufende Frau etc. - nicht zu vergessen auch die gute Recherche - bringen das sehr glaubhaft und plastisch rüber.

Beim Text selbst sind mir ein paar Kleinigkeiten aufgefallen:

Aus dem oberen Fach des fast antiken Küchenschranks nahm er eine Flasche Magenbitter.

Dieses "fast" hier finde ich überflüssig. Entweder das Ding ist antik, oder eben nicht. Ich würde das weglassen, vielleicht sogar das "antik".

Das entsprach der Wahrheit, nur gab es noch eine weitere, eine höhere Wahrheit, die er zwar ahnte, doch nie in Worte fasste: Er konnte sich im Licht nicht ertragen; sein Gewissen trieb ihn in die Schatten.

Den Teil finde ich sehr gut.

Während er sich bettfertig gemacht hatte, hielt er das Geflüster über Mord und Schande, seinen Mord und seiner Schande, selbst dann noch aus, als es sich zu einer Plage entwickelte.

Hm, mit dem Satz hab ich so meine Probleme. Er klingt umständlich. Zunächst einmal müsste es "seinen Mord und seine Schande" heissen. Aber auch das Doppelte "Mord und Schande" gefällt mir nicht. Evtl. würde ich das Fettgedruckte streichen.
Auch den Rahmen finde ich nicht so gelungen: Während er sich bettfertig machte, entwickelte sich das Geflüster zu einer Plage? Kann man diesen Zeitpunkt so genau "datieren" (wann ist es "nur" störend, wann eine Plage)?

Im Halbschlaf streckt Rudolf die Hand nach dem Wecker und schaltet das Bimmeln aus.

Hier bin ich verwirrt, dass du plötzlich ins Präsens wechselst. Im Absatz zuvor bist du noch in der Vergangenheit, dann bleibst du glaub in der Gegenwart.

Gestern Morgen hat er seine kleine Wohnung aufgeräumt und bis in den hintersten Winkel geputzt. Es war einer der seltenen Tage gewesen, an denen das Rheuma gnädig gestimmt war.

Auch hier: zwei verschiedene Zeiten für ein- und denselben Tag.

Die alten Pantoffeln gegen gewienerte Halbschuhe getauscht, in scharf gebügelter schwarzer Bundhose, einem neuen Oberhemd mit langem Arm, also nach seiner Ansicht recht ordentlich gekleidet, nach Rasierwasser duftend, was ihm weniger behagt, weil er es nicht gewohnt ist, betritt er die Küche.

Finde ich zu lang und zu umständlich. Hier mischt du sein Äusseres mit seinem Befinden darüber, und das durcheinander gemischt. Bin hier beim Lesen ins Stocken geraten.

Dann sähe er sie wenigsten ein paar Stunden länger.

wenigstens

Rudolf vergisst vor Aufregung seine Übelkeit.

Das ist für mich ein Bruch in der Perspektive. Du schreibst den Teil ja aus der Sicht von Rudolf - sehr gut noch das mit den Gerüchen zuvor und die Übelkeit. Aber hier wechselst du dann für diesen einen Satz zum auktorialen Erzähler, würde das weglassen oder anders formulieren.

„Dann kriecht er eben. Das passt sowieso besser zu ihm als aufrechter Gang!

„Hör auf zu plärren!“, schnauzt Hermann das Mädchen an. „Es wird dir nicht helfen.“

Ich würde überlegen, das Fettgedruckte jeweils zu streichen. Der zweite Teil nimmt dem ersten jeweils seine "Kaltschnäuzigkeit", finde ich. Vor allem im ersten Beispiel.

Doch er weiß, das er nicht der einzige aus dieser Zeit ist,

Der Klassiker: dass

Ja, soviel dazu. Also wie gesagt, eine gelungene Geschichte, die nachdenklich stimmt - war schön, auch mal einen "Ausflug" in diese Rubrik gemacht zu haben :)

Viele Grüsse.

