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Heimkehr
Eine Träne suchte sich ihren Weg über Martins Gesicht. Qualvoll zog sie ihre Bahn, kitzelte und juckte mit jedem Zentimeter den sie erschlich. Sie kroch über seine eingefallenen Wangen und folgte den Falten seiner ledrigen Haut. Angestrengt versuchte Martin seinen Arm zu heben, stöhnte, als ein stechender Schmerz durch seine Schulter fuhr. Er konnte der Träne nicht mehr entgegensetzen als ein Zucken seiner Hand.
Er erinnerte sich nicht daran, sich je so gebrechlich gefühlt zu haben. So alt und schwach, hilflos wie ein Säugling.
Martin lag rücklings auf einem Wrackteil des Krabbenfischers »Sigmalda« und blickte in den blauen Himmel. Die Sturmwolken hatten sich verzogen und nichts deutete auf die Hölle hin, die gestern noch über den Ozean gefegt war.
Erlösend breitete sich der Geschmack von Salz in seinem Mund aus, als die Träne schließlich seinen Mundwinkel erreichte.
Das Salz erinnerte ihn an lang vergangene Tage.
An stürmende Gewässer von denen er als Junge geglaubt hatte sie bändigen zu können. Er lächelte bei dem Gedanken daran wie grün er gewesen war. Nicht mehr als ein kleiner Junge, der ab und zu mit seinem alten Herrn am See fischen ging. Mit jugendlicher Eifer und von Abenteuern träumend war er bald schon aufgebrochen, den Kopf verdreht von Geschichten über die raue See und die Ungetüme der Meere.
Doch die kalten Tiefen hatten ihm bald schon Lektionen erteilt. Er konnte die Angst noch heute spüren, wenn Sturmwellen über den Fischkutter einbrachen, an dem er sich als Matrose verdient machte. An die gewaltige Kraft des Wasser, das ihn wie eine Faust traf und über das Schiff schleuderte. Binnen Sekunden wich sämtliche Luft aus seiner Lunge und füllte sich mit kaltem Nass. Der Schlag warf ihn von einem Ende des Schiffes zum anderen als wäre er nicht mehr als eine Feder im Wind.
Wie naiv er doch gewesen war. Sein Fuß hatte sich in einer der Eisenketten verhakt und an das Schiff gebunden. Wäre die Kette nicht gewesen hätte er schon in so jungen Jahren sein Leben an die See verschenkt. Er spürte noch, wie sich das Metall um seinen Knöchel wickelte. Die schweren Glieder sich immer enger zusammenzogen, bis es für Martin kein Entrinnen mehr gab.
Mit einem gewaltigen Ruck barsten seine Knochen, als der nächste Schlag den Fischkutter traf.
Martin formte seinen Mund zu einem stummen Schmerzensschrei, doch erbrach nicht mehr als einen Schwall salziges Wasser. Es war das letzte, was er schmeckte, bevor das Schwarz ihn schluckte.
Bitteres nasses Salz das in seiner Lunge brannte.
Später erwachte er an ein Bett gefesselt. Er war drei Tage bewusstlos gewesen, erzählten ihm die Schwestern. Man hatte das Bein nicht mehr retten können. Noch heute fühlte er einen dumpfen Schmerz wo es unterhalb des linken Knies in einem Stumpf endete.
Eisern und hart wie die See selbst kämpfte Martin gegen seinen Verlust an und hüpfte kaum eine Woche später auf dem gesunden Bein über den Flur der Krankenstation. Das Meer hatte ihre Sold bekommen, doch würde er sich nicht von ihm ertränken lassen.
An den Docks suchte er nach Arbeit, jedoch gab es kaum ein Schiff, dass mit einem einbeinigen Matrosen etwas anfangen konnte. Allerdings schien Martin es dem Mädchen mit den dunklen Locken aus der Fischhalle angetan zu haben. Sie hieß Sophie und arbeitete am Stand ihres Vaters.
Schnell merkte Martin, dass es kaum einen Mann gab der sich besser mit Fisch auskannte als ihren alten Herrn. Nach bitten und betteln seiner Tochter nahm er Martin unter die Fittiche, lehrte ihn die Kunst des Handelns und Methoden eines knallharten Geschäftsmannes.
Es schien so unendlich lange her.
Martin konnte die Stimme des Fischhändlers noch heute hören, wie sie wie Donner durch die Halle jagte. Spürte die schwere Last der Fässer, gefüllt mit Muscheln oder lebenden Krabben. Der süßliche Geruch von frischem Fisch stieg ihm in die Nase, vermischte sich mit dem Geschmack von Salz, erinnerte ihn an längst vergessene Tage.
