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- Anmerkungen zum Text
Dies ist wohl die erste Kurzgeschichte die ich geschrieben und auch beendet habe. Dies ist auch mein erster Beitrag in diesem Forum, von daher sei dies mein Hallo. :-)
Es handelt sich hierbei in gewisser Weise um einen Tatsachenbericht.
Helden
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Das Klingeln des Weckers durchfuhr den noch frühen Morgen, da schlug Ernst mit gewohnter Präzision auf dessen Snooze-Knopf - Vier Uhr morgens. Er wollte nicht unbedingt nur schlafen, auch wenn er es ohne Probleme sofort versucht hätte - so wirklich schläft ja niemand nach dem ersten Weckerklingeln und wenn doch, hat man meist erst recht Probleme. Er wollte einfach nicht aufstehen. Er konnte es nicht, aber er musste. “Es ist viel zu früh,” dachte er sich, ehe sein Wecker erneut klingelte. Zum wievielten Male wusste er jedoch nicht. “Dieser Schlummer-Knopf ist wirklich sinnlos.” Ernst sprang auf - Vier Uhr Fünfzig. “Mist!” Er zog sich willkürlich gewählte Kleidung an, putzte sich notdürftig die Zähne und ohne hinzusehen, griff er sich einige Masken. Er rannte in die Kälte, in das orangene Laternenlicht. Kein Mensch verirrte sich so früh am Morgen hierher, alles schlief einen friedlichen Schlaf oder zumindest einen gerechten. Das Schild mit dem grünen, großen H kam näher. Ernst blickte die Straße entlang: "Scheint noch nicht dagewesen zu sein."
Wenig später kam der Bus, der einige Minuten zu spät kam. Ernst bezahlte seinen Obolus an den Fahrer und setzte sich auf einen der Plätze in diesem noch leeren Gefährt. Der Fahrer fuhr, wie Ernst selbst wohl gefahren wäre, wenn er einen Führerschein gehabt hätte. Sie hatten beide dasselbe Ziel: Zeit gutmachen, was sie auch, trotz trödelnder Zugestiegener und einer Baustelle auf dem Weg, beinahe geschafft hätten.
Ernst stieg aus und rannte in ein graues Gebäude. Er setzte seine Maske auf, hielt seinen Chip an den Türöffner und stellte sich zu seinen Kollegen in die Warteschlange, zum Fiebermessen. Wie üblich funktionierten die Messgeräte nicht richtig, wodurch sich Ernst's Zeitfenster immer mehr schloss. Eigentlich schloss sich gar nichts mehr: Ernst würde beim Blick auf die Uhr feststellen müssen, dass er zwei Minuten zu spät an seinem zugeteilten Arbeitsplatz erscheinen würde. Das Wasser lief ihm von der Stirn, das Pochen in seiner Brust wurde heftiger. "Warum muss ich mir für die paar Taler so einen Stress machen? Das macht mich noch kaputt…,” dachte er, während er still und möglichst heimlich sich an seinen Platz schlich. "Na Mensch, Ernst! - Kommst' ja doch noch." entgegnete ihm sein Kollege an der Linie. "Klar. Wieso nicht?," sagte Ernst, aber konnte seinem Kollegen dabei nicht in die Augen sehen - "Hatte gerade nichts besseres zu tun." Beide lachten.
Und so verlor an diesem Tag niemand ein Wort über sein Zuspätkommen, auch wenn sein Vorgesetzter es wahrscheinlich doch wusste, wie er alles irgendwie wusste. Ernst sah, wie jeden Tag, alle fünf Minuten auf die Uhr, kämpfte mit seinen Augenlidern mehr als mit seiner Arbeit, hielt gelegentlich einen Plausch mit seinen Kollegen, versteckte sich auf der Toilette, las dabei Nachrichten auf seinem Handy und freute sich über seine baldige Pause.
Da Ernst am Morgen nichts gegessen hatte, ging er zeitig zur Pause, musste sich aber doch anstellen, da andere Abteilungen vor ihm zum Essen gingen. Er wählte wie immer das gesündeste Gericht, etwas Vegetarisches, auch wenn nichts auf der Speisekarte wirklich gesund gewesen ist. Am Ende des Speisesaales saβen seine Kollegen und zu ihnen gesellte sich Ernst mit seiner, mit Ratatouille entfernt verwandten Speise. “Ich hab ihn letztens mit unserem Schicht-Assi im Büro sitzen sehen und beide hatten keine Maske auf, Fenster waren zu, kein Mindestabstand.” - waren die ersten Worte die er vernahm. “Mahlzeit!” rief Ernst dazwischen und “Mahlzeit” widerhallte es im Chor. “Mich hat er letztens ermahnt, weil ich angeblich den Abstand nicht eingehalten hatte.” - “Der soll mal seine Mails abarbeiten und sich nicht einmischen.” - “Die ganzen Maβnahmen sind doch sowieso Quatsch.” Ernst blieb stumm und aβ sein Essen, auch wenn er raten musste, was er gerade seinem Körper zuführte. Dabei hätte er vieles dem Tratsch beizufügen gehabt, hatte er doch auch vor einigen Wochen eine Auseinandersetzung mit seinem Vorgesetzten.
