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Heimkunft

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23.01.2014
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Heimkunft

Ich schwebte Richtung Bahnhof. Ich schwitzte und stank, meine Pumpe hämmerte. Gedankenfetzen sprangen in meinem Kopf herum, nicht in den komplexen und vernetzten Bahnen, in denen die Intelligenz wohnt, sondern in dem sprichwörtlichen Dreieck, dessen Eckpunkte Adelheid, so heißt meine Frau, Hermann, das bin ich, und Lydia hießen. Die Gedanken trudelten und torkelten und ich schwebte.
Lydia war die Frau, aus deren Bett ich mich vor 10 Minuten geschält hatte. Ich roch nach ihr aber das machte nichts, weil Adelheid seit Monaten nicht mehr an mir geschnuppert hatte. Ich roch auch Lydia. Roch ihre Haut, ihre Säfte. Ich hatte vergessen, wie eine Frau roch.
Seit Jahren hämmerte meine Pumpe nur noch, wenn ich dem Bus hinterher rannte. Die letzte S-Bahn ging um fünf nach. Es war zwei Minuten vor fünf nach. Ich hetzte durch die Schillerstraße, vorbei an Besoffenen, die in einer der Nachtbars mehr Geld lassen würden, als sie in einer Woche verdienten. „Schatzi, gibst du mir einen Sekt aus. Nur 300 die Flasche. Dafür bin ich ganz lieb zu dir.“ Und mindestens drei gegen einen an so einem lausigen Tag ohne Messe und Oktoberfest. Und nicht einmal Wochenende. Eine Schöne der Nacht lehnte an einer Hauswand, kühlte ihre halbnackten bestiefelten Beine in der Abendluft, knabberte an einem Hamburger und schwätzte gelangweilt mit einer ebenso gelangweilt knabbernden gestiefelten Kollegin. Ich sprang die Treppe zu U- und S-Bahn hinunter, schlitterte über dreckige Bodenfliesen, an denen seit der Olympiade 72 der Gilb leckte. Ich galoppierte über die Stufen der Rolltreppe, das alles, um sozusagen ihren Arsch zu sehen, der vor meinen Augen im Tunnel verschwand. Den Arsch der letzten S-Bahn!
Heftiges Seitenstechen zwang mich auf eine der Sitzbänke, ich schnappte nach Luft und dachte an die Leere in meinem Geldbeutel. Ein paar Silberlinge mussten noch da sein, zu wenig sogar für einen pakistanischen Taxifahrer, der sich darauf einließ, ohne Uhr zu fahren.
“Scheiße“ dachte ich und machte mich geistig auf den Marsch quer durch die Innenstand. Eine Stunde mindestens und das bei dem Seitenstechen. Am Ende des Bahnsteigs standen ein paar junge Amis herum, ein Lulatsch von fast zwei Metern und drei quäkende Gören mit kolossalen Levis-Ärschen. Was fressen die, dass sich alles hinten ansammelt, fragte ich mich, während ihre gequetschten Vokale bis zu meiner Bank wehten. Ich musste an meinen ersten Job nach der Uni denken. Deutschunterricht für Ausländer, freiberuflich, Scheißbezahlung, kein Urlaub und schneller draußen, als die Kundschaft ausbleiben konnte. Die Amis stellten sich mit Abstand am dümmsten an. Ein ganzes Jahr hatte ich mich damit herumgequält, diesen Breitmaulfröschen unsere guten deutschen Umlaute und Konsonantenhäufungen beizubringen.
Langsam schlenderte ich zu ihnen hinüber.
“We just missed the last train.” sagte ich und überlegte, ob das Simple Past hier die richtige Lösung war.
“Oh my god!“ jaulte eine der drei und sah mich so verzweifelt an, als hätte ich ihr die Nachricht vom Tod ihrer Mutter überbracht. „How can we get back to the hotel? “
”Which hotel?” fragte ich hilfsbereit. Der Lulatsch kramte eine zerknüllte Karte aus der Hosentasche, aus der hervorging, dass die vier im Hotel Franz residierten. Das Hotel Franz lag in meiner Richtung, allerdings bereits im ersten Achtel des Wegs, einen fünfminütigen strammen Fußmarsch entfernt.
“It´s on my way. Why don´t we share a taxi?“ schlug ich vor, worauf sie mich als ihren Retter priesen und im Gänsemarsch hinter mir her trotteten.
Der Taxifahrer war ein Pakistani, ein Inder oder ein Tamile. Er ließ es kommentarlos zu, dass die vier sich auf die Rückbank quetschten. Ich klopfte ihm freundlich auf die Schulter und sagte: „Zehn Euro! Ohne Uhr! Erst zum Rosenheimer Platz und dann ins Hotel Franz.“
“Hotel Franz“ sagte ich laut, schob beim „r“ die Zunge nach hinten, dehnte das „a“ und drehte mich um. Der Lulatsch saß eingequetscht zwischen den drei XXL-Hinterteilen und lachte glücklich.
“Andersrum besser.“ bemerkte der Pakistani ortskundig.
„Nix andersrum!“
Eine Viertelstunde später ließ er mich am Rosenheimer Platz aussteigen. Ich drückte ihm meine drei Silberlinge in die Hand und deutete ihm in Richtung meiner neuen Freunde nickend, dass er den Rest von ihnen kassieren sollte.
“Thank you so much.“ sangen sie im Chor. Ich lächelte, schlug die Tür zu und verschwand.

