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Heimkehr
Nichts deutet auf die Hölle hin, die gestern noch über den Ozean gefegt war.
Der wolkenlose Himmel starrt Martin entgegen, während er auf einem Wrackteil des Fischkutters »Sigmalda« über das Meer treibt.
Das Holz schwankt sanft im Wasser, wiegt ihn wie eine Mutter ihr Kind. Noch treibt es auf der Oberfläche und trägt sein Gewicht.
Das Meer ist ruhig, bis auf das Platschen der Wellen ist nichts zu hören. Nicht ein einziger Vogel kreuzt sein Blickfeld, lediglich die Sonne strahlt erbarmungslos auf ihn nieder. Angestrengt versucht er den Arm zu heben und stöhnt, als ein stechender Schmerz durch seine Schulter fährt. Er kann der Sonne nicht mehr entgegensetzen, als ein Zucken seiner Hand.
Durstig fährt er mit der Zunge über seine Lippen auf der Suche nach einem Tropfen Wasser. Doch alles was er schmeckt ist Salz. Salz, das ihn seit er denken kann begleitet hat.
Martin fühlte die starke Hand seines Vaters, während er über eine Steinmauer an den Docks balancierte. Links von ihm befand sich das Wasser, rechts strahlte ihn sein Vater Erich an. Er trug eine graue Schiebermütze und zwischen seinen buschigen Brauen und der knorrigen Nase blickten Martin grüne Augen entgegen.
»Siehst du die Schiffe dort, Martin?«
Erich hob den Sechsjährigen auf die Schultern und zeigte mit dem Finger auf die Segelboote, die im Hafen angelegt hatten. Martin nickte eifrig und hielt sich an Erichs Ohren fest.
»Irgendwann haben wir auch so eines, mein Kleiner.«
Auf dem Haupt seines Vaters thronend eroberte Martin den Hafen. Er saugte alle Gerüche und Geräusche in sich auf, und als Martin die Schiffe nahe der Fischhalle erblickte, kam er nicht mehr aus dem Staunen. Die wuchtigen Fischkutter mit ihrem eisernen Bug verdrängten die Segelboote im Nu aus seinen Gedanken.
Kapitäne schrien von Deck aus Befehle, fluchten und spuckten über die Reling. Matrosen schleppten mannshohe Fässer an Land, und Möwen kreisten über ihnen, in der Hoffnung, einen Happen zu ergattern. Es roch nach Schweiß und Benzin und ein Schiff spuckte schwarzen Rauch in die Luft.
Schon als Sechsjähriger wusste Martin, dass er sein Leben zu Wasser verbringen wollte.
»Sind die Menschen jetzt völlig übergeschnappt?«, tobte Erich eines Abends.
Er war spät heim gekommen und unter dem vertrauten Aroma von Leder und Klebstoff roch Martin scharfen Schnaps. Mit seinen inzwischen Zwölf Jahren waren ihm die Gerüche nur allzu vertraut geworden.
Martins Vater war Schuster und stolzer Besitzer eines Ladens mit einer eigenen Werkstatt.
»Heute kam ein piekfeiner Herr zu mir in den Laden und meinte mit mir über meine Preise feilschen zu wollen«, sagte Erich und gestikulierte dabei wild mit seiner Gabel. Martin starrte schweigend auf seinen Teller.
»Als sei ich ein… irgendein Obsthändler vom Markt!«
Die Anfälle von Jähzorn hatten sich in den letzten Monaten gehäuft. Die Themen waren dabei immer dieselben: Das neue Schuhgeschäft in der Hauptstraße, mit seinen maschinell hergestellten Schuhen, die Politiker, die Erich um den letzten Pfennig brachten, oder die Kunden, die meinten, ihn über den Tisch ziehen zu wollen.
»Also sage ich dem Mann, dass meine Preise nur gerechtfertigt sind, verstehst du, Elise?« Sein Kopf war rot angelaufen und die Adern am Hals traten deutlich hervor. Martins Mutter schob ihre Erbsen von der einen Seite des Tellers auf die Andere. Sie saß ihm gegenüber, doch brachte es kaum fertig, den Blick zu heben.
