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Heimweg
Elisabeth geht langsam nach Hause. Sie ist alt und senkt sich beim Gehen ein wenig zur linken Seite. Ihre Gelenke schmerzen: Eine alte Knieverletzung, die sie sich einst beim Segeln zugezogen hat.
Unvorstellbar, denkt sie und verzieht bei jedem Hindernis das Gesicht. Unvorstellbar, dass es für sie einmal Zeiten gab, in denen sie über das Meer gesegelt war - eine Zeit, in der die nächste Mahlzeit gar kein Problem und der nächste Urlaub höchstens die Qual der Wahl bedeutet hatte. Eine Zeit ohne Räuberbanden und ohne Piraten - nun, fast ohne Piraten, korrigiert sie sich, und die wenigen waren nur auf Beute aus, nicht auf Ketzer - ein Meer ohne schwimmende Minen, eine Zeit, in der man überall hingehen konnte. Fast überallhin.
Eine kleine, aufrechte Frau ist sie, zart und mager, beinahe zahnlos. Elegant gekleidet nach einer Mode, die schon ein halbes Jahrhundert vergangen ist. Solange sie stillsteht, sieht man ihr ihre Gebrechlichkeit kaum an.
Das Getrampel einer Gruppe von Männern, einige Straßen entfernt, hallt in der Gasse. Es ist nicht die Sorge um ihre eigene Sicherheit, die sie zwischen einige Häusertrümmer verschwinden lässt, so schnell es ihre Beine zulassen. Aber sie trägt einen Rucksack mit Nahrungsmitteln, und sie möchte von der Horde runzliger, bärtiger Kerle nicht ausgeplündert werden. Sie sind bewaffnet bis an die Zähne. Die Waffen scheinen der Welt nie auszugehen.
Der Rucksack ist schwer, obwohl es nicht viel auf dem Markt zu kaufen gibt.
Sie hat etwas Geld, und ein paar Taschenbücher zum Tauschen. Nun gibt sie sie nach und nach weg, eines nach dem anderen, aus den großen Kisten auf ihrem Dachboden. Sie bringen mehr ein, wenn sie verboten sind. Zum Beispiel die unzensierten, halbpornografischen Heftchen, mit denen sie sich früher manchmal eine entspannende Stunde in der Badewanne gegönnt hatte, mit einem Glas Wein. Deren Besitz heute auf einen Individualismus, auf eine Ich-Bezogenheit hindeutet, die keine der kriegführenden Mächte zu tolerieren bereit ist.
Dennoch sind sie begehrt: Ein papierenes Buch verrät schließlich nicht, wer es wann gelesen hat. Im E-Buch dagegen liest man besser nur Dinge, die einen bei der augenblicklichen Kommandatur nicht in Schwierigkeiten bringen.
Der Krieg. Kein Krieg wie der, über den sie im Geschichtsunterricht gehört hatte. Das war alles so lange her...
Etwa neunzig Jahre seit der ersten Mondlandung.
Etwa siebzig Jahre seit dem Fall der Mauer.
Den hatte sie selbst noch miterlebt. Nun ist sie selbst schon mehr als hundert Jahre alt. Wie sie sich gefreut hatte, als die Mauer fiel! Viele, nein, fast alle hatten sich gefreut. Jemandem, der als Kind noch die Ausläufer des Kalten Krieges miterlebt hatte, schien das Zusammenbrechen des Systems der Beginn einer besseren Welt gewesen zu sein.
Wie gut sie sich an das alles noch erinnert - besser als an das, was gestern geschehen ist. Dabei kann sie eigentlich nicht klagen, ihr Gedächtnis ist noch recht gut.
Es war der Beginn einer schlimmeren Welt gewesen, keiner besseren. Zwei Jahrzehnte trügerischer Ruhe, wie das Auge des Hurrikans. Die Augen, das weiß sie heute, hatte sie fest geschlossen, um die Anzeichen nicht sehen zu müssen. Die vielen Moscheen, die Neuen Kreuzritter, und all den übrigen Wahnsinn. Dann, ein irrationaler Sturm, der große Teile der westlichen Welt verwüstete. Sie fühlt mit der freien Hand unbewusst nach den beiden Symbolen ihrer Überzeugung unter ihrem Cape: Ein simples Atomsymbol, der Kern durch ein A ersetzt. Ein Fisch, aus einer einzigen, hin- und zurückschwingenden Linie gebildet, aber mit Füßchen und dem Schriftzug "Darwin" versehen.