 

Jetzt bin ich doch schon wieder hier gelandet!,

Ihr Lieben!

Schwups schreibt

… die dem "Heldentum" des Krieges jeden Glanz raubt und auch die vermeintlichen "Helden" als das hinstellt, was sie eigentlich sind: nämlich Opfer, alle miteinander,
ja was, Täter und Opfer gelten wieder als eins?

Das ist ja förmlich alttestamentarisch: Kain versteht sich als „Opfer“, da die Opfergaben seines erschlagenen Bruders durch einen ungerechten Gott eher angenommen werden als seine eigenen – und die Zustimmung selbst des größeren Anteils der vormals sozialdemokratischen Wählerschaft – alles Opfer? Da wäre Schwups einige Lektüre zum Faschismus / Nationalsozialismus, wenn nicht zum Totalitarismus insgesamt nahezulegen und wäre es nur zur Banalität des Bösen, wenn sich zB Eichmann als pflichtbewusster Erfüllungsgehilfe und somit als Opfer seines Dienst(vertrage)s gibt (wie ja heute auch Beschäftigte der Waffenindustrie Sorge um jede echte Friedenspolitik und ihren Arbeitsplatz machen) oder aber die Studien zum autoritären Charakter, die aufzeigen, wieviel Faschismus in bürgerlicher Hülle selbst im Mutterland der modernen Demokratie rumläuft.

Freud definiert übrigens im Mann Moses und die monotheistische Religion „Ein Held ist, wer sich mutig gegen seinen Vater erhoben und ihn am Ende siegreich überwunden hat“ [Studienausgabe Bd. IX, Ffm. 1974, S. 463], was auch durch „Helden“sagen über patriarchalischen Gesellschaften bestätigt wird (man „nabelt“ sich ab oder auch nicht, wie bei Ortnit, der damit zum ersten Antihelden der Literaturgeschichte wird). Ein schönes Beispiel von Verknüpfung von Opfer im Heldentum liefert das Hildebrandlied, das aber nun gar nix mit dem schwachsinnigen faschistoiden Heroismus zu tun hat und eher eine klassische Tragödie ist (wenn man so will, die Umkehrung des Ödipus).

Tatsächlich ist die damals junge Generation von deren Vätergeneration (wenn man so will, meiner Großvätergeneration) um ihre Jugend betrogen worden und ein direkter Nachweis vom Ersten mit dem Zwoten Weltkrieg zu ziehen – beide ausgelöst durch [groß]deutschen Wahn. Rudolf ist nicht nur die Jugend, sondern gleich das ganze "freie" Leben geklaut worden, obwohl ihm die Abnabelung gelungen erscheint ...

Gruß

Friedel

 

Hallo Friedel

ja was, Täter und Opfer gelten wieder als eins?

Nö, so hab ich das nicht gesagt und auch nicht gemeint - gemeint waren Helden, die zu Opfern werden, nicht Täter - wenngleich ich zugeben muss, dass der Zusatz "alle [Helden] miteinander" auch etwas anderes suggerieren kann. Die Anführungszeichen bei "Helden" hab ich deshalb gesetzt, weil - und das zeigt ja gerade die Geschichte von Asterix - sich diese Helden oft selbst überhaupt nicht als solche sehen und vielleicht auch gar keine sein wollen.

Dass es viel zu viele Täter gab, die vollumfänglich für ihre Taten verantwortlich waren und leider allzu selten zu dieser Verantwortung stehen mussten, ist selbstredend unstrittig. Hier rede ich auch nicht von Opfern - doch genauso unstrittig ist es, wenn wir schon bei Tätern sind, dass einige davon gleichzeitig auch Opfer waren. Schwarz-Weiss-Malerei geht halt hier oft nicht. Was bist du, wenn du als junger Mann - in deiner Erziehung verblendet durch eine kranke Ideologie, immer wieder mit Hasstiraden und falschen Feindbildern konfrontiert - in einen Krieg geschickt wirst, dort an der Front kämpfst und dein Leben in einem sinnlosen Krieg lässt - dann bist du nicht nur Täter, sondern auch Opfer dieses Systems und seiner Verantwortlichen.