Die Tür zum Schlafzimmer war offen. Fast musste ich annehmen, dass sie es darauf angelegt hatte, meine Heimkunft live mitzuerleben. Adelheid saß aufrecht im Bett und blinzelte im Schein der Leselampe. Ihr Bett war so durchwühlt, dass ich hätte versucht sein können, nach drei Männern im Schrank zu sehen. Nackenrollen, vier Kissen, zwei rote, zwei gelbe, eine blaue Wolldecke, ein entfesseltes Laken, die Süddeutsche vom Wochenende in Einzelteilen, die gereicht hätten, den Fußboden einer streich- oder tapezierbereiten Wohnung auszukleiden und zwei offene Bücher Rücken nach oben. Das allerdings sprach gegen die Männer im Schrank. Adelheid hatte die Gabe, ihre nähere Umgebung binnen Minuten in ein Schlachtfeld verwandeln zu können, das galt für Betten aber auch für Arbeitszimmer oder Bäder. Adelheid musste nicht das Bein heben und pinkeln, sie dokumentierte ihre Präsenz durch vollständige Beschlagnahmung. Offensichtlich hatte sie noch nicht geschlafen. Trotzdem blinzelte sie traumtrunken, um mir zu verdeutlichen, dass sie meine späte Ankunft als Rücksichtslosigkeit empfand.
„Wo warst du? Wie viel Uhr ist es?“
Ich beantwortete die zweite Frage und beschloss, nicht mehr als nötig zu lügen. Sofern sie mit ihren Fragen kooperierte natürlich.
“Halb zwei.“ sagte ich freundlich und drehte mich um mit der Absicht, die Liege im Wohnzimmer zu beziehen.
“Wo warst du?“
„Im Kino.“
“Welcher Film?“ Sie kooperierte nicht aber ich war vorbereitet.
“2001. Odyssee im Weltraum. Stanley Kubrick. Original mit Untertiteln. Dreieinhalb Stunden.“
“Hältst du mich für blöd?“
Ich hielt sie nicht für blöd. Ich hielt sie sogar für intelligent genug, den Wahrheitsgehalt meiner Lüge zu verstehen. Kürzlich hatte ich Solaris gesehen, ebenfalls drei Stunden. Tarkowskij, russisches Original mit englischen Untertiteln, nicht das Hollywood - Remake. Oder Barry Lyndon, Little Big Man, Ben Hur, Der mit dem Wolf tanzt. Nichts unter Hundertachtzig Minuten und völlig unabhängig vom veröffentlichten Kinoprogramm. Dazu die Regelmäßigkeit meiner Ankunftszeit mit der letzten S-Bahn, verqualmte Klamotten. Ich hielt sie nicht für blöd. Meine Zeit ist meine Zeit hieß das. Es geht dich überhaupt nichts an, wo ich meine Abende verbringe.
“Eigentlich interessiert es mich einen Scheißdreck, wo du dich rumtreibst.“
“Dann ist es ja gut.“ Gespräche mit mir dienten Adelheid dazu, ihren beruflichen Zwang nach gewählter Ausdrucksweise zu kompensieren.
„Wir müssen morgen früh raus. Edeltruds Brunch.“
Richtig! Wie hatte mir das entfallen können! Morgen war der zweite Sonntag eines ungeraden Monats. Brunchtermin bei Gert und Edeltrud.
„Wie früh?“
„Um zehn sollen wir dort sein.“
„O.K.“
“Ich muss jeden Tag früh raus, weil ich die Kohle für einen Mann mitverdienen muss, der nur noch dahinvegetiert wie ein altersschwacher Köter.“
“Ich weiß.“
“Du bist sogar zu faul, um Stellenangebote zu lesen. Sogar das muss ich für dich tun.“ Mit raumgreifendem Armschwung deutete sie auf den Zeitungsdschungel auf ihrem Bett.
“Ich kann mich nicht erinnern, dich gebeten zu haben.“
“Das geht nicht mehr lang gut.“ seufzte sie.
“Das geht schon lang nicht mehr gut.“
“Was soll das heißen?“
“Gar nichts außer dass zwischen uns schon lang nichts mehr gut geht.“
“Was soll denn bitteschön gut gehen, wenn ich mit einem Mann lebe, der zu faul ist zu arbeiten, der mein Geld versäuft oder verhurt, der sein Maul nicht mehr aufkriegt, außer um sich fett zu fressen oder Whiskey reinzuschütten. Sag doch mal irgendwas! Irgendwas Vernünftiges. Irgendwas Brauchbares. Was hast du vor? Hast du Lahmarsch überhaupt noch irgendwas vor in deinem lahmarschigen Leben?“