»Aber nein, das ist dem Mann nicht genug! Er sagt, er geht dann doch lieber in ein anderes Schuhgeschäft und lässt mich wie einen Idioten vor dem Rest meiner Kundschaft stehen.«
Martin zuckte zusammen, als die Hand seines Vaters auf den Tisch knallte. Das Besteck klirrte und eine einzelne Erbse hüpfte von seinem Teller und rollte über den Teppich. Dann stand Erich auf, lief in den Flur und holte die Schnapsflasche aus der hölzernen Kommode.
Von dem liebenden Vater mit den leuchtend grünen Augen war nicht mehr viel geblieben.
Mit vierzehn hatte Martin einen Aushilfsjob in einem Lagerhaus ergattert. Die Arbeit war hart und die Bezahlung mies, doch immer noch besser als die Vorstellung im Schuhgeschäft seines Vaters zu arbeiten. Seine Freizeit verbrachte er am liebsten an den Docks, beobachtete die unterschiedlichen Schiffe und träumte davon, selbst in See zu stechen.
Dass Martin sein Leben der See versprach war allerdings nicht alleine seinem Vater zu verdanken. Es war seine Mutter gewesen, die ihn zu diesem Schritt zwang.
Die Frau, die ihn sein Leben lang geliebt hatte. Die ihn unterstützte und ihn tröstete, wenn es ihm schlecht ging. Egal wie betrunken sein Vater auch war und wie sehr er auch tobte, sie hielt ihre kleine Familie zusammen.
Bis Martin erkannte, wie sehr man sich in einem Menschen täuschen kann.
Es war kurz vor seinem siebzehnten Geburtstag. Die Schule würde er bald abschließen und der alte Foster, der Besitzer des Lagerhauses, hatte ihm angeboten ihn, nach seinem Abschluss zu übernehmen.
Erfreut über diese Nachricht eilte Martin nach Hause. Es hatte den ganzen Tag über geregnet, doch er ignorierte die dreckigen Fußspuren, die er auf den Stufen im Treppenhaus hinterließ. Seine Mutter würde ihm sicherlich verzeihen, wenn er ihr die Neuigkeiten erzählt hatte.
Plötzlich hielt er inne und lauschte. Hatte er jemanden schreien gehört?
Er rannte die Treppe nach oben und stürmte in die Wohnung.
Sein Vater stand in der Küche und fuchtelte mit einer Flasche herum, während seine Mutter auf einem Stuhl in der Ecke hockte und die Wand anstarrte.
»Diese Arschlöcher!«, brüllte Erich und nahm einen gierigen Schluck. Er drehte sich um und erblickte seinen Sohn.
»Ah! Da ist er ja, der Großverdiener!«
Martin schaute zu seiner Mutter, doch die schien noch nicht einmal bemerkt zu haben, dass er das Zimmer betreten hatte.
»Bist du jetzt der Mann hier im Haus?« Erich lallte deutlich und musste sich mit einer Hand auf den Tisch stützen um nicht den Halt zu verlieren.
»Vater, hör auf ...«
»Hör auf? Gibst du mir jetzt etwa Befehle?«
Erich taumelte auf seinen Sohn zu und packte ihn am Kragen.
»Nur, weil du jetzt Geld heim bringst, spielst du dich auf wie der Chef? Soweit kommt's noch!« Erichs Augen waren trüb. Fast, als hätte sich ein nebliger Schleier über sie gelegt. Sein Atem roch nach einer Mischung aus Bier und Spiritus und an den geröteten Wangen liefen einzelne Schweißperlen herunter.
Dann lies er wieder von seinem Sohn ab und widmete sich erneut seinem Stoff. Martin stand da, als hätte jemand seine Beine in Beton gegossen.
Er schluckte und machte einen schwerfälligen Schritt in Richtung seines Vaters, eine Hand nach der Flasche ausgestreckt.
»Wag' es nicht, Sohnemann«, flüsterte sein Vater. Er hielt ihn mit einer Hand auf Abstand, während in der anderen der Schnaps schaukelte. Gestern war die Flasche noch voll gewesen, jetzt bedeckte gerade ein daumenbreit Flüssigkeit den Boden.
Elise regte sich in ihrem Stuhl. Sie blickte die beiden an, als sei sie soeben aus einem Traum erwacht.