Sophie, die in einem hellblauen Kleid über einen Steg tänzelte. Die Sonne küsste das Meer im Hintergrund während ein Lächeln ihre Lippen umspielte und sie auf einer losen Holzdiele balancierte.
»Ich liebe dich.«, hatte Martin geflüstert, verwundert über die plötzliche Erkenntnis. Im Rausch der Gefühle ignorierte er den Schmerz in seinem Stumpf und kniete vor ihr nieder.
Kaum hatte er sich versehen stieß sie ihn lachend vom Steg und erneut schluckte er Wasser.
Sie heirateten am Strand, doch war sie nie schöner gewesen wie an diesem Tag auf dem Steg. Selbst nicht, als sie ihren Sohn auf dem Schoß hielt. Sie nannten ihn Willem, nach ihrem Vater.
Doch die See zollte ihren Tribut ein und schluckte ihren einziger Sohn wie ein Ungetüm aus den Tiefen. Sie hatten den Tag am Strand verbracht, Sophie führte den Kleinen zum Wasser um mit ihm zu schwimmen. Doch der Wind schwenkte um und mit ihm kamen die Wellen. Das Wasser riss Willem mit sich und kaum hatte Martin verstanden, was soeben passiert war, war sein Sohn auch schon verschwunden. Schreiend versuchte er zum Meer zu gelangen und fiel, bevor er auch nur in Reichweite des Wassers kam. Mit beiden Händen zog er sich vorwärts bis er nassen Sand fühlte, schrie nach den Göttern des Meeres. Doch es war zu spät. Willem war kaum zwei Jahre alt als er den salzigen Kuss der See zu spüren bekam.
Sophie überlebte nur knapp, doch zerriss in ihrer Trauer. Kaum ein halbes Jahr später bereitete sie sich ihr eigenes nasses Grab. Sie kehrte zu ihrem Sohn, schrieb sie Martin in einem Brief. Sie würde auf ihn warten, damit sie wieder vereint seien.
Krampfhaft versuchte Martin der Erinnerung zu entfliehen, als sich eine weitere Träne ihren Weg über seine Wange suchte. Sie folgte der Ersten und zum Geschmack des Meeres gesellte sich Schmerz und schüttelte Martins Leib. Hemmungslos brach das Meer erneut über ihm ein, griff nach ihm, wollte ihn endlich zu sich holen, zu seiner Frau und seinem Sohn.
Martin hatte sein Leben schon als Junge dem Meer versprochen. Er wusste wo es enden würde: Im Salz und der Kälte die ihm so vieles genommen hatte.
Nach dem Tod seiner Frau stach Martin erneut in See. Er verließ seinen Schwiegervater im Streit, konnte nicht bei ihm sein ohne tägliche Qual zu empfinden. Rastlos diente er auf Schiffen unterschiedlichster Art, schrubbte Böden und nahm Fische aus.
Bis er brach.
Martin hatte den Sturm schon gerochen, bevor er mit der Sigmalda aufgebrochen war. Die Sigmalda war ein Krabbenfischer, ein altes Schiff mit eisernem Bug, dass schon tausenden von Stürmen getrotzt hatte. Dennoch war diesmal etwas anders, dass spürte der inzwischen alte Mann. Er war schon lange keine zwanzig mehr, zählte schon weit über sechzig Jahre.
Der Sturm brach in der zweiten Nacht über sie ein, die Alarmsirene heulte auf, klang dabei so hoch wie der Schrei eines jungen Mädchens. Hektik war ausgebrochen, Wasser schwappte kniehoch über die Flure im inneren des Schiffs als Martin sich seinen Weg ins freie kämpfte. Haushohe Wellen jagten über das Meer, Männer fluchten und schrien Befehle, doch die Stimmen gingen im tosen der See unter.
Grimmig stellte sich Martin dem Gott der Meere entgegen. Schrie seine Wut heraus und forderte ihm zum Kampf.
Doch der alte Mann war zum Narr geworden. Das Meer hatte ihn schon lange geschluckt und einverleibt wie Frau und Sohn. Er hatte es nur nie akzeptieren wollen.
Er hielt sich kaum ein paar Schritte auf dem Deck, als eine Welle über ihm brach. Sie schleuderte ihn über die Reling in das dunkle Schwarz des Meeres.
Er erinnerte sich nicht, auf das Wrackteil geklettert zu sein.
Alles was er sah war das weite endlose blau über ihm.
Einsam, allein und mit dem Geschmack salziger Tränen auf der Zunge kehrte er Heim.