Aber ich hab auf die Helden angespielt, und damit nicht nur die Grossen gemeint wie die Geschwister Scholl oder die Widerstandskämpfer vom 20. Juli - deren Schicksale sind hinreichend bekannt. Nein, ich hatte generell "Kriegshelden" vor Augen, die es auch heute noch gibt, die oft für ihre Taten ausgezeichnet werden und sie dann doch allein verarbeiten müssen. Ersteres geschieht unter grossem öffentlichen Interesse, mit viel Pracht und Glanz, letzteres meist allein in den eigenen vier Wänden. Die Kehrseite dieses "Heldentums" hat Asterix hervorragend herausgearbeitet, und ich glaube, ein solches oder ähnliches Schicksal teilen viele Helden, die damit auch zu Opfern werden.

Das "alle miteinander" ist aber doch sehr endgültig und pauschalierend, davon nehme ich im Nachhinein Abstand.

Viele Grüsse.

 

Hallo Schwups!

Eine interessante Geschichte hast du da geschrieben, …
… die Geschichte ist interessant und regt zum Nachdenken an. Kompliment dafür!

Vielen Dank dafür, das freut mich und gibt Kraft, weiter am Text zu arbeiten.

Deine Sicht auf Rudolf ist sehr treffend. Freut mich, dass die Figur so deutlich bei dir ankommt.

Wenn man als Aussenstehender ihm überhaupt etwas für seine Tat vorwerfen will, …
Ja, das ist die Frage. Mord oder Heldentat oder irgendwas dazwischen.
Nebenbei: Ich habe beim Schreiben nach langer Zeit mal wieder an den Fall Marianne Bachmeier denken müssen und wie die Justiz (ebenso die Tagesblätter) dort einen Spagat nach dem anderen hinlegte, es war das reinste Chaos. Von Wegweisender Rechtsphilosophie weit und breit nix zu sehen und zu hören.


Hm, ich weiss nicht, mir gibt das nicht so viel. Sieht er das wirklich erst am Küchentisch ein? Oder ist das nicht eine Stimme, die er eigentlich schon sein ganzes Leben hört?
Hab ich rausgenommen und glaube auch, da fehlt nix.

Das "glühende Fieber" ist mir zu theatralisch, ebenso der "Wahnsinn". Kann man den bei sich selbst diagnostizieren? Das klingt alles ein wenig reisserisch, da gefällt mir der ruhige Teil besser, mit dem du dann seine Vorbereitungen zum Selbstmord beschreibst. Das passt besser zu ihm, dieses Ruhige, Resignative, als dieses Plakative hier.
In der Tat ein wenig reißerisch, aber es ist ja das Ende einer Steigerung. Irgendwie muss er ja auf den Gedanken zur Selbsttötung kommen.
Eine Selbstdiagnose erkenne ich hier nicht. Den Satz: … das für ihn nichts anderes als Wahnsinn sein konnte, … verstehe ich so: das er für nichts geringeres als Wahnsinn hielt (so, wie man manchmal sagt: „Ich glaube, ich werde verrückt“ oder: „Ich muss wahnsinnig gewesen sein, als ich …)
Vielleicht sollte ich so schreiben. Klingt nicht schlecht. Ich mach’s.