Damals gab es keine Maβnahmen in der Firma, obwohl die Seuche schon weit verbreitet war und von einer unbekannt groβen Dunkelziffer ausgegangen wurde. Es gab keine Masken, jeder redete dicht gedrängt miteinander, man gab sich sogar weiter die Hand. Ernst wollte seinen gesamten Urlaub nehmen, um sich und seine Familie zu schützen. Doch sein Chef lehnte ab. Ernst fragte bei ihm nach, mit was er dies begründe und fragte erneut nach, ob man nicht in der heutigen Zeit eine Ausnahme machen könne, die Gesundheit ginge schlieβlich vor. “Ich muss doch meine Familie schützen.”
Darauf hat ihm sein Chef Panikmache unter den Kollegen vorgeworfen, obwohl Ernst nur mit ihm über das Thema gesprochen hatte. Er empfahl ihm, er könne ja mit seiner ganzen Kleidung baden gehen, dann wäre das Virus abgetötet. Und er fragte ihn, ob er Hypochonder sei und wer ihn zum Experten gemacht hätte. Ernstˋs Pupillen weiteten sich, sein Herz schlug schneller, da sein Vorgesetzter immer lauter und schneller sprach, mit immer schärferem Ton. Doch konnte er ihm mit ruhiger Stimme entgegnen, dass er kein Experte sei, aber auf den Rat von Experten, Zuhause zu bleiben, hören wolle.
Ernst verließ das Büro und ging zur nächsten Chefetage. Doch dort sprach man ihn gar nicht mehr, wie in der gesamten Firma üblich, mit Vornamen und Du an, sondern bezeichnete ihn als “den Störfall.” Sie gaben Ernst zu verstehen, dass die Entscheidung seines Vorgesetzten bindend seien und fügte hinzu, dass die Produktion laufen müsse und Fälle wie seiner nicht toleriert würden.
Auch der Betriebsrat, den Ernst danach aufsuchte, konnte ihm nicht viel helfen, daher entschloss Ernst sich, eine Beschwerde in schriftlicher Form zu verfassen und sandte diese an eine Mail-Adresse die dafür vorgesehen war und die auch von der Geschäftsleitung gelesen würde. Doch als Ernst an einem Montag in der nachfolgenden Woche auf Arbeit erschien, wurde er zu Human Resource bestellt, wo man ihm sagte, dass man ihn hier in der Firma nicht weiter beschäftigen wolle, eigentlich würde man ihn sogar gerne sofort loswerden. Das sei ja auch in seinem Interesse, damit er seine Familie und seine Gesundheit schützen kann. Er sollte bis zum nächsten Tag einen Aufhebungsvertrag unterzeichnen der auch angeblich für das Arbeitsamt, welches über eine eventuelle Sperre von Ernst zu entscheiden hätte, wohlwollend formuliert sei. Ernst hatte damals schriftlich diesem Vertrag widersprochen, er lieβ sich so leicht nicht aufs Glatteis führen. Und so arbeitete er weiter und schwieg über jene Geschehnisse. Unklug wäre es gewesen, abfällig über seine Vorgesetzten zu reden, selbst wenn er nur die Wahrheit gesprochen hätte. Man hätte es ihm als Unruhestiftung anlasten können und es hätte zu einer Kündigung beitragen können.
Ernst lauschte den Geschichten über seine Chefs und er wollte wirklich gerne etwas beitragen zu dieser Unterhaltung. Wie gerne, wäre er seinen Frust losgeworden. Doch hätte es auch Unmut über ihn selber herbeiführen können, schlieβlich führte die Firma erst Maβnahmen zum Schutz der Mitarbeiter ein, als er seinen Brief geschrieben hatte, indem er bemängelte, dass es keinerlei Schutz gebe und es der Belegschaft nicht mal freigestellt sei, wann sie ihren zustehenden Urlaub in diesen Zeiten nehmen darf. Seine Kollegen waren jedoch nicht gut zu sprechen auf Schutzmaβnahmen gegen das Virus, weder von der Firma, noch vom Staat.
Und so schwieg Ernst und beobachtete den Unmut seiner Kollegen, die aber nichts gegen ihre Vorgesetzten unternahmen. Beobachtete seine Vorgesetzten, welche freundlich taten, ständig grinsend durch die Gegend liefen oder auf ihre Monitore starrten, während ihre Untergebenen mit notdürftig geflickten Maschinen versuchten Kundenaufträge zu erfüllen, die schon vor Wochen hätten erledigt sein müssen.
Eines Tages - es war ein Tag wie jeder andere auch, bis auf eine Ausnahme - würde am schwarzen Brett der Firma eine Bekanntmachung der Firmenleitung aushängen: Morgen auβerordentliche Versammlung! - Thema: Firmensituation.
Alle wussten, was damit gemeint sei: Der Firma ging es jetzt so lange schlecht, nicht mal Kurzarbeit konnte daran etwas ändern. Nun würde es um Entlassungen gehen.
Ernst begann zu grinsen. Nicht aus Gehässigkeit - er mochte einige seiner Kollegen und den anderen wollte er auch kein Unheil. Er wusste lediglich, was folgen würde: Er würde einer der Kandidaten sein, die als erstes gehen müssen. Weil er den Mund aufgemacht hat. Weil er seine Kollegen mit seinem Schreiben schützen wollte, wie er auch sich und seine Familie schützen wollte.