»Es reicht, Erich ...« Wie in Trance schritt sie auf ihren Mann zu.
»Nimm deine Finger von mir, Weib!«
Erich stieß seine Frau von sich, der Alkohol ging klirrend zu Boden und Elise taumelte rückwärts.
Als sie schreiend in den Scherben landete riss etwas in Martin.
Er sah noch das Gesicht seines Vaters vor sich, seine Hände ballten sich zu Fäusten. Seine rechte krachte auf Erichs Unterkiefer und schleuderte ihn gegen den Kühlschrank. Seine Mutter schrie auf, doch für Martin gab es nur noch die Wut.
Er ging seinem Vater nach, der längs auf dem Boden lag, beugte sich über ihn und Schlug erneut zu. Erichs Augen waren aufgerissen und aus seiner Nase, die einen schiefen Knick machte, spritzte Blut. Martins Faust war rot verschmiert und die Farbe zierte das komplette Gesicht seines Vaters.
Wieder und wieder Schlug er zu, ließ seiner Wut, die sich über all die Jahre angestaut hatte freien Lauf, bis er seine Hände nicht mehr spürte und warme Tränen über sein Gesicht rannen.
Irgendwann – Martin konnte nicht sagen wie viel Zeit vergangen war – zerrte Elise ihn von seinem Vater herunter. Erichs Gesicht und sein Hemd waren von Blut überströmt, und am Unterkiefer bildeten sich schon untertassengroße blaue Flecken.
»Erich? Erich, bitte sag etwas«, wimmerte Martins Mutter. Doch mehr als ein Stöhnen bekam sie nicht als Antwort.
Sie holte ein feuchtes Geschirrtuch und begann das Blut von seinem Gesicht zu tupfen.
Benommen stand Martin auf. Seine Hände brannten und die Muskeln schmerzten als hätte sie jemand mit Nadeln bearbeitet. Er ging auf seine Mutter zu und legte seine Hand auf ihre Schulter.
»Geh!«, schrie sie ihn an und drehte sich um. »Verschwinde!«
Ihr Gesicht war eine Fratze. Zorn, Angst und Scham kämpften um die Oberhand.
»Mama ...«, flüsterte Martin.
»Verschwinde endlich!«
Die Worte waren wie ein Messer, dass sich Stück für Stück in seine Brust schob.
Als er sich nicht bewegte griff Elise nach einer Glasscherbe und schmiss sie nach ihm. Klirrend zerschellte sie an der Wand und Martin taumelte aus dem Zimmer.
Der Regen war in Nieseln übergegangen und den schwarzen Gewitterwolken waren graue gewichen. Ziellos schlenderte Martin am Hafen entlang, blickte zu den Schiffen auf.
Er hatte gehofft jemanden zu finden, irgendjemanden, doch die Matrosen und Kapitäne waren längst in ihren Kojen verschwunden. Erschöpft setzte er sich auf eine der Poller, an dem die Schiffe angebunden wurden. Ein dickes Tau endete in einer Schlaufe darum und Martin konnte die Kraft spüren, mit der das Schiff daran zog.
Er wollte schon umkehren, als eine Stimme nach ihm rief.
»He, Junge! Geh nach Hause, heute Abend legt kein Passagierschiff mehr ab.«
Ein Mann stand an der Reling von einem der Fischkutter. Im Hintergrund hoben sich die Netze dunkel vor dem Himmel ab. Sein von grauen strähnen durchzogener Bart machte es unmöglich zu sagen, wie alt er war.
»Ich suche kein Passagierschiff«, rief Martin zu dem Mann hoch, doch dieser schüttelte nur den Kopf, drehte sich um und verschwand ohne ein weiteres Wort.
»Ja, verzieh dich nur!«, rief Martin ihm wütend hinterher und spuckte auf den Boden.
Es hatte alles keinen Wert. Er konnte nicht zurück. Er wollte nicht zurück.
Doch wo sollte er hin?
Das Gesicht seiner Mutter drängte sich erneut in sein Bewusstsein.
Verschwinde endlich!
»Eigentlich wollte ich dir einen Teller heißen Eintopf anbieten, Junge. Aber wenn du mich zum Teufel scherst esse ich ihn eben alleine.«
Der bärtige Mann stand auf einer Holzbrücke zwischen Schiff und Land. Aus der Nähe erkannte Martin, dass er gar nicht so alt war, wie er zunächst gedacht hatte. Sein Bart war ungepflegt, seine Kleidung spröde und unter seiner Mütze wuchs zottelig braunes Haar hervor.
»Wie auch immer«, seufzte der Mann. »Mach, was du für richtig hältst, Kleiner.«, sagte er und verschwand wieder im Bauch des Schiffes.
Martin fluchte und trabte trotzig auf die Brücke zu.
Es kostete ihn keine dreißig Minuten seines Lebens, seine Eltern für immer hinter sich zu lassen.
Der Gedanke an Viktor bringt ein Lächeln über Martins Gesicht. Noch immer schwankt das Wrackteil sanft auf den Wellen, doch die Sonne ist inzwischen gewandert. Die größte Hitze hat er überstanden. Sehnlich wünscht er sich einen Schluck Wasser. Unter Schmerzen dreht er den Kopf, blickt nach links und nach rechts.
Kein Schiff, keine Wolken, kein Smog oder irgendein Zeichen der Zivilisation.
Er versucht sein rechtes Bein zu bewegen, doch es rührt sich nicht. Auch das linke, welches unterhalb des Knies in einem Stumpf endet, fühlt sich wie tot an.
Der Stumpf war ein Teil von ihm geworden und plötzlich kann er ihn nicht mehr spüren. Es ist fast schlimmer als an dem Tag, an dem er sein Bein verloren hat.
Als Martin mit Sechzehn Viktors Schiff betrat, war es das erste Mal, dass er keinen festen Boden unter sich hatte. Es fühlte sich an, als würde er fliegen.
"Wenn der Wind mit Regen aus Südwest kommt, treibt es die Fische massenweise in dein Netz", erklärte Viktor ihm eines Morgens, als sie mit ihrem Fang heimkehrten. Es war Martins drittes Jahr zu Deck und er war inzwischen fester Bestandteil der Mannschaft.
Sie hatten ihre Netze an einem von Viktors vertrauten Plätzen ausgelegt und auf das Wetter gehofft. Viktor war schon seit fünfundzwanzig Jahren zu See. Er hatte den Kutter, die Krabbensturm, von seinem Vater geerbt.
»Deswegen ist es auch so wichtig, dass du immer weißt wo Norden liegt. Egal, wo du dich befindest und zwar ohne deinen Kompass.«
Martin nickte. Er saß neben dem Kapitän im Ruderhaus und blickte über die schwarze Weite der See.
»Das geht natürlich nicht immer, aber wenn wir in Küstennähe Seezungen fischen, kannst du dir leicht einen Anhaltspunkt suchen.«
Sein Bart wackelte wenn er sprach und die tiefen Augenringe verliehen ihm das Aussehen eines alten Seebären.
»Wenn wir allerdings so wie heute Nacht auf Kabeljau aus sind und du von der Küste nicht mehr viel siehst, bist du auf deinen Kompass angewiesen.«
Sie waren noch einige Stunden vom Festland entfernt. Viktor gehörte zu den wenigen Kapitänen, die gerne auf hoher See fischten. Er meinte, die Fische dort seien saftiger und nicht so ausgelaugt wie die nahe am Ufer. Martin glaubte allerdings, dass Viktor hauptsächlich die Ruhe der hohen See genoss.
Es windete schon seit sie am vorigen Abend aufgebrochen waren und der Regen trommelte in immer größeren Tropfen gegen die Scheiben des Ruderhauses.
Wilfried, Viktor ältester Matrose, hatte ihn noch bevor sie aufgebrochen waren gewarnt. »Ich sag’s dir, Vik, da kommt was auf uns zu. Ich kann’s in der Luft schmecken!«
Doch Viktor hatte sich davon nicht beeindrucken lassen. Er kannte die See lange genug und hatte die Warnung ignoriert. Wilfried hatte dem Kapitän seine Mütze hinterher geschmissen und war alleine an Land geblieben.
Immer heftiger zerrte der Wind an den Scheiben des Ruderhauses und heulte über das Schiff hinweg.