Finde ich zu lang und zu umständlich. Hier mischt du sein Äusseres mit seinem Befinden darüber, und das durcheinander gemischt. Bin hier beim Lesen ins Stocken geraten.
Ich habe das Befinden in Gedankenstriche gefasst.

wie Hermann die beiden Kinder so schnell als Juden identifzieren konnte.
Dafür gibt es mehrere Gründe. Jüngere Kinder waren längst in Heimen und auf Bauernhöfen außerhalb der Stadt untergebracht. Sie hausten auf keinen Fall allein im Keller. Ich könnte schreiben „ein kleiner Junge“, aber das drückt mir zu offensichtlich auf die Tränendrüse.
Dann gabt es damals noch die klischeehafte Vorstellung äußerer Merkmale, auf die ich nicht näher eingehen möchte.
Jedenfalls liegt Hermann mit seiner Vermutung richtig, sonst hätte das Mädchen etwas gesagt, denn immerhin hat sie den Mut aufgebracht, ihren Bruder in Schutz zu nehmen.

Dieses "fast" hier finde ich überflüssig. Entweder das Ding ist antik, oder eben nicht. Ich würde das weglassen, vielleicht sogar das "antik".
Nun sei doch nicht so unsensibel! :D
Der Schrank ist alt, es ist immer noch der erste, den er sich als junger Mann gekauft hat. Das soll damit angedeutet werden. Rudolf ist kein Typ, der etwas Neues kauft, nur weil es etwas Moderneres gibt.
„Antik“ allein klingt mir zu snobistisch. Und ab wann ist ein Schrank antik? Bei Autos dauert es, glaub ich, dreißig Jahre, bis sie offiziell als Oldtimer gelten. Bei Gebrauchsmöbel doch bestimmt länger.

Hm, mit dem Satz hab ich so meine Probleme. Er klingt umständlich. Zunächst einmal müsste es "seinen Mord und seine Schande" heissen. Aber auch das Doppelte "Mord und Schande" gefällt mir nicht. Evtl. würde ich das Fettgedruckte streichen.
Auch den Rahmen finde ich nicht so gelungen: Während er sich bettfertig machte, entwickelte sich das Geflüster zu einer Plage? Kann man diesen Zeitpunkt so genau "datieren" (wann ist es "nur" störend, wann eine Plage)?

Darüber muss ich noch länger sinnieren. Ausgegangen bin ich von folgenden Überlegungen:
Ich fang mal mit der Plage an. Die entwickelt sich in dem Zeitraum. Ein alter, rheumageplagter Mann braucht eine Weile, bis er bettfertig ist, ich vermute, eine gute halbe Stunde. Ich meine, eine Plage kann auch plötzlich kommen. Sie zeichnet sich eher durch Intensität aus als durch einen langen Anlauf.

Mord und Schande, und dann: seinen Mord und seine Schande, sind (für mich und hier) nicht das Gleiche. Ersteres ist allgemein, letzteres speziell auf Rudolf bezogen. So sieht er das. Er kann sich nicht vorstellen, das die Geschwister in Bezug auf seine Tat einen ganz anderen Ethos besitzen. Das ist für mich ein ganz sensibler Punkt.
Stilistisch ist es eleganter, hier zu streichen, aber ich habe das Gefühl, dann geht etwas verloren.
Also, da muss ich noch grübeln. Vielleicht brauche ich mehr Abstand vom Text.

Hier bin ich verwirrt, dass du plötzlich ins Präsens wechselst. Im Absatz zuvor bist du noch in der Vergangenheit, dann bleibst du glaub in der Gegenwart.
Ja, finde ich ganz wichtig. Also, nicht dich zu verwirren, sondern den Wechsel ins Präsens.

Das ist für mich ein Bruch in der Perspektive. Du schreibst den Teil ja aus der Sicht von Rudolf - sehr gut noch das mit den Gerüchen zuvor und die Übelkeit. Aber hier wechselst du dann für diesen einen Satz zum auktorialen Erzähler, würde das weglassen oder anders formulieren.
Erzählt wird die Rückblende in der dritten Person. Ich habe ein wenig umgestellt:
Vor Aufregung vergisst Rudolf seine Übelkeit.

Alles Unerwähnte ist geändert.

Lieben Gruß

Asterix

 

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