Religion, du bist wahrlich der Schänder des gesunden Menschenverstandes, denkt sie. Oder bist tatsächlich du die Wahrheit, weil es den "gesunden" Menschenverstand nicht gibt? Brecht und Macchiavelli, bittet für mich!
Ihren Darwin-Fisch hatte sie auch früher nie offen getragen. Es war nicht ihre Absicht gewesen, wirklich Gläubige zu kränken, der Darwin-Fisch ist nur ihr eigenes "E poi si muove - und sie bewegt sich doch!".
Sie stolpert über Schutt und Mauerfragmente auf der Suche nach einem Versteck. Heutzutage scheint für sie alles Religion zu sein; keine politische Auffassung, kein Aspekt des täglichen Lebens kommt ohne religiöse Bezugnahme aus. Religion ist eine Frage der Macht. Welchen Glauben hat man? Schlag dich auf die Seite des Stärkeren! Religion ist - Parteigängertum? Ist nur ein Vorwand, weil der Mensch nun mal nicht friedlich sein kann? Sie gibt ihren Anhängern ein Zeichen der Zugehörigkeit und einen Vorrat unwiderlegbarer paranoider Rechtfertigungen an die Hand. Aber glaubte jemand? Konnte der Glaube hundertfünfzig Jahre der Säkularisierung überstehen und mit voller Kraft zurückkehren, wie eine schwingende Abrissbirne? Hinter alledem muss irgendwo der wahre Nutzeffekt verborgen sein, Macht und Geld, aber niemand scheint davon zu profitieren. Es geht nur alles kaputt.
Früher, denkt sie und verstaut den Rucksack mühsam unter einigen Brettern, da schien die Wurzel der Religion die Angst vor Krankheit und Tod zu sein. Jesus' spektakulärste Wunder waren seine Heilungen. In ihrer eigenen Zeit hatte die Chinesen die Wahl zwischen der Falun-Gong-Sekte und einer Krankenversicherung gehabt. Die Krankenversicherung war den meisten zu teuer gewesen... Elisabeth hat auch keine mehr. Sie hat allerdings auch keinen Glauben, und daran hält sie fest. Ihr heimlicher, fast fanatischer Atheismus scheint in einer Welt der Religionskriege die einzige Verbindung zu ihrer Vergangenheit als erfolgreiche Wissenschaftlerin zu sein.
Vor etwa achzig Jahren hatte sie ein Studium begonnen. Sie war gut gewesen, begabter als die meisten. Mittlerweile, natürlich, war alles vergessen. Sie hatte bis zu ihrem dreiundsiebzigsten Lebensjahr gearbeitet - freiberuflich - aber dann ging es nicht mehr.
Die Datennetze waren ein Kriegsschauplatz geworden. Mit schlimmeren Auswirkungen als die schärfste Zensur sie hatte. Akkreditierungen wurden für alles benötigt. Glaubensprüfungen. Gewissensüberprüfungen. Heute diese, morgen jene, für schäbige Aufträge, die nicht einmal die Kosten der Nachweise wieder einbrachten. Sie begreift nicht, wie das alles funktionieren kann, es scheint wirtschaftlich nicht aufzugehen. Nun schlägt sie sich so durch, wie es geht, hauptsächlich mit Nähereien und ihrem Garten.
"Komm heraus da, Frau!"
Langsam wendet sich Elisabeth wieder zur Straße und kommt ohne ihren Rucksack hervor. Der Anführer der Soldaten fasst sein Gewehr fester, aber als er sieht, wie gebrechlich und unfassbar verwittert die winzige Person ist, die mühselig über die Trümmer steigt, lässt er es wieder sinken.
"Was hast du dort zu suchen?"