»Gott sei Dank sind wir bald wieder zuhause«, murmelte Viktor noch, bevor sich der Himmel innerhalb von Sekunden immer dunkler zuzog. Die Krabbensturm begann beachtlich zu schwanken, als die ersten Wellen auf sie trafen. Martin schluckte und starrte durch die Glasscheibe vor ihm. Erst dachte er, sein Verstand würde ihm einen Streich spielen, als er nichts anderes mehr sah als düsteres Wasser. Doch plötzlich krachte die Welle gegen das Glas, sodass Martin erschrocken von seinem Stuhl aufsprang.
»Scheiße, verdammt!«, fluchte Viktor. »Los, los! Wir müssen die Käfige sichern!«
Er zog an einer Schnur und die Alarmsirene gab ein schrilles Kreischen von sich. Dann scheuchte er Martin aus dem Ruderhaus.
»Auf geht’s, ihr Luschen!«, donnerte die Stimme des Kapitäns durch den Bauch des Schiffes, als sie an den Kojen der Mannschaft vorbeikamen. Er erinnerte Martin an einen Piraten, der kurz vor einem Überfall stand.
»Die See erhebt sich! Jetzt werden wir sehen, aus welchem Holz ihr geschnitzt seid!«
Der Wind peitschte Martin um die Ohren, als er sich durch die schmale Tür auf das Deck zwang. Der Boden war rutschig vom Wasser und Martin fand kaum Halt auf dem Holz. Er hangelte sich an der Reling entlang zum Mast und war innerhalb von Sekunden nass bis auf die Haut.
Martin hörte Viktor noch Befehle schreien, dann traf ihn die Welle wie ein Faustschlag und schleuderte ihn an die Spitze des Schiffes. Das Wasser presste sämtliche Luft aus seiner Lunge und füllte sie mit bitterem Salz. Er konnte sich gerade so an der Reling festhalten, hustete, würgte und schnappte nach Luft. Viktor kam auf ihm zugerannt, doch der Kapitän rutschte aus und landete auf allen Vieren.
Martin blieb gerade genug Zeit, erneut Luft zu holen, da schwankte das Schiff, schwebte einige Sekunden lang in der Luft und krachte unter tosen wieder auf das Meer. Fontänen aus schwarzem Wasser spritzten in die Höhe. Dann brach die nächste Welle frontal auf den Kutter und riss Martin mit sich. Sie schleuderte ihn gegen den Mast und längs über das Schiff. Von der Gewalt des Wassers erfasst flog er gegen die Käfige, die fürs Krabbenfischen genutzt wurden und klammerte sich an die Drahtgitter. Dicke Eisenketten hielten sie in Position, doch durch den derben Seegang hatte sich eine der Ketten gelöst und um Martins Bein gewicket. Er spürte das kalte Metall, wie es sich Glied um Glied immer enger zusammenzog. Panisch griff er nach der Kette und versuchte sich zu befreien, doch sie hatte sich fest verschlungen.
Dann kam die nächste Welle.
Mit einem Ruck barsten seine Knochen.
Martin formte den Mund zu einen stummen Schrei, doch er erbrach lediglich ein Schwall salziges Wasser.
Es war das Letzte, das er schmeckte, bevor die Nacht ihn verschluckte.
Bitteres, nasses Salz, das in seinen Lungen brannte.
»Die Krabbensturm war dem Gewitter nicht gewachsen.«
Die Stimme war dumpf und weit entfernt. Viktor. Da waren noch andere Stimmen, doch Martin konnte sie nicht zuordnen. Mehr als ein hohles Murmeln und das Rascheln von Papier erreichte seine Ohren nicht. Er versuchte die Augen zu öffnen, aber seine Glieder gehorchten ihm nicht. Er versuchte zu sprechen, doch sein Mund war trocken und rau, sodass er lediglich zu Husten begann.
Dann folgte der Schmerz.
Wie Feuer breitete er sich über seinem Körper aus und fraß sich Stück für Stück in seine Haut. Martin stöhnte, doch er konnte der Hitze nicht entrinnen. Sie suchte ihren Weg über seinen Körper, über den Rücken und seine Schultern. Wie eine glühende Klinge schabte sie über seine Haut.
Bis die Klinge sein linkes Bein erreichte und mit plötzlicher Wucht unterhalb seines Knies eindrang.
Er riss die Augen auf und ein hoher Ton entwich seiner Lunge, fast wie das schrille Quieken eines Schweins, das man zum Schlachthaus führt. Sein Bein krampfte unter der Decke, als hätte es ein Eigenleben entwickelt. Viktor kam aus dem Nichts in sein Blickfeld, verdrängte die helle, weiße Decke, der Martin entgegenstarrte. Einen Moment nahm das Gesicht des Kapitäns Martins ganze Welt ein, der wüste, von Grau durchzogene Bart, die dunkelbraunen Augen.
»Er braucht Hilfe!«, rief Viktor. »Verdammte Scheiße, Martin!«
Hektisch verschwand er wieder und alles, was Martin blieb, war die weiße Decke. Die Decke, die langsam auf ihn zukam, und sich zu dem radialen Schmerz gesellte, der von seinem Knie aufwärts durch seinen ganzen Körper zuckte wie ein Blitz. die Decke, die immer näher kam, bis sie sein gesamtes Blickfeld einnahm und ihn zu verschlucken drohte, bis sie alles war was es in Martins Welt gab und je geben würde …
Dann wurde alles Schwarz.
»Na immerhin muss ich bei dir keine Angst haben, dass du wegrennst.«
Der Fischverkäufer griff nach seinem Krug und setzte an. Nachdem er getrunken hatte wischte er sich mit dem Handrücken Bierreste vom Kinn. Er war ein Hühne. Blond, muskulös und mit stechend blauen Augen saß er Martin gegenüber.
Viktor hatte ihn zu dem Treffen überredet. Er wusste zwar nicht, was er davon halten sollte, aber letztendlich hatte er zugestimmt. Schließlich gab es für ihn nichts mehr zu verlieren.
»Schonmal was verkauft? Irgendwo? In nem' Laden oder so gearbeitet?«, fragte der Blonde und schob Martin ein Bier zu. Sein Name war Willem und er war einer von Viktors Abnehmern.
»Als Jugendlicher habe ich in einem Lager gearbeitet. Ware sortiert und gelagert.«
Willem nickte. Mit Zeigefinger und Daumen strich er über den stoppeligen Bart an seiner Oberlippe.
»Krempel mal die Hose hoch.«
»Was?«
»War das jetzt arg unhöflich, Vik?«, fragte er an Viktor gewandt, doch der lief lediglich rot an, flüchtete in sein Bier und gab ein glucksendes Grunzen von sich.
»Meinst wohl, ich hab' noch nie einen mit nur einem Bein gesehen?«
»Das ist doch Scheiße ...«, flüsterte Martin, nahm einen tiefen Schluck aus seinem Krug und machte sich an der Hose zu schaffen. Er hatte die Jeans unterhalb des Stumpfes verknotet. Vorsichtig schlug er den Stoff über und wickelte ihn nach oben. Eine wulstige Narbe zog sich quer über das, was einst sein Knie gewesen war. Die Haut stach hellrosa hervor.
Ohne Vorwarnung legte Willem beide Hände um Martins Stumpf und umschloss ihn damit. Langsam tastete er die Haut mit seinen Fingern ab, fühlte nach den Knochen darunter.
»Du hast ein Schweineglück gehabt. Oder nen' verdammt guten Arzt. Das ist ne‘ schöne saubere Schnittkante.«
»Glück?« Martin entzog sich dem Griff des Mannes. Am liebsten hätte er ihm vor die Füße gespuckt. Wie konnte er es wagen von Glück zu sprechen. Fast drei Monate hatte er unter elendigen Schmerzen im Krankenhaus verbracht. Zwei Mal hatten sie ihn erneut aufschneiden müssen, weil dickflüssiger, gelber Eiter aus der Wunde drang.
Willem musterte Martin von oben bis unten.
»Ja, Glück, Junge. Und was für eins. Ich bin mir noch nicht sicher, ob du es verdient hast.«, sagte der Hühne. »Du fängst morgen an. Halb vier. Dann sehen wir mal, ob ich was mit dir anfangen kann.«
Die Erinnerung an Willem schmerzt. Sie schmerzt so sehr, dass sie droht Martin zu verschlingen. Droht, sein Wrackteil zu kippen und in die Kälte zu ziehen. Die Dämmerung ist inzwischen eingebrochen und es gibt nach wie vor kein Zeichen der Rettung. Alles, was ihm bleibt, sind die Sterne, die sich zögerlich am Himmel zeigen.
Bilder ziehen vor Martins innerem Auge vorbei. Sein erster Tag in der Fischhalle, die schweren mit Muscheln oder Krabben gefüllten Fässer, das tiefe, kehlige Lachen des Fischverkäufers, der ihn aus seiner miserablen Lage rettete.
Und damit seinen Untergang besiegelte.
Blonde lockige Haare, die fast bis zu den Hüften reichen. Rote Lippen.
Sophie.
Erbarmungslos bricht die Trauer über ihm ein, schüttelt Martins Leib wie eine Palme im Wind. Tränen laufen über seine Wangen, während er sich nicht mehr zu halten weiß. All seine Wunden reißen wieder auf und lassen ihn in seinem inneren bluten. Er fühlt sich wie eine Nussschale im Sturm der See, hört die Götter flüstern, die ihn endlich zu sich holen wollen.
»Sag mal, wie kam das eigentlich mit deinem Bein?«
Martin sah der jungen Frau ins Gesicht, die einen halben Meter von ihm entfernt auf der Steinmauer saß. Ihre blonden Haare waren zu einem Dutt zusammengebunden, doch einige Strähnen hatten sich gelöst und schwankten sanft hin und her wenn sie sprach. Unter ihnen schwappten die Wellen gegen den Stein.
»Du bist eindeutig seine Tochter«, sagte Martin und lachte.
»Was soll das denn heißen?«
»Ihr nehmt beide kein Blatt vor den Mund«, er griff nach seinen Krücken, die neben ihm an die Mauer gelehnt waren.
Bevor Martin sich davon machen konnte, schnappte sich Sophie die Krücken und legte sie aus seiner Reichweite.
»Bitte, erklär dich«, sagte sie und stützte sich mit dem Kinn auf ihre Hand. Sie versuchte ernst zu wirken, doch die feinen Lachfalten auf ihren Wangen verrieten sie.
»Findest du nicht, dass du dich schämen solltest?« Martin verschränkte die Arme. »Du nimmst einem Krüppel seine Krücken weg? Warum schubst du mich nicht gleich von der Mauer?«
»Vielleicht sollte ich dich schubsen.«
»Versuch es doch. Glaub mir, mit einem Krüppel wie mir kannst du es nicht aufnehmen.«
»Einem Krüppel wie dir? Soll ich jetzt etwa Mitleid haben?« Sophies Augen wurden zu schlitzen. Sie schwang ihre Beine über die Mauer und stand auf. »Du armer, armer Mann. Du bist so Hilflos, es tut mir ja so leid«, säuselte sie und kam auf ihn zu.
Behutsam legte sie ihre Hand auf seine Schulter.
»Habe ich etwa deine Gefühle verletzt?« Sophie stand jetzt direkt hinter ihm.
»Wiedergutmachung wäre schon angebracht, findest du nicht?«
»Wiedergutmachung?«
Sie beugte sich zu ihm herunter, bis Martin ihren warmen Atem an seinem Ohr spüren konnte.
»Ich glaube nicht.«
Flink wie eine Katze griff sie an seine Brusttasche und schnappte sich die Packung Zigaretten, die er darin aufbewahrte. Bevor er sie zu fassen kriegte, schlenderte sie wieder zu ihrem Platz zurück und steckte sich eine an.
Sie öffnete den Dutt und die blonden Locken glitten über ihre Schultern. Der Wind spielte mit den Strähnen.
Martin schluckte.
Er konnte den Blick nicht von ihr wenden.
Nach einigen Zügen schob sie ihm die Krücken wieder zu.
»Kommst du mit oder willst du den ganzen Nachmittag über dein Dasein grübeln?«
Er hatte eine Wahl gehabt.
Die Erkenntnis schlummert schon eine Weile in ihm. Er hätte Sophie gehen lassen können. Sie hätte problemlos einen anderen Mann finden können. Einen, der kein Krüppel ist. Einen, der in der Lage ist, seine Familie zu beschützen.
Tränen fließen über Martins Wangen, während er den Sternen entgegenblickt. Schüchtern offenbaren sie sich der Dunkelheit und leuchten seinen Weg.
Der Sand fühlte sich angenehm warm an. Er schmiegte sich an Martins Haut wie eine Decke. Er hatte den Kleinen auf seinem Bauch abgesetzt und hielt ihn behutsam fest. Mit seinen dreizehn Kilo kam er ihm ganz schön schwer vor. Aus dem kleinen schreienden Bündel, welches Sophie vor fast zwei Jahren zur Welt gebracht hatte, war ein ausgefuchster Bengel geworden. Martins Bengel.
Sie hatten ihn nach Sophies Vater benannt.
»Auf, komm jetzt!«, drängte Sophie ihren Mann.
Die Tatsache, dass der kleine Willem heute das erste Mal in seinem Leben im Meer baden würde, hatte Martins Frau in eine zappelige Sechzehnjährige verwandelt.
»Nur die Ruhe, lass mir doch ein bisschen Zeit mit meinem Sohn.«
»Stell dich nicht so an, du wirst noch genug Zeit mit ihm haben.«
Widerwillig richtete sich Martin auf und stellte seinen Sohn auf die Beine.
Willem verlagerte sein Gewicht von einem Bein auf das Andere, versuchte, auf dem Sand halt zu finden und landete schließlich auf sein Hinterteil, wo er glucksend sitzen blieb.
»Also gut, Matrose. Dein Kapitän will Segel setzen«, sagte Martin und stellte ihn wieder auf die Beine. »Ich bleibe erstmal hier, geht ihr mal das Wasser testen.«
Sophie nickte, beugte sich zu ihm herunter und gab ihm einen Kuss. Dann hob sie ihren Sohn hoch, gab ihm einem Stups auf die Nase und flüsterte: »Auf geht’s.«
Martin blickte seiner Frau hinterher. Sie war genauso schön, wie an dem Tag, an dem er sie kennengelernt hatte. Als sie das Wasser erreichte, ging sie in die Hocke und Martin sah, wie sein Sohn freudig zu hüpfen begann, als eine Welle seine Füße umspülte.
Entspannt lehnte er sich zurück und schloss seine Augen. Nur für eine kurze Weile, sagte er sich. Nur ein wenig in der Sonne dösen…
Es waren die Schreie, die ihn weckten. Wie lästige Fliegen schwirrten sie um ihn herum und ließen sich nicht vertreiben. Sie zerrten an ihm und rissen ihn aus dem Schlaf. Benommen richtete er sich auf, stützte sich auf die Hände und realisierte, dass Sophie diejenige war, die schrie.
Die Welt ist grau geworden. Grau, als würden schwere Wolken den Himmel verdecken.
Martin rang mit den Tränen, während er den Brief las. Die Worte legten sich auf seiner Brust ab, als würde jemand eine Kette um sein Herz binden.
Es ist alles so still. Als hätte mir jemand einen Mantel umgelegt der all die Geräusche verdrängt. Mich abschottet, als wäre ich nichts weiter als ein Zuschauer in dieser Welt.
Er hatte den Brief auf dem Esstisch gefunden. Die geschwungenen Linien waren unverkennbar.
Ich spüre mich nicht mehr, Martin.
Ich werde auf dich warten.
Es tut mir leid.
Martin blickte sich in der Küche um. Suchte nach irgendetwas, das ihm Halt gab. Sein Blick wanderte über den Hochstuhl, der in einer Ecke stand. Die Kette zog sich Glied für Glied enger zu.
Er wandte sich ab und blieb an einem Bilderrahmen hängen.
Sophie lächelte ihm entgegen. Die Zeichnung war am Tag ihrer Hochzeit angefertigt worden.
Sie saßen auf der Steinmauer, hinter ihnen das Meer. Ihr Kopf ruhte auf seiner Brust.
Martin hat das Meer selten so still erlebt. Es ist, als würde die Welt den Atem anhalten und lauschen.
Es ist kalt geworden. Viel kälter als er es sich vorgestellt hat.
Er hört die Götter flüstern. Sie rufen nach ihm, wollen ihn endlich zu sich holen. Sie warten schon viel zu lange.
Einsam und mit dem Geschmack salziger Tränen auf der Zunge kehrt er heim.