Der adjektivische Überfall ermüdete mich schlagartig. Ich setzte mich.
“Bleib mir bloß vom Leib. Setz dich bloß nicht auf mein Bett.“
Ich stand auf.
“Warum suchst du dir nicht einen Job? Warum unterrichtest du nicht mehr?“
Adelheid war Gymnasiallehrerin wie ihre Freundin Edeltrud. Sie arbeiteten an derselben Schule.
“Darüber haben wir schon so oft geredet.“
“Geredet. Gelabert hast du! Blödes Gewäsch von dir gegeben.“
“Ich habe dir tausendmal erklärt, dass ich nicht für ein Putzfrauenhonorar unterrichte.“
“Ich weiß. Dafür hast du nicht studiert, um für ein Putzfrauenhonorar zu arbeiten. Die Leier kenn ich auswendig.“
Sie strampelte ihre Decke von sich, zeigte mir ein paar weißer Beine unter einem meiner weitesten T-Shirts, das sie als Nachhemd entfremdete.
“Warum schläfst du nicht mehr mit mir.“
Ich stellte die Frage um das Thema zu wechseln.
“Weil du tot bist, ausgebrannt, im Hirn vertrocknet. Ich schlafe doch nicht mit einer Leiche, nur weil sie in der Mitte noch zuckt. Dein Schwanz ist das einzige, das noch lebt. Vielleicht kannst du damit Geld verdienen.“
“Kannst du nicht akzeptieren, dass ich in einer Krise stecke? In guten und in schlechten Tagen... Erinnerst du dich?“
“Es geht nicht um Krise. Es geht um Selbstaufgabe. Es geht um das Einstellen aller geistigen und körperlichen Aktivität. Es geht um absolute Abwesenheit jeglichen Interesses an jeglichem Problem, Leere im Kopf, es geht um Verwesungsgeruch, Hermann!“
Sie hatte sich aufgerichtet, saß mir gegenüber, Mund offen, Augen wie Torpedos.
„Ich verlasse dich. Ich schmeiß dich raus.“
Ich hatte genug. Warum nahm sie keine Schlaftablette und ließ mich in Frieden nach Hause kommen und zu Bett gehen? Ich sehnte mich nach einem weichen Untergrund. Nach einer Decke, nach Dunkelheit und Schweigen.
„Nicht einmal das interessiert dich. Spürt du eigentlich noch irgendetwas oder bist du vollkommen abgestumpft?“
Sie hatte anscheinend beschlossen, sich die Frage durch ein Experiment zu beantworten und begann, mit ihren kleinen Fäusten auf mich einzuschlagen. Ich ließ sie schlagen. Sie trommelte auf meinen Brustkorb, schlug virtuose Wirbel. Nach einer Weile tat es weh.
„Hör auf, Adelheid.“
„Tu irgendwas, sag irgendwas.!“
„Hör auf, Adelheid!“
Sie schlug weiter.
Ich griff mir eines der herumliegenden Kissen, um meine Brust zu polstern. Sie riss daran, weil sie nicht wollte, dass ich meine Brust polsterte. Das Kissen landete auf ihrem Gesicht. Ich hielt es dort.
Eine Weile trommelte sie noch. Dann hatte ich Ruhe.

 

Hallöchen wander,

es fällt mir ehrlich gesagt schwer, deine Geschichte zu bewerten. Die grundlegende Idee und die Handlung sind interessant, aber der Protagonist bleibt ziemlich blass. Er betrügt seine Frau und hat sich selbst aufgegeben, ersteres ist zwar eine gute Ausgangslage, zweiteres wird aber nur so nebenbei angeschnitten. Zudem hat es diese Geschichte nicht geschafft, mich wirklich zu fesseln (im Gegensatz zu einigen deiner superben früheren Geschichten).

Und das Ende ... funktioniert meiner Ansicht nach irgendwie nicht. Den Großteil der Geschichte kam es für mich so rüber, als ob seine Frau Hermann einfach egal wäre und umgekehrt. Und am Ende eskaliert es plötzlich so rasant schnell, dass es mir nicht ganz glaubhaft erscheint.

Auf der Plusseite ist die grundlegende Idee aber recht gut, und wenn du die Geschichte noch etwas fesselnder gestaltest und den Prot. etwas mehr ausarbeitest, könnte eine sehr gute Kurzgeschichte dabei rauskommen :)

MfG
NerdLion

 

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