Elisabeth sieht ihm nicht ins Gesicht, denn sie weiß, dass er das sofort als Provokation auffassen würde. Die vernunftlose Wut, die enorme Zornmütigkeit der meisten Männer, die den versprengten Soldatenbanden angehören, und ihr Hochmut machen sie gefährlich, aber auch ein winziges bisschen berechenbar.
"Ich wollte nicht... " beginnt sie.
"Was wolltest du nicht?"
"Es ist nur so - der Heimweg ist so weit - ich schaffe es nicht..."
"Was hast du dort zu suchen gehabt, Alte?" brüllte der Mann mit sich überschlagender Stimme.
"Es war nur... meine Blase..."
Der Abscheu dieser Männer vor dem, was die andeutet, scheint echt zu sein. Der Anführer verzieht das Gesicht und winkt seine Leute mit einer heftigen Armbewegung weiter. Elisabeth wartet, bis sie sich entfernt haben. Ein verächtliches kleines Lächeln liegt auf ihrem Gesicht. Sie ist stolz auf sich. Der Rucksack, den sie nun wieder hervorholt, scheint nicht mehr so viel zu wiegen, als sie sich auf den Heimweg macht. Die Anhöhe hinauf, wo das Haus steht. Wie jeden Tag, blickt sie in Richtung Süden auf die Alpen, die man an Föhntagen von hier oben sehen kann. Die Berge rücken alles in die richtige Perspektive.
Und wenn ich noch zehn Jahre lebe, denkt sie, dann werde ich mich wundern, dass ich heute zu klagen hatte - das Dach ist noch dicht, ich habe zu essen, ich bin nicht alleine - ich wünschte, ich hätte meine Zukunft gekannt, damals, als ich mit Körben voller Sachen vom Einkaufen zurückkam, Körben, die ich kaum heben konnte. Mann und drei Kinder hatte ich und meine Arbeit und vier laufende Meter gefüllten Kleiderschrankes und Sorgen, Sorgen, Sorgen - pah! Worüber denn? Meine Geldanlagen etwas gefallen? Die Versicherungen etwas teurer?
Bestimmt hatte sie damals nicht das erwartet, was dann geschehen war!
Und ihr Blick geht hinunter auf die kleine Stadt, deren Häuser zu drei Vierteln zerstört sind, deren wenige Bewohner kaum je zu sehen sind - sie huschen hinaus, wie Ratten, um etwas Futter zu beschaffen, und, husch, wieder zurück ins sichere Loch, und draußen hört man immer wieder diese dämonischen Geräusche, von denen man gar nicht so genau wissen will, was sie genau zu bedeuten haben.
Sie kann es wohl nicht lassen, sie macht sich immer noch Sorgen. Nun hauptsächlich wegen Adrian. Ihr Freund, seit sie vor vierzig Jahren Witwe geworden war. Sie machte sich Sorgen, dass er sterben und sie zurücklassen könnte. Er ist zwar jünger als sie, aber bei weitem nicht so vital. Sie machte sich Sorgen, dass sie sterben und ihn zurücklassen könnte. Dass etwas mit dem Haus passieren könnte. Und plötzlich beschließt sie, die ihr ganzes Leben lang keine Vorsätze gefasst hat, sich nicht mehr zu sorgen. Ein Anfall von Fatalismus, oder vielleicht von Gottvertrauen? Na, na, na, Elisabeth, du wirst doch wohl nicht etwa, ermahnt sie sich. Vielleicht wird sie doch. Wenn sie ihre eigene Macht immer mehr verliert, dann muss diese doch auf jemanden übergehen, oder nicht? Sie ist all dessen auf jeden Fall müde.
"Lisa?" ruft es aus der Küche, als sie das Haus betritt. Sie geht zu ihm und küsst ihn auf das weiße Haar. "Warst du erfolgreich?" fragt er.
"Wie man's nimmt", antwortet sie. Adrian beginnt, die Lebensmittel auszupacken.
"Danke, Schatz", sagt sie, "ich gehe und lege mich ein wenig hin. Ich hatte einen bösen Schreck auf dem Heimweg, und nun fühle ich mich wie gerädert."
Sie ist tatsächlich sehr müde, als sie sich auf das Bett legt.
So müde wie noch nie zuvor.
Sie schließt